Der Traum von einer einfachen Mehrwertsteuer

Vorlesung: Public Choice and Public Economics, 10.02.2005, Universität Basel

Es freut mich, dass ich hier der Universität Basel, an der ich studiert habe, eine Vorlesung halten darf. Aus naheliegenden Gründen werde ich mich hier weniger mit theoretischen Fragestellungen befassen, sondern eher mit praktischen Problemen. Ich bin ja kein Wissenschaftler geworden, sondern nur ein Journalist, der den Entwicklungen im Sozialstaat und im Steuerstaat zu verfolgen versucht. Und da muss ich Ihnen sagen, dass ich seit meiner Zeit an der Uni eine wichtige Erkenntnisse hinzugewonnen habe: Es geht nicht nur um den Antagonismus zwischen «links» und «rechts»; es gibt heute eine zweite Trennlinie, die kaum beachtet wird, aber womöglich weiter reichende Konsequenzen hat, als man denkt: der Antagonismus zwischen «einfach» und «kompliziert».Um mein Fazit vorwegzunehmen: Ich bin der festen Überzeugung, dass sowohl unser Sozial- wie auch unsere Steuersysteme viel zu kompliziert geworden sind. Hinter jedem einzelnen Paragrafen, hinter jedem einzelnen Sozialtransfer steckt eine gut gemeinte Absicht. Nur: Es hat inzwischen gar niemand mehr eine Übersicht über die Gesamtwirkungen dieser gut gemeinten Absichten. Und prompt kommt es – sowohl im Steuerstaat wie im Sozialstaat – zu falschen Anreizen, perversen Resultaten, bürokratischen Leerläufen.

Meine politische Forderung lautet darum schlicht: Eine Schweiz der Zukunft muss den Mut gewinnen zu radikalen Vereinfachungen. Darstellen möchte ich das am Beispiel der Mehrwertsteuer. Ich weiss, das ist kein sexy Thema, aber ich möchte immerhin daran erinnern, dass unser oberster Steuereintreiber, der seit einem Jahr Hans-Rudolf Merz heisst, hier ein Problem erkannt hat, dem er sich zumindest rhetorisch widmen möchte: „Unser Steuersystem weist einen Komplexitätsgrad auf, der in krassem Widerspruch zur angestrebten Bürgernähe steht.“

Sie sehen, das Problem ist erkannt, ich könnte hier meine Vorlesung abbrechen. Denn Bundesrat Merz fügte mutig an: „Ich will deshalb unser Steuersystem vereinfachen und entrümpeln.“

Nun wissen Sie auch, was von solchen Ankündigungen der Politiker zu halten ist. Es gibt immer mehr Politiker, die davon reden, dass sie das Steuersystem vereinfachen wollten. In Wahrheit haben sie immer das Gegenteil getan. Sie haben das System immer noch komplizierter gemacht, und sie werden es in Zukunft, wenn nicht alles täuscht, noch komplizierter machen, als es schon ist. Und dies wie gesagt mit meist gut gemeinten Absichten.

Sehr schön zeigt sich dieses Prinzip bei der Mehrwertsteuer. Das ist eine neue Steuer, eingeführt wurde sie auf 1. Januar 1995, sie ist also erst seit zehn Jahren in Kraft. Hier kann sich niemand mit der Entschuldigung hinausstehlen, das System habe sich halt im Laufe der Jahrhunderte verkompliziert. Ein einziges Jahrzehnt genügt.

Wenn Sie heute das Gesetz zur Mehrwertsteuer in die Hand nehmen, wird Ihnen auffallen: Es ist 50 Seiten stark und damit umfangreicher als die Bundesverfassung (In Klammern nur: hinzu gehören 3000 Seiten Verordnungen, Richtlinien und Ausführungsbestimmungen, und jährlich werden es 100 bis 200 Seiten mehr). Besonders lang ist der Artikel 18, der sich über viereinhalb Seiten ausbreitet. Es ist, wie mir Urs Ursprung, der Chef der Eidgenössischen Steuerverwaltung gesagt hat, der am schnellsten wachsende Paragraf im Mehrwertsteuergesetz überhaupt. Er ist überschrieben mit – Sie ahnen es vermutlich – «Liste der Steuerausnahmen». Da stehen inzwischen 25, ich wiederhole: 25 Ausnahmen, was alles von der Steuer ausgenommen ist. Zum Beispiel Kulturveranstaltungen oder Sportveranstaltungen, einschliesslich Startgeld.

