Hauptstadt der Dichter

Weekend-Tipp: Liestal

12.02.2015, Schweizer Familie

Liestal ist die am wenigsten bekannte Hauptstadt aller Schweizer Kantone. Darauf reagieren ihre Einwohner locker. Sie stapeln tief. Sie verkleinern ihre Stadt zum Stedtli. Dabei bietet Liestal eine richtige Stadtmauer und einen Kirchhof, der allein eine Reise wert ist. Und die lebendige Hauptstrasse hat oben ein schmuckes Eingangs­tor, das konsequent zum ­Törli verniedlicht wird.

Liestals Tourismusbüro findet Unterschlupf in einem Museum mit Antiquariat, das nicht ganz so klein ist wie ein Nest, sich jedoch Poete-Näscht nennt. Der berühmteste Liestaler Dichter ist in Liestal geboren, der umstrittenste Liestaler Dichter liegt in Liestal begraben. Eine sehr enge Bindung zum Stedtli hatten beide nicht.

Beim Gebürtigen handelt es sich um den ersten Nobelpreisträger für Literatur, den die Schweiz hatte: Carl Spitteler. ­Geehrt wurde er 1919 für sein Monsterwerk «Olympischer Frühling», das 20 000 Verse umfasst, die kaum jemand kennt. Einer der wenigen, die sie von vorn bis hinten gelesen haben, ist der Liestaler Hans Rudolf Schneider, früher Gymnasiallehrer. Sein Fazit ist Empfehlung und Warnung zugleich: «Hat man sich einmal auf Stil und Stoff eingelassen, wird es interessant.»

Gezeugt wurde der Dichter im Haus Alti Braui. Das ist ­heute eine Beiz, das war damals eine Beiz. Vater Karl Spitteler, hoch angesehener erster Landschreiber im Kanton Baselland, heiratete im Alter von 34 eine 18-jährige Wirtshaustochter. Vier Jahre nach der Geburt des ersten Sohns Carl verliess das Paar die «Alti Braui» und zog nach Bern. Karl senior hatte den Kanton Baselland an der Tagsatzung vertreten und war zu einem der wichtigsten Väter der Eidgenössischen Bundesverfassung von 1848 avanciert. Danach amtierte Karl senior als oberster Kassierer der Eidgenossenschaft. Carl junior, der Poet, hatte «ein eher schwieriges Verhältnis zum Vater», weiss Hans Rudolf Schneider. Nachgelesen hat er das in Spittelers autobiografischer Schrift «Meine frühesten Erlebnisse», die Schneider bedenkenlos empfehlen kann.

Beim Bahnhof Liestal links am McDonald’s vorbei führt ein Fussweg hinunter zur Allee. Auf der linken Seite steht etwas versteckt am Abhang oben ein Denkmal. Errichtet wurde es zu Ehren von Georg Herwegh, einer Ikone des internationalen Sozialismus. Der einstigen DDR war er eine Briefmarke wert. Mindestens vier Zeilen Herweghs, verfasst 1863 in Zürich, klingen als Lied bis in die Ewigkeit:

«Mann der Arbeit, aufgewacht!

Und erkenne deine Macht.

Alle Räder stehen still,

wenn dein starker Arm es will.»

Still halten am Bahnhof Liestal auch die Räder der Interregio-Züge von Zürich nach Basel und von Basel nach Interlaken. Ist das dem starken Arm von Herweghs Ehefrau Emma zu verdanken? Sie war ebenfalls Dichterin und stammte aus dem Haus einer Berliner Bankiers­familie. Als ­Georg Herwegh zu Besuch kam, verlobte sie sich mit ihm. Darauf beleidigte der forsche junge Mann den preussischen König Friedrich Wilhelm IV. Das Paar musste fliehen und gelangte nach Zürich, begleitet vom Anar­chisten Michail Bakunin. Für einiges Geld kaufte Georg Herwegh das Bürgerrecht der Gemeinde Augst im Kanton Baselland. Das Paar heiratete und trennte sich zeitweilig. Als der schöne Georg, ein Frauenheld, mausarm starb, suchte Emma eine passende Grabstätte. Der Heimatort Augst war ihr nicht mondän genug. «Eine Hauptstadt mit Schnellzughalt» sollte es sein, schrieb sie in einem Brief an die Gemeinde Lies­tal. Heute ist auf Herweghs Grabstein eingraviert: «Hier ruht, wie er’s gewollt, in seiner Heimat freien Erde Georg Herwegh.»

Spektakel & Lyrik

Chienbäse-Umzug: Kien­besen sind gebündelte Föhrenscheiter, die wie Besen um eine dicke Buchenstange herum befestigt werden. Männer und auch einige Frauen tragen die glühenden Dinger auf den Schultern. Funken sprühen. Der Umzug, der jedes Jahr am Sonntagabend vor dem Basler Morgenstreich stattfindet, führt von oben durch das Törli in die Rathausstrasse. Etwa zwanzig Feuerwagen werfen hohe Flammen. Es wird heiss für die Zuschauer am Strassenrand. Nächster Chienbäse-Umzug: 22. Feb­ruar ab 19 Uhr.

Museum und Antiquariat Poete-Näscht: Dichter- und Stadtmuseum, Rathausstrasse 30, Liestalwww.dichtermuseum.ch

Sa/So, 10–16 Uhr. Di bis Fr, 10–18 Uhr. Zu sehen sind die Arbeitszimmer von Georg Herwegh, Emma Herwegh, Josef Viktor Widmann, Carl Spitteler, die Nobelpreis­urkunde und vieles mehr.

Restaurant Alti Braui: Mit Geburtstafel von Carl Spitteler an der Fassade. Im Innern Wandmalereien zu Spittelers Werk. Tel. 061 921 63 13. So/Mo geschlossen.

Denkmal Carl Spitteler: Im Park neben dem Berri-Gut, Nähe Kantonsspital. Stattliche Grösse.

Literatur: Von Spitteler ist ein Sammelband erschienen: «Unser Schweizer Standpunkt» mit der berühmten gleichnamigen politischen Schrift. Dazu Auszüge aus «Olympischer Frühling» und «Meine frühesten Erlebnisse». Pro Libro, Luzern, 36 Fr.

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