«Ich bin begeistert von der Kraft unserer Wirtschaft»

Feuerstellen-Gespräch mit Monika Rühl, Economiesuisse

13.08.2015, Schweizer FamilieInterview Daniel Röthlisberger und Markus Schneider

Frau Rühl, Sie sind Direktorin des Wirtschaftsdachverbandes Eco­nomiesuisse. Wie erklären Sie einem Kind, was Sie tun?

Ich würde das Kind in eine Fabrik von Lindt & Sprüngli führen und ihm zeigen, wie Schoggi produziert wird, obschon wir in der Schweiz keine Kakaobohnen haben – dafür Milch. Und wie beides zusammengespielt hat, dass die Firma heute die ganze Welt beliefert.

Was hat das mit Ihrer Funktion zu tun?

Wir von Economiesuisse helfen mit, dass Firmen wie Lindt & Sprüngli auch in Zukunft von der Schweiz aus agieren können. Das möchte ich dem Kind veranschaulichen. Lindt & Sprüngli ist bloss eine von Tausenden von Firmen. Jedes Mal, wenn ich einen Betrieb besuche, bin ich begeistert von der Kraft unserer Wirtschaft und von den vielen Ideen, die dahinterstehen.

Auf welche Branchen sind Sie ­besonders stolz?

Auf jene, die innovativ sind und sich schwierigen Situationen anpassen. Die Textilindustrie etwa musste sich konzentrieren und spezialisieren, um im Zuge der billigen Konkurrenz aus Asien über­leben zu können. Zum Beispiel auf die Haute Couture. So hatte Amal, die Frau von Hollywoodstar George Clooney, St. Galler Spitzen auf ihrem Hochzeitskleid. Ich denke aber auch an andere inno­vative Beispiele. Ein Unternehmen aus dem bernischen Langenthal liefert High­tech-Stoffe für Flugzeugsitze. Und im luzernischen Entlebuch gibt es eine Firma, die winzige Teile für iPhone-Kopfhörer produziert.

Der starke Franken bedroht den Wirtschaftsstandort Schweiz. Wie ernst ist die Lage?

Vielen Betrieben macht die Frankenstärke schwer zu schaffen. 2007 lag der Euro noch bei 1.68 Franken, dann mussten sich die Unternehmen auf 1.20 einstellen, das lag gerade noch drin. Heute liegt der Euro bei rund 1.05 Franken. Da kommen viele Betriebe an ihre Grenzen.

Und müssen die Löhne senken?

Ich glaube nicht daran, dass die Löhne auf breiter Front sinken werden. Aber viele Firmen lassen ihre Angestellten länger ­arbeiten für den gleichen Lohn.

Wird es auch Entlassungen geben?

Davon hören wir jeden Tag. Und wir rechnen damit, dass sich die Situation gegen den Herbst verschärfen wird. Dass weitere Firmen einen Stellenabbau verkünden und Entlassungen aussprechen werden. Die Arbeitslosigkeit wird steigen.

Was unternimmt Economiesuisse gegen die Auswirkungen der starken Währung?

Wir fordern einen Regulierungsstopp. Denn neue Regulierungen treiben meistens die Kosten für die Firmen in die Höhe. Und wir verlangen, dass absurde Regulierungen aufgehoben werden.

Woran denken Sie?

Die Veranlagungsverfügungen bei der Mehrwertsteuer müssen von der Zollverwaltung und den Unternehmen archiviert und gesichert werden. Diese doppelte ­Archivierung ist personalintensiv, kostet Hunderttausende von Franken und ist unnötig.

Viele Schweizer kaufen mit dem starken Franken im Ausland ein, weil es dort billiger ist. Sie auch?

Nein, allein zum Einkaufen fahre ich nicht über die Grenze. Bin ich aber bereits im Ausland, greife ich bei einem Kleid auch eher zu. Und ich verstehe, dass Familien, die wenig Geld haben, mit dem Einkauf ennet der Grenze sparen möchten.

Sie haben kein Auto, keine Putzfrau, wohnen zur Miete, und an der Feuer­stelle haben Sie sich Bratwurst gewünscht. Treten Sie als Kopf des mächtigsten Wirtschaftsverbandes bewusst bescheiden auf ?

