Auf den Spuren der Giacomettis

Weekend-Tipp Bergell

03.09.2015, Schweizer Familie

Marco Giacometti weiss, was er gefragt wird, darum schickt er die Antwort voraus. Er sei nur entfernt verwandt mit den Künstlern, am nächsten mit Augusto, einem Cousin zweiten Grades von Giovanni, der wiederum der Vater ist von Alberto, dem grössten Giacometti aller Giacomettis. Kürzlich wurde Albertos Skulptur «Zeigender Mann» in New York für rund 135 Millionen Franken ersteigert. Das ist Weltrekord. Aber auch von Giovanni und Augusto gibt es inzwischen kein Gemälde mehr, das unter ­einer Million zu kaufen wäre. Ebenso wenig unterschätzt wird Albertos Bruder Diego.Jetzt will der entfernte Verwandte Marco (kleines Bild) die Künstlerfamilie in ihrer Bergeller Heimat in die Ewigkeit retten. Marco bewohnt im Dorf Stampa das Geburtshaus von Giovanni, das einmal das Hotel Piz Duan war. Ein stattlicher Bau mit freiem Blick auf die Bergzacken. Der Saal im Parterre könnte bald ein Element sein des Centro Giacometti, das Marco eifrig vorantreibt: ein Millionenprojekt.Als erste Aktion hat er letztes Jahr das längst fällige Buch unter dem Titel «Die Giacomettis» herausgegeben. Die nächste Etappe folgt im Mai 2016 mit der App «Giacometti Art Walk». Mit dem Mobiltelefon in der Hand werden sich Touristen auf die Spuren der Giacomettis machen. Film­szenen, Originalschauplätze, Bilder, Anekdoten über Gio­vanni, Augusto, Al­berto, Diego. Mit 30 000 Besuchern jährlich rechnet Marco, wenn «sein» Centro Giacometti einmal realisiert ist.

Bis es so weit ist, bietet er Führungen im kleineren Rahmen an. Mich empfängt er in Vicosoprano. Wir essen im «Corona» frische Rindsleber, beste Polenta und spazieren nach Borgonovo, wo die Giacomettis begraben sind. Die karge protestantische Kirche beinhaltet einen einzigen Farbtupfer: eine halbkreisförmige Glasmalerei von Augusto, natürlich nicht so majestätisch wie Augustos Figuren im Fraumünster von Zürich.

Ein unbekanntes Werk

Draussen vor der Kirche zeigt mir Marco das Grab von Giovanni und seiner Frau Annetta. Davor «enthüllt» er ein Geheimnis: eine echte Skulptur von Alberto, von der bis heute niemand weiss. Wie könnte es anders sein? Unter den anderen Grabsteinen fällt dieser Felsbrocken nicht weiter auf. Er ist mit Flechten bewachsen. Und man müsste ihn mit den Fingern abtasten, um zu erkennen, was Marco ­interpretiert: «Eine Sonne, ein Vogel, eine Vase als Symbol für das ewige Leben.»

Er führt mich hinüber ins Wäldchen zu einer dunklen Höhle im Bündnerschiefer. Für Alberto war das ein magischer Ort: «der goldene Monolith». Hier verwandelte sich der ­Knabe in einen Bildhauer, der Formen lebendig macht: «Mein Vater hatte uns eines Tages diesen ­Felsen gezeigt. Welch eine un­geheure Entdeckung! Sofort betrachtete ich ihn als einen Freund, als ein Wesen, das uns wohlgesinnt war, das uns rief und das uns zulächelte wie jemand, den man früher einmal gekannt und geliebt hat und den man überrascht und überglücklich wiederfindet.» Ich fotografiere.

Hinab gehts über frisch gemähte Wiesen ins Dorf Stampa zum Atelier von Giovanni, in dem sein Sohn Alberto seine ersten Striche gekritzelt und ­seine ersten Figuren modelliert hat. Von aussen ist das ein typischer Bergeller Stall. Das Tor verschlossen. Drinnen verborgen sind originale Pinsel neben einem roten Aschenbecher mit der Aufschrift Coca-Cola samt einem gelben Paket Gauloises. Alberto war Kettenraucher, ­Spuren ausgebrannter Zigaretten liegen auf dem Holzboden herum.

Ausgezeichnete Gemeinde

Ob dieses kleine Atelier je einem breiten Publikum zugänglich wird? Marco zweifelt, dass der originale Holzboden so viel Andrang vertragen wird.

Offen ist das Museum Ciäsa Granda. Eine Dauerausstellung zur Flora, Fauna, Geologie des Bergells. Dazu Kunstwerke von Giovanni, Augusto, Alberto und Diego. Ein Höhepunkt ist das faltige Gesicht von Alberto se­nior, fein gepinselt von dessen Sohn Giovanni. Dieses Museum Granda sei zu klein, findet ­Marco. Er hat Grösseres im Sinn.

Da passt es, dass die Gemeinde Bergell, bestehend aus den acht Dörfern Maloja (1800 Meter ü. M.), Casaccia, Vico­soprano, Borgonovo, Stampa, Soglio, Bondo und Casta­segna (680 Meter ü. M.), am 22. August mit dem Wakkerpreis ausgezeichnet wurde. Offiziell «für die Belebung der Baukultur». Gleichzeitig ist das eine Reverenz an die Giacomettis. Warum kamen die ihr Leben lang immer wieder heim? «Die Berge, das Licht, die Familie», ver­mutet Anna Giacometti, die ­Gemeindepräsidentin von Bergell. Weil sie weiss, was sie ­gefragt wird, schickt sie die ­Antwort voraus: Sie ist nur ­entfernt verwandt mit den Künstlern. Anna ist die Schwester von Marco.

Bereits erschienene Weekendtipps finden Sie unter www.schweizer familie.ch/weekendtipps

Bergell GR

Anfahrt: Via St. Moritz nach Maloja bis Castasegna. Mit den SBB und Postauto von Zürich in rund viereinhalb Stunden.

Führungen: Mit Marco ­Giacometti oder einer andern Fachperson, 150 Franken. Max. 20 Teilnehmer. Dauer 2 Stunden; Wanderschuhe.

Daten: In Absprache.

Kontakt: info@centrogiacometti.ch

Allgemeine Auskünfte:

Telefon 081 834 01 40www.centrogiacometti.ch

Literatur: «Die Giacomettis», herausgegeben von Marco Giacometti u. a., Salm-Verlag, 276 Seiten, mit vielen farbigen Ab­bildungen, 48 Franken.

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