Wie ein Journalist wieder lesen lernte Berner Zeitung, 23.04.2009, von Sarah Pfäffli

Wie ein Journalist wieder lesen lernte
Berner Zeitung, 23.04.2009, von Sarah PfäffliWenn ein Journalist etwas Fürchterliches erlebt, schreibt er darüber ein Buch – das ist ganz selbstverständlich. Bei Markus Schneider (49) grenzt es allerdings an ein Wunder, dass er sein Schicksal im Buch «Grimassenherz» nachzeichnen kann. Der Ex-«Weltwoche»-Journalist erlitt im Sommer 2007 nach einer Operation am Herzen zwei Hirnschläge und musste danach wieder lernen zu schlucken, zu sehen, zu gehen, zu lesen.Sein Kampf zurück ins Leben ist ein unvorstellbarer Kraftakt: Fünf Wochen liegt er nach dem zweiten «Schlegli», wie der Volksmund einen Hirnschlag verniedlicht, im künstlichen Koma. Die Tage nach dem Aufwachen durchlebt er «wie im Drogenrausch». Sieht Nashörner, Tiger aus Glace und eben: ein Grimassenherz – was auch immer das sein mag. Für ihn ist es das normalste der Welt.Schneider ist abgemagert, «ein Riesenbaby, 47 Jahre alt». Der mehrfach preisgekrönte Wirtschaftsjournalist und Buchautor («Weissbuch 2004») weiss plötzlich nichts mehr mit Zahlen anzufangen. Die untere Hälfte seines linken Gesichtsfeldes nimmt er nicht mehr wahr.

Inzwischen, fast zwei Jahre nach der Hirnblutung, schreibt Schneider wieder. Er führt einen Blog, und im Rahmen des IV-Programms «Integration vor Rente» absolviert er ein Arbeitstraining bei der «Schweizer Familie». Als Hilfsproduzent übt er hier, Titel zu setzen, Bildlegenden zu texten. «Ich trainiere viel», schreibt Schneider in einer E-Mail. Interviews gibt er nicht zum Buch, er wolle nicht mit der Krankheitsgeschichte «hausieren» gehen. «Alles, was ich zu meiner Krankengeschichte zu sagen habe, steht im Buch.» Herausgegeben hat Schneider «Grimassenherz» im Echtzeit-Verlag, den er 2007 mitgegründet hatte.

Schneider sieht sein Werk «als arbeitstherapeutische Verarbeitung des Erlebten». Doch wie Verarbeitungsliteratur kommt es nicht daher. Journalistisch und nüchtern ist es geschrieben; die gut 80 Seiten lesen sich zügig und leicht. Schneider schildert die Erlebnisse ohne Bitterkeit, manchmal gar lustig, tragikomisch. Aber darf man darüber lachen, wenn Schneider von «Stink-SMS» fantasiert – SMS, die wie Junk-Mails aus heiterem Himmel ankommen und fürchterlich stinken? Oder dass er einen Sonnenbrand erleidet, weil er vergass, sich linksseitig einzucremen?

Allerdings hilft auch Humor nicht über die unbequeme Erkenntnis hinweg, die «Grimassenherz» dem Leser so plastisch vor Augen führt: dass jeder Mensch nur eine Millisekunde davon entfernt ist, jene scheinbar so selbstverständlichen Eigenschaften und Fähigkeiten zu verlieren, die sein Leben zu dem machen, das es ist.

Buch: Grimassenherz. Eine Reise zurück ins Leben. Echtzeit Verlag, 96 Seiten. www.echtzeit.ch. Markus Schneiders Blog: http://schneiderinechtzeit.blogspot.com

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