Diese 25 Ausnahmen des Artikels 18 gehen ins Detail: So ist laut Ziffer 21 «Die Überlassung von Grundstücken und Grundstücksteilen zum Gebrauch oder zur Nutzung» von der Mehrwertsteuer ausgenommen. Hier folgt ein Strichpunkt. Dann geht es weiter im Text: «steuerbar sind jedoch», Doppelpunkt. Was jetzt folgt, wird also wieder besteuert, wir sind bei den Ausnahmen von der Ausnahmen angelangt, das ist wie bei einer doppelten Verneinung, was nicht nicht besteuert wird, wird wieder besteuert, nämlich: «Die Vermietung von Schliessfächern» oder die «die Vermietung von Campingplätzen». Aber das ist noch nicht das Ende: unter dem Buchstaben d) wird nicht nicht besteuer: «die Vermietung und Verpachtung von fest eingebauten Vorrichtungen und Maschinen, die zu einer Betriebsanlage, nicht jedoch zu einer Sportanlage gehören».

Ich bin nicht Jurist, aber als Journalist gehe ich davon aus, dass wir nun bei der Ausnahme von der Ausnahme von der Ausnahme angelangt sind. Was nicht nicht nicht besteuert wird, wird nach mathematischer Logik nicht besteuert. Demnach ist die «Vermietung eines Grundstückes, das zu einer Sportanlage gehört», von der Mehrwertsteuer ausgenommen. In der Praxis wird man sich vermutlich darüber streiten, wann eine fest eingebaute Vorrichtung eine Sportanlage ist und wann nicht.

Nun wollen nicht wenige Politiker – Sie ahnen es – die Mehrwertsteuer vereinfachen. Die CVP-Fraktion fordert das in einer Motion. Auch Pierre Triponez, FDP-Nationalrat aus Bern, Gewerbepolitiker, ist auf diesen Zug aufgesprungen und schreibt in seinen Vorstössen: «Der Bundesrat ist eingeladen, Massnahmen zu ergreifen, um die offiziellen Dokumente der Mehrwertsteuerhauptabteilung dahingehend zu verringern und zu vereinfachen, dass sie für die Kleinen und Mittleren Unternehmer lesbar und verständlich werden.»

Das ist schön. Nun wurde derselbe Pierre Triponez aber mit weiteren Vorstössen aktiv. Mit einer Parlamentarischen Initiative vom März 2000 war er sogar erfolgreich. Dank Pierre Triponez wurde der berühmte Artikel 18 im Mehrwertsteuergesetz um die 25. Ausnahme ergänzt, es geht um die Dienstleistungen der AHV- und Familienausgleichskassen, die von der Mehrwertsteuer inzwischen befreit werden. Doch damit nicht genug. Pierre Triponez hat einen weiteren Vorstoss hängig, diesmal geht es um die 26. Ausnahme, der Nationalrat hat bereits Ja gesagt, im Ständerat ist alles auf bestem Weg. Dank Pierre Triponez werden künftig auch «Leistungen zur Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten» nicht mehr der Mehrwertsteuer unterstellt sein.

Dieser Erfolg hat Pierre Triponez neuen Antrieb gegeben. Er hat einen nächsten Vorstoss eingereicht, diesmal geht es nicht um die Mehrwertsteuer, sondern die Mineralölsteuer, dort sind die Ausnahmen ebenfalls in einem Artikel 18 geregelt, wo zum Beispiel «der Treibstoff für die Land- oder Forstwirtschaft oder für die Berufsfischerei» von der Steuer befreit ist. Pierre Triponez will nun erreichen, dass auch «die Treibstoffe für die Bagger- und Lastschifffahrt sowie den Natursteinabbau» von der Steuer befreit werden.

