Auch Grosskonzerne gehen auf Schnäppchenjagd

Interview mit dem früheren Preisüberwacher Hans Rudolf Strahm

12.03.2015, Schweizer Familie

Der Schweizer Franken hat stark an Wert zugelegt. Kaufen Sie nun auch direkt im Ausland ein?Wenn ich in Griechenland oder Italien bin, hole ich mir ein paar Medikamente, weil sie dort drei- bis fünfmal billiger sind. Aber dafür reise ich nicht extra hin.Verstehen Sie Schweizer, die regelmässig in Konstanz, Lörrach oder Waldshut Schnäppchen jagen?

Aber sicher, die müssen auch kein schlechtes Gewissen haben, das ist jetzt einfach eine Abstimmung mit den Füssen. So ­etwas gehört zu einer offenen Marktwirtschaft, das machen die grossen Konzerne auch so. Braucht eine Bank in Zürich neue Computer oder Büroeinrichtungen, besorgt sie sich diese via eine Tochtergesellschaft in der EU. Wenn nun elitäre Poli­tiker rational handelnde Konsumenten als «Landesverräter» beschimpfen, ist das völlig fehl am Platz. Ich kenne Fami­lien in Bern – zwei, drei Leute tun sich zu­sammen und fahren jede Woche über die Grenze, kaufen für je dreihundert Franken ein und sparen damit mehr als hundert Franken pro mitreisende Person. Das fällt bei Familien mit Kindern ins Gewicht.

Bei welchen Produkten lohnt es sich am meisten?

Ganz sicher bei Fleisch, Milchprodukten und fast allen andern Lebensmitteln, aber auch bei Kosmetika, Haushalt- und Sportartikeln, Bekleidung und Schuhen. Bei Nahrungsmitteln macht sich der Schutz der einheimischen Landwirtschaft bemerkbar, die extremen Schutzzölle für Agrarprodukte. Die Faustregel lautet: Die Preise der Nahrungsmittel werden infolge der Schutzzölle verdoppelt.

Mit dem Wechselkurs hat das nichts zu tun?

Die Schutzzölle sind entscheidender für die teuren Nahrungsmittel, der Franken wurde ja «nur» um zwanzig Prozent aufgewertet. Aber bei den überteuerten Importen werden die Schweizer Bauern auch benachteiligt. Sie werden beim Einkauf von Pflanzenschutzmitteln, Dünger und Geräten ebenso mies behandelt wie die Migros beim Import von Kosmetika.

Das müssen Sie uns erklären.

Die Schweizer Landwirtschaft bezahlt für ihre Zulieferungen für den Bauernhof rund eine Milliarde Franken mehr, verglichen mit den Agrarzulieferpreisen im benachbarten Baden-Württemberg. Das war schon vor der Frankenaufwertung so. Die Bauern sind auf einen Zwischenhändler angewiesen. In der Landwirtschaft ist das die Fenaco, ein Grosskonzern im Mantel einer «Genossenschaft». Das tönt sympathisch, aber in Wirklichkeit verfügt die Fenaco über das Monopol für die meisten Importe für die Landwirtschaft.

Verdient sich denn die Fenaco an den eigenen Bauern eine goldene Nase?

Die Fenaco zieht ihre Marge ein, klar. Aber das grosse Problem besteht darin, dass auch die Fenaco von ausländischen Konzernen teurer beliefert wird. Sie darf zum Beispiel Pflanzenschutzmittel nicht direkt beim Hersteller in Deutschland beziehen, sondern muss diese über die Vertretung in der Schweiz bestellen, die dann einen viel zu hohen Preis verlangt. Man nennt das «Schweiz-Zuschlag». Der Gewinn fliesst in diesem Fall zum Hersteller im Ausland.

Preisunterschiede gibt es nicht nur bei Agrarprodukten, sondern auch bei anderen Alltagsartikeln.

Bei Kleidern, Kosmetika oder Haushalts­apparaten ausländischer Hersteller, bei allen Markenartikeln läuft es genau gleich über Alleinimporteure. Nehmen wir irgendein Kosmetikprodukt aus Deutschland. Migros, Coop oder Denner werden nicht direkt, sondern ausschliesslich via Filiale des Herstellers in der Schweiz beliefert – zu markant erhöhten Preisen. Bei einer der grossen deutschen Kosmetikmarken beträgt der Preiszuschlag fünfzig bis hundert Prozent, ich hatte das schon als ­Preisüberwacher untersucht. Doch wenn Mi­gros und Coop direkt in Deutschland – also billiger – bestellen wollen, bekommen sie zur Antwort: «Wenden Sie sich an unseren offiziellen Vertreiber in der Schweiz.»

Wie könnte man das verhindern?

Nur durch ein strengeres Kartellgesetz in der Schweiz, mit dem Importmonopole und ausschliessliche Lieferverträge beim Direktimport verboten werden. Denn ­diese Konzernpraktiken stellen eine Wett­bewerbsbehinderung dar. Leider ist eine Lösung politisch immer wieder von den lobbyintensiven Markenartikel-Herstellern und von Economiesuisse abgeblockt worden. Dabei geht es hier um enorme Summen. Die Schweiz importiert jedes Jahr Waren und Dienstleistungen für 200 Milliarden Franken. Der Schweiz-Zuschlag, der ins Ausland abfliesst, beträgt grössenordnungsmässig 20 Milliarden Franken pro Jahr. Dieser wird von den ausländischen Lieferanten eingesackt.

Dafür verdient eine Migros-Kassiererin in Basel viel besser als die Aldi-Kassiererin in Lörrach.

Ja, die Löhne in der Schweiz sind höher, aber das war schon immer so. Doch die eklatante Differenz bei den Ladenpreisen beruht nicht auf den höheren Brutto­margen im Detailhandel, sondern auf der Praxis, dass Generalimporteure krass überhöhte Preise verlangen. Seit neuem verschwinden auch noch die Währungsgewinne in den Taschen der ausländischen Konzerne (Strahm legt die offizielle Statistik für Produzenten- und Importpreise auf den Tisch). Sehen Sie, in den letzten vier Jahren, von Ende 2010 bis Ende 2014, hätte der Index der Importpreise um zwanzig Prozent sinken sollen, in Wahrheit sank er bloss um sechs Prozent. Wenn jetzt in Inseraten «Preiskracher» für Kosmetika oder Waschmittel angeboten werden, sind das ganz gewöhnliche Ak­tionspreise für einige ausgewählte Produkte, das ist noch keine Verbilligung auf das ganze Sortiment.

Auch Schweizer Senf kostet bei uns im Laden viel mehr als in Frankreich. Benachteiligt auch der Schweizer Hersteller die Schweizer Detailhändler?

Gewiss. Das ist eben der Schweiz-Zu­schlag, eine Art zusätzliche Kaufkraft­abschöpfung bei Schweizerinnen und Schweizern.

Immerhin werden Hühner in der Schweiz tiergerechter gehalten als in Ungarn oder Brasilien. Wollen Sie darauf verzichten?

Nein. Ich kaufe auch nur Eier aus Boden- oder Freilandhaltung und zahle dafür mehr. Aber für ökologische Leistungen werden die Bauern ja zusätzlich entschädigt. Unsere Landwirte erhalten jedes Jahr drei Milliarden Franken in Form von ­Direktzahlungen. Die werden ausbezahlt «unter der Voraussetzung eines ökologischen Leistungsnachweises», so steht es in der Bundesverfassung, Artikel 104. In­folge davon erhält heute jeder einzelne Hof in der Schweiz 50 000 bis 100 000 Franken Direktzahlungen, die grössten Bauern erhalten noch mehr. Sie müssen hier aufaddieren: Schweizer Landwirte erhalten drei Milliarden Direktzahlungen, finanziert durch Schweizer Steuerzahler. Zusätzlich werden sie mit Zöllen geschützt, mit einer Produkteverteuerung in Höhe von fünf Milliarden Franken, finanziert durch Schweizer Konsumenten. Unter dem Deckmantel des Agrarschutzes fördern wir auch Absurdes.

Was zum Beispiel?

Etwa den Gemüseanbau in Schweizer Treibhäusern. Die müssen bis in den Mai hinein für Gurken, Tomaten, Peperoni beheizt werden. Die ETH hat Ökobilanzen erstellt mit dem traurigen Ergebnis, dass die Produktion eines Kilos Tomaten, Pepe­roni oder Gurken aus dem Treibhaus in der Schweiz drei- bis viermal mehr fossile Energie verbraucht als das gleiche Kilo aus Südspanien, selbst wenn man den teuren Transport mit Lastwagen mitberücksichtigt. In Südspanien muss eben kein einziges Treibhaus geheizt werden, dort genügt die Sonne.

Qualität hat ihren Preis, wehren sich die Schweizer Bauern.

Das ist ein Werbespruch, aber die Ökostandards sind in Deutschland oder Österreich unter dem Strich genauso gut. Das gilt für die Produktequalität insgesamt: Die EU hat in den letzten zwanzig Jahren wahnsinnige Fortschritte erzielt, da muss auch ich mich selber korrigieren, ich hatte in den Neunzigerjahren noch Bedenken wegen gewisser Giftstoffe.

Und Bio-Fleisch? Das gibt es nicht überall auf der Welt.

Brasilianisches Weidefleisch ist faktisch Bio-Fleisch, weil dort gar keine künst­lichen Futtermittel eingesetzt werden. Doch solche Importe werden massiv verteuert. Bündnerfleisch muss fettfrei sein, darum darf Bündnerfleisch – aber nur Bündnerfleisch! – aus Lateinamerika importiert werden.

Propagieren Sie Rindsentrecotes aus Argentinien?

Wenn man hier eine saubere Ökobilanz errechnet, ist das sinnvoll. Sie dürfen nicht vergessen: Für die konventionelle einheimische Tiermast muss immer mehr Soja und Weizen aus Südamerika importiert werden. Wenn man das genau analysiert, pachtet die Schweizer Landwirtschaft zusätzliche 140 000 Hektaren in Lateinamerika und in den USA, nur um genügend Futtermittel für hiesige Rinder, Kälber und Schweine zu beschaffen.

Viele Schweizerinnen und Schweizer kaufen ganz bewusst Schweizer Nahrungsmittel. Ist das falsch?

Aus bäuerlichen Kreisen ertönt heute erneut das Zauberwort von der «nationalen Eigenversorgung». Das ist ein Mythos aus dem Zweiten Weltkrieg. Heute reden konservative Schweizer Politiker auch von «Ernährungssouveränität». Wissen Sie, woher dieses Wort kommt? Ich war zweimal in Pôrto Alegre in Brasilien am Weltsozial­forum. Das war dort der Schlachtruf der linken Landlosen-Bewegung. Die verlangt, dass jeder Bauer genügend Land haben muss, um sich und seine Familie zu ernähren. Das nennen sie «Ernährungssouveränität», das unterstütze ich. Aber noch höhere Subventionen und immer mehr Direktzahlungen für weniger Betriebe im Inland? Noch höhere Zölle? Noch höhere Ladenpreise für Milch, Eier und Fleisch? Nein, so kann es nicht weitergehen.

Schweizerinnen und Schweizer ­geben immer weniger Geld aus für ihre Ernährung. Inzwischen sind es weniger als zehn Prozentihres ­Einkommens. Warum engagieren Sie sich so für tiefere Nahrungsmittelpreise?

Weil im Gegenzug fast alle andern Kosten gestiegen sind: Kleider, Krankenkassenprämien, Mieten. Wir zahlen auch viel zu viel für die Dienste der Swisscom. Oder für ganz normale Bancomaten. Die haben in der Schweiz die haargenau gleiche Hard- und Software wie anderswo. Und trotzdem verlangen Schweizer Banken doppelt so hohe Gebühren wie in der Euro­päischen Union.

Ganz generell: Was halten Sie von der Geiz-ist-geil-Mentalität?

Als konservativer Emmentaler bin ich von «Geiz ist geil» angewidert. Aber: Es war die Banker-Elite, die uns die Gier im ganz grossen Stil vorgeführt hat. Wenn jetzt die Konsumenten auch Schnäppli ­jagen, so muss ich sagen: Eine Familie mit Kindern ohne doppeltes Einkommen hat das nötig. Ich nicht. Ich habe genug verdient, bin jetzt 71 und lebe sparsam in einem Eineinhalb-Personen-Haushalt, zeitweise zusammen mit meiner Enkelin.

Polit-schwergewicht

Rudolf Strahm, 71, machte zunächst eine Lehre als Chemielaborant und arbeitete als Chemiker in Basel, später holte er die Matur nach und schloss ein Ökonomie-Studium ab. Er engagierte sich unter anderem bei der bankenkritischen Erklärung von Bern und war Zentralsekretär der SP Schweiz. Von 1991 bis 2004 war er Nationalrat. Danach amtete der So­zial­demokrat bis 2008 als Preisüber­wacher. Mit seinen Kolumnen, etwa im «Bund», ist Strahm bis heute eine der einflussreichsten politischen Stimmen. Er lebt in Herrenschwanden BE.

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