Nein, so bin ich nun mal. Seit sieben Jahren wohne ich mitten in der Stadt Zürich, da brauche ich kein Auto. Bei Economiesuisse haben wir zudem keine Dienst­wagen, wir reisen alle mit dem öffent­lichen Verkehr. Zur Miete wohne ich, weil ich früher Diplomatin war. Alle vier Jahre zog ich an einen anderen Ort, ich wusste gar nicht, wo ich vier eigene Wände hätte kaufen sollen. Und die Bratwurst habe ich gewählt, weil ich Bratwurst gernhabe.

Sie sind in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen. Welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit?

Ich wuchs in einem Wohnblock auf. Ich war zwar ein Einzelkind. Doch bei uns gingen die Nachbarskinder ein und aus. Mit meinen Freundinnen spielte ich stundenlang draussen. Daheim bastelte ich mit meiner Mutter Geschenke. Ich hatte eine unbeschwerte, fröhliche Kindheit.

Ihr Vater Hans war ein Koch aus Deutschland, Ihre Mutter Elisabeth war Kindergärtnerin. Welche Werte haben sie Ihnen vermittelt?

Dass man sich für seine Ziele und Träume einsetzen soll. Und dass man arbeiten muss, um etwas zu erreichen.

Ihr Vater war Saisonnier. Rechte Kreise wollen den Saisonniers – wie früher – den Familiennachzug verbieten. Wie stellen Sie sich dazu?

Wir sollten nicht in die Sechzigerjahre ­zurückfallen, das ist bei den Mitgliedern von Economiesuisse kein Thema. Unsere Firmen wollen auch künftig ausländische Fachkräfte anziehen. Und diese Fach­kräfte kommen nur, wenn sie Partner und Kinder mitnehmen dürfen.

Genau damit haben rechte Parteien Mühe. Wieso finden sie in der ­Bevölkerung zunehmend Rückhalt?

Viele Schweizerinnen und Schweizer denken, es kämen zu viele Einwanderer ins Land. Diese wollten nicht arbeiten, lebten vom Sozialstaat und hätten am Ende mehr Geld in der Tasche als hiesige Büezer.

Teilen Sie diese Sorge?

Nein, sie ist ungerecht und stimmt nicht. Das grosse aktuelle Problem ist die hohe Zahl der Asylsuchenden. Und diese Asylsuchenden dürfen ja gar nicht arbeiten.

Sollte sich das ändern?

Das wird sicher nicht für alle möglich sein. Aber es gibt interessante Ansätze. Ich denke da an den Schweizer Bauernverband. Der hat zusammen mit dem Staatssekretariat für Migration ein vielversprechendes Projekt gestartet: Asylsuchende sollen auf Bauernhöfen arbeiten dürfen. Ich halte das für richtig und bin gespannt, wie sich das Projekt entwickelt.

Wir sind an einer Feuerstelle im Engadin, wo Sie oft Ferien machen. Weshalb gerade hier?

Ich liebe die Seenlandschaft auf so grosser Höhe und die majestätischen Berge. Das Engadin ist ein Kraftort. Hier oben wandere und jogge ich. Ich tanke auf und kann frei atmen.

Der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche schrieb: «Wer von einem Tag nicht zwei Drittel für sich selbst hat, ist ein Sklave.»

Oh je.

Warum lachen Sie?

Weil ich bestimmt nicht so viel Zeit für mich habe, wie Nietzsche das vorgesehen hat. In seinen Augen wäre ich eine Sklavin. Wenn ich – wie jetzt – in den Ferien bin, wird mir bewusst, dass ich mir im Alltag mehr Zeit für mich nehmen sollte. Es würde mir guttun, auch unter der Woche zu joggen und ins Kino zu gehen.

Sind Sie erschöpft?

Nein, aber diese Aktivitäten helfen, den Kopf zu leeren und neue Ideen zu haben.

Wie viele Stunden arbeiten Sie?

Ich komme morgens kurz vor acht ins Büro und bin abends selten vor sieben Uhr zu Hause. Zudem nehme ich an Abendveranstaltungen teil und halte Vorträge. Da kommen schon mal 14 Stunden zusammen.

Und wie viele Stunden schlafen Sie?

Ich brauche sieben, um fit zu sein.

Wie erholen Sie sich?

Ich treibe Sport, mache Yoga. Und ich höre Musik. Dabei vergesse ich alles und kann daneben nichts anderes mehr tun.

Ausser zu tanzen?

Ach, das ist viele Jahre her. Als Kind hatte ich ein hohles Kreuz. Der Arzt sagte: entweder Gymnastik oder Ballett. Ich ging ins Ballett, da war ich fünf.

Sie blieben dabei, trainierten während 15 Jahren mehrmals pro Woche.

Als Kind nahm ich das spielerisch. Ich hatte Freude an der Bewegung und an der Musik. Meine Ballettlehrerin hielt mich für begabt, sie hätte mich gern in ein Internat nach England geschickt. Ich träumte davon, Primaballerina zu werden. Ich wollte die Aufnahmeprüfung unbedingt bestehen und trainierte unglaublich hart.

Mit welchem Resultat?

Ich fiel durch. Die Jury war der Ansicht, dass mein Talent nicht ausreichte für eine Ballerina. Ich war am Boden zerstört.

Wie gingen Sie mit der Enttäuschung um?

Ich konzentrierte mich auf die Schule, wollte einen guten Maturabschluss machen und studieren. Ich musste mir eine neue Zukunft aufbauen, nachdem der alte Berufstraum geplatzt war.

Was haben Sie im klassischen Ballett gelernt?

Disziplin. Einmal im Jahr gab es eine ­Aufführung für Eltern, Verwandte und ­Freunde. Ich hatte immer einen Soloauftritt. Aber weil ich einmal zu Hause meine Ballettschuhe vergessen hatte, wurde mein Solo gestrichen. Das wirkt bis heute nach. Jedes Mal, wenn ich das Haus ver­lasse, vergewissere ich mich beinahe zwanghaft, ob ich wirklich alles dabeihabe.

Fühlen Sie sich in der Wirtschaft zuweilen als Ballerina – in einer Welt, wo Männer Regie führen und Frauen tanzen?

Nein. Das stimmt längst nicht mehr. Immer mehr Frauen stehen in der Wirtschaft in der Verantwortung. Und es kommt immer seltener vor, dass ich an Sitzungen die einzige Frau bin.

Sie sind gegen Quoten. Wie können Frauen sonst gefördert werden?

Indem man Frauen eine Chance gibt, auch wenn sie das Jobprofil nicht zu hundert Prozent erfüllen – genau gleich wie es Männer nie zu hundert Prozent erfüllen. Gleichzeitig müssen Frauen selbstbewuss­ter auftreten, sich besser verkaufen. Das musste auch ich lernen – mich vor jemanden hinstellen und sagen: Ich bin wirklich die Beste für diesen Job.

Sind Sie die Beste für Ihren Job?

Ich sage es diplomatischer: Ich bringe ­viele Voraussetzungen mit, damit ich ­meine Aufgabe gut ausfüllen kann.

534 «Schweizer Familie»-Feuerstellen

Wo die Grillplätze liegen, erfahren Sie im Internet auf einer übersichtlichen Karte inklusive Videoaufnahmen und Fotos. www.schweizerfamilie.ch/feuerstellen

Die Frau an der Spitze

Monika Rühl, 51, ist seit einem Jahr Direktorin der Economiesuisse. Sie hat Romanistik studiert, bildete sich weiter zur Diplomatin, war bei der Schweizer EU-Mission in Brüssel, danach bei der Schweizer Mission bei der Uno in New York. Später zog es sie nach Bern in die Bundesverwaltung, zunächst als persönliche Mitarbeiterin des ­damaligen Aussenministers Joseph Deiss, danach als Chefbeamtin im Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco). Zuletzt amtierte sie als ­Generalsekretärin im Volkswirtschaftsdepartement und war damit die wichtigste Mitarbeiterin von Bundesrat Johann Schneider-Ammann. Sie ist geschieden und hat keine Kinder.

Im namen der Wirtschaft

Economiesuisse ist der grösste Wirtschaftsdachverband der Schweiz. ­Insgesamt vertritt Economiesuisse 100 000 Unternehmen mit 2 Millionen Beschäftigten. Economiesuisse ist die wichtigste Lobby der Schweizer Wirtschaft, die sich mit viel Geld in politischen Abstimmungen engagiert. Die grösste Niederlage in der Geschichte der Economiesuisse erlitt der Verband vor gut zwei Jahren, als 68 Prozent des Volks Ja sagten zur Initiative «gegen die Abzockerei». Der jüngste Erfolg war die Kampagne gegen eine natio­nale Erbschaftssteuer, zu der 71 Prozent des Schweizer Volks Nein sagten.

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