Meine Damen und Herren, ich komme allmählich zum Thema: Je höher die Steuersätze steigen, um so zahlreicher die Rufe nach einer Sonderbehandlung. Die Mehrwertsteuer ist wie gesagt noch keine 10 Jahre alt, hat bei einem Normalsatz von 6,5 Prozent angefangen, inzwischen beträgt der Normalsatz 7,6 Prozent, und jede Zeitungsleserin, jeder Zeitungsleser weiss: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Mehrwertsteuer weiter erhöht werden wird. Wie reagieren darauf die Betroffenen?

Sie suchen nach Argumenten, den «Normalsatz» zu umgehen. In erster Linie wollen sie von der Steuer befreit werden, dank neuen Ausnahmen im Artikel 18. In zweiter Linie verlangen sie nach einem Sondersatz, wie er heute der Hotellerie für Beherbergungen gewährt wird (3,6 statt 7,6 Prozent). Oder sie verlangen einen reduzierten Satz, wie er heute zum Beispiel für Zeitungen und Bücher gilt (2,4 statt 7,6 Prozent). Ich erwähne diese Branche deshalb, weil ich nicht verschweigen will, dass auch ich selber profitiere, selbstverständlich mit guten Absichten, denn bei Zeitungen und Büchern geht es im weitesten Sinn um Kulturförderung.

Nur: Das Ergebnis dieser Politik besteht darin, dass ein einzelner Gastwirt heute drei Sätze für die Mehrwertsteuer anwenden muss: Für die Übernachtungen gilt der Sondersatz von 3,6 Prozent. Verkauft der Wirt das Essen und Getränke über die Gasse, gilt der reduzierte Satz für Ess- und Trinkwaren, wie in jedem Laden, von 2,4 Prozent. Bedient er die Gäste am Tisch, zahlt der Wirt die normale Mehrwertsteuer von 7,6 Prozent. Ob dem Wirt damit geholfen ist?

Es gibt Politiker, die genau hier einsetzen. An vorderster Front agieren schon wieder die Bürgerlichen. Der Obwaldner Ständerat Hans Hess, in der freisinnigen Fraktion wie Triponez, verlangt in einer Motion, welche 23 von den 46 Ständeräten mitunterzeichnet haben, dass «der reduzierte Satz auch für Ess- und Trinkwaren im Rahmen von gastgewerblicher Lieferungen» gelten soll. Mit andern Worten: Statt 7,6 Prozent soll ein Restaurant künftig nur noch einen reduzierten Satz abliefern. Hans Hess sieht ein, dass dieser Satz nicht bei 2,4 Prozent liegen kann, sonst wären die Steuerausfälle zu hoch. Deswegen will er neu einen einheitlich reduzierten Satz einführen. Interne Berechnungen der Eidgenössischen Steuerverwaltung haben ergeben, dass dieser einheitlich reduzierte Satz, wenn er denn für alle einheitlich reduziert würde, bei etwa 3,6 Prozent zu liegen käme. Den Wirten wäre damit sicher geholfen – nur: dem übrigen Lebensmittelhandel nicht, und die Buchhändler werden auch nicht einsehen, warum sie aus Solidarität mit den Wirten ihren reduzierten Satz nach oben angleichen sollen.

«Gleichbehandlung» ist ein weites Feld, jede Ausnahme ruft nach einer neuen Ausnahme. Michèle Berger, eine Freisinnige wie Triponez und Hess, wollte, als sie noch im Ständerat war, dafür sorgen, dass der reduzierte Satz von 2,4 Prozent nicht nur für gedruckte Informationen zur Anwendung komme, sondern auch «auf elektronische Informationen im Bereich der Wissenschaft, der Forschung und der Bildung». Sie sehen, liebe Studentinnen und Studenten, es gibt sogar Politiker, die speziell an Sie denken.

Dieser Vorstoss von Michèle Berger hat beim zuständigen Bundesrat Kaspar Villiger etwas ausgelöst: einen kleinen Wutanfall. Im März 2003, am Ende seiner fast zehnjährigen Karriere als Finanzminister, holte er aus zu einer Art Bilanz über zehn Jahre Mehrwertsteuer. Im Ständeratssaal sprach er:

«Ich stelle fest, dass, seit wir dieses Gesetz haben, Schritt für Schritt und Schlag auf Schlag Vorstösse zur Befreiung einzelner Tatbestände kommen. Wir haben damals – wie das alle Länder machen, aus sozialen oder aus anderen Gründen – gewisse tiefere Sätze gewählt; bei uns waren das der tiefere Satz von 2,4 Prozent für die Güter des täglichen Bedarfs und jener von 3,6 Prozent für die Hotellerie. Jetzt passiert etwas, was ganz natürlich ist. Überall, wo wir eine Schnittstelle zwischen dem Normal- und dem tieferen Satz haben, können Sie tausend Beispiele für Ungerechtigkeiten bringen. Wir haben eine wilde Kaskade von Parlamentarischen Initiativen, die immer wieder neue Ausnahmen schaffen wollen – immer wieder neue Schnittstellen und immer wieder neue Ungerechtigkeiten.» Dann kam Villiger zum Kern seiner Botschaft: «Eigentlich müssten wir alle Sondersätze abschaffen, und wenn wir irgendwo etwas fördern wollen, dann sollten wir dies transparent tun, indem wir dann halt staatliches Geld hineingeben. Sonst sind das invisible Subventionen. Die Begünstigten sehen nicht, dass sie durch die Ausnahme von einer staatlichen Leistung begünstigt sind. Sie machen noch ein hohles Kreuz, denn sie bezahlen ja auch eine Steuer.»

Das sind erfreulich deutliche Worte, sie kommen von der Exekutive, gerichtet sind sie an eine Legislative. Denn es ist völlig klar, wer das Schweizer Steuersystem noch komplizierter macht, als es bereits ist: Miliz-Parlamentarier meist bürgerlicher Provenienz, die sich für ihre jeweilige Klientel einsetzen. Den Gipfel abgeschossen hat wohl Gewerbevertreter Pierre Triponez: Mit der Begründung, dass es «in unserer Volkswirtschaft zahlreiche arbeitsintensive Dienstleistungen» gebe, «die eine sozial bedeutungsvolle Funktion erfüllen», wollte er dafür sorgen, dass auch «Coiffeure» und «Wäschereien» einen reduzierten Satz zu zahlen hätten. Wenigstens mit diesem Vorstoss kam Pierre Triponez nicht durch.

In der Regel aber ist die Exekutive zu schwach, um sich bei der Forderung nach Steuerausnahmen gegen die Legislative durchzusetzen. Und dies, obschon die Exekutive unterstützt wird von der Verwaltung, welche – zumindest in diesem Fall – grossartige Arbeit leistet.

Im Namen des Bundesrats hat die eidgenössische Steuerverwaltung neulich einen Bericht herausgegeben unter dem Titel «10 Jahre Mehrwertsteuer». Eine analytisch saubere Arbeit, die jeder Universität und auch einem Think Tank wohl anstehen würde. Hier steht alles drin, schwarz auf weiss. Hier hat es sogar ein Kapitel, das überschrieben ist mit «Die ideale Mehrwertsteuer». Auf fünf Kriterien komme es an, von welchen die hiesige Mehrwertsteuer die ersten drei Kriterien mehr oder weniger erfülle. Aber eben nur die ersten drei. Eine ideale Mehrwertsteuer, so heisst es im Bericht, kenne 4) keine Ausnahmen und 5) einen Einheitssatz. Und hier weicht die schweizerische Lösung eben, ich zitiere: «stark von der Idealvorstellung» ab.

In der Folge wird der Konsum nur unvollständig erfasst, und damit die innere Logik der Mehrwertsteuer «unterhöhlt», wie es im offiziellen Bericht des Bundesrats heisst. So lange nicht alle Vorleistungen von der auf ihnen lastenden Vorsteuer befreit werden, bleiben viele Investitionsgüter und Zwischenprodukte mit einer Mehrwertsteuer belastet. Es kommt zu Verzerrungen, