Schutzengel der Heimatlosen

Mussie Zerai, katholischer Pfarrer in Erlinsbach SO

07.05.2015, Schweizer Familie

Mussie Zerai macht sich nicht wichtig. 6000 Menschen habe er vor dem Ertrinken im Mittelmeer bewahrt. Das behauptet nicht er, das hat die italienische Küstenwache einem Journalisten mitgeteilt. Seither geistert diese Zahl herum, was Mussie Zerai weniger beeindruckt: «Wer nur ein Leben rettet, rettet die ganze Welt.» Doch nicht einmal diese Worte beansprucht er für sich selber. Er zitiert den Unternehmer Oskar Schindler, der mit «Schindlers Liste» 1200 Juden vor der Vergasung im Konzentrationslager bewahrt hat. Als gläubiger Katholik ergänzt Zerai bescheiden: «Kein Mensch kann die Welt retten, Jesus Christus war der alleinige Retter.»Im Pfarrhaus von Erlinsbach im Kanton Solothurn wohnt er friedlich. Die Kirche steht im Dorf, das Apfelbäumchen blüht im Vorgarten, der Bus nach Aarau fährt jede Viertelstunde, das weisse Mobiltelefon, das Mussie Zerai aus seiner Tasche zieht, ist ein handelsübliches Modell. Just dieses kleine Ding ist sein einziges Hilfsmittel gegen das Massensterben im Mittelmeer. «Halb Afrika kennt seine Nummer», vermelden Zeitungen. Das ist natürlich übertrieben. Zerais Mobiltelefon klingelt auch nicht jede Sekunde. Aber es klingelt oft genug.«Was soll ich tun?», fragt jetzt gerade ein Verzweifelter, der in Tripolis gezwungen wird, mit vielen andern in einen abgenutzten Kahn zu steigen. Der Flüchtling hat Angst. 1600 Euro hat der Mann dem Schlepper bezahlt – und muss jetzt darum betteln, dass er das Satellitentelefon auf den überfüllten Kahn mitnehmen darf. «So etwas ist kriminell», urteilt Zerai.

Leuchtet die Vorwahl +88 auf dem Display, erkennt er: Am andern Ende harrt ein Satellitentelefon. Öfter kommt ein direkter Hilferuf von einem Boot in Seenot. Ruhig fragt Zerai nach den exakten GPS-Daten, die das Satellitentelefon anzeigt, nach der Anzahl Leute an Bord, ob Schwangere oder Kranke darunter sind. Dann informiert er das Hauptquartier der italienischen Küstenwache. «Mehr mache ich nicht», sagt Zerai, als wäre er ein gewöhnlicher Übersetzer.

Flucht aus Eritrea

Mit Tigrinisch, der Sprache Eritreas, ist er aufgewachsen. Amharisch, die Sprache der Besetzungsmacht Äthiopiens, kam dazu, später wurde Italienisch zu seiner «zweiten Muttersprache». Mussie Zerai, der für die Leben der Heimatlosen kämpft, ist selber ein Heimatloser.

Heute ist er 40 und erzählt auf Englisch, wie er mit 17, von Eritrea kommend, in Rom gelandet ist: per Flugzeug, völlig legal, ohne jede Gefahr, mit einem Visum in der Tasche. Sein Vater, ein Ingenieur, war einst Stadtplaner von Asmara, der Hauptstadt Eritreas, unter dem brutalem Regime von Haile Selassie, dem damaligen Kaiser Äthiopiens. Zerais Vater flüchtete mit der Mutter in den Sudan. Sie starb bei der Geburt des fünften Kindes, der Vater zog via Saudiarabien nach Rom. Mussie blieb vorerst bei seiner Grossmutter in Eritrea.

Als er später in Rom ankam, war sein Vater weg: für ein Import-Export-­­­Geschäft in Nigeria. Der Teenager fand Unterschlupf bei einem römischen Priester. In einem Gemüseladen auf der Piazza Vittorio verdiente er das nötige Geld fürs Philosophie- und Theologiestudium. Nach dem Abschluss bot ihm die Schweizer Bischofskonferenz vor drei Jahren eine kleine Anstellung an. 22 000 Eritreer wohnen inzwischen in unserem Land, mehr als die Hälfte davon sind katholisch. Samstags wie sonntags hält Zerai meistens zwei Gottesdienste, rotierend in Aarau, Biel, Sion, Lausanne, Zürich und neun weiteren Städten. Offiziell ist das ein kleines Teilzeitpensum, doch Zerai jammert nicht, der Lohn reicht «zum Überleben». Als Stefan Kemmler, der katholische Pfarrer in Erlinsbach, erfuhr, dass mehr als die Hälfte davon für die Miete draufgeht, offerierte er ein leeres Zimmer in seinem Pfarrhaus.

Zur Aare hinunter wäre es ein schöner Spaziergang, aber dafür hat Zerai keine Zeit. Übers Wochenende hält er seine Messen, unter der Woche arbeitet er in Rom vom Vatikan aus für die Flüchtlingspolitik. Er nimmt an Konferenzen teil, knüpft Kontakte, drängt sich als Redner bis vors EU-Parlament in Strassburg.

In der Schweiz kämpft Zerai zusammen mit der Caritas und Amnesty International dafür, dass das Botschaftsasyl wieder eingeführt wird, das vor zwei Jahren in einer Volksabstimmung abgeschafft wurde. Bis dahin konnten Ausländer in ihrem Herkunftsland direkt auf der Schweizer Botschaft um Asyl anfragen, ohne dass sie ihr Leben aufs Spiel setzen mussten.

Und noch etwas wünscht sich Zerai von der Schweiz: mehr Engagement bei der Einschulung. Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten haben keine Diplome und darum kaum Chancen auf einen Job.

Gelungene Integration

Wie gut Integration klappen kann, demonstriert sein «Schweizer» Freund Zena Haile, Präsident der eritreischen Katholiken in der Schweiz. Zena Haile, 27, ist ein klassischer Flüchtling. Mit seiner Schwester und ihrem Kind flüchtete er von Eritrea über den Sudan und durch die Sahara nach Libyen. Auf einem Kutter stachen sie ins Meer und gerieten in Seenot. Drei Tage und drei Nächte Todesangst. Dank eines Satellitentelefons erreichte Zena Haile einen Freund auf Malta, der Hilfe organisierte. Lampedusa, Rom, Mailand, Como. Haile, seine Schwester und ihr Kind schafften es über die grüne Grenze nach Chiasso: Es war der 13. September 2008.

Heute spricht Haile sehr gut Deutsch, wohnt in Rüti ZH in einem Zimmer für tausend Franken, arbeitet als diplomierter Hilfskrankenpfleger im Altersheim von Horgen. Bald will er sich weiterbilden zum Pflegefachmann. Mit Internetkursen studiert er Theologie. Nebenher leitet er einen Chor in Zürich-Wipkingen und hält in der dortigen Kirche bisweilen eine Predigt.

Wie schafft er all das? Weil er so klug ist oder so ehrgeizig? «Er ist beides», sagt Mussie Zerai. Haile erklärt es so: «Ich habe von Anfang gewusst, dass die Sprache der Schlüssel ist. Wenn du hier etwas erreichen willst, muss du Deutsch sprechen.» Mit seiner Flucht hat er den «Militärdienst verweigert». Doch was bedeutet Militärdienst in Eritrea? «Du baust gratis Villen, Brücken, Strassen für die Generäle. Du darfst keinen Mucks machen, sonst werfen sie dich ins Gefängnis. Der Lohn beträgt 400 Nafka, ein Kilo Kartoffeln auf dem Markt kostet 800 Nafka. Die Arbeit beginnt frühmorgens, und in der Nacht schläfst du auf der Strasse, weil du dir keine Wohnung leisten kannst.»

Mussie Zerai kennt nur ein Wort, das Eritreas politischem System gerecht wird: Sklaverei. Um diese Sklaverei anzuprangern, gibt er viele Interviews. Und um die Schweizer wachzurütteln: «Die Flüchtlinge sind keine Abenteuertouristen, die sich aufs offene Meer trauen. Sie sind so verzweifelt, dass sie ihr Leben riskieren.»

Neulich hat ihm nach einem Gottesdienst in Basel ein junges Paar die Hand geschüttelt und gedankt für seine Gebete. Und dafür, dass er ihre GPS-Daten während ihrer Überfahrt an die italienischen Küstenwache weitergeleitet hat.

DIE TRAGÖDIE IM MITTELMEER

Wie viele Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sind, weiss niemand. Letztes Jahr waren es gemäss Schätzungen der Vereinten Nationen 3500 Menschen. Dieses Jahr steigt die Zahl deutlich. Allein am 19. April starben 800 Menschen auf einem überladenen Schiff, das in der Nähe von Lampedusa von einem Handelsfrachter gerammt worden war. Trotz dieser Tragödien nimmt die Zahl der Flüchtlinge zu. Vorletztes Jahr haben 60 000 Menschen ihr Glück versucht, letztes Jahr 218 000, und für dieses Jahr rechnet die EU-Grenzschutzbehörde Frontex mit bis zu einer Million.

Etwa die Hälfte davon stammt aus Syrien und Eritrea. Der grösste Exodus führt von Tripolis nach Italien oder nach Griechenland. Die Schweiz hat sich bereit erklärt, 3000 zusätzliche Flücht­linge aus Syrien aufzu­nehmen. Zudem wurde die Hilfe vor Ort um 80 Millionen Franken aufgestockt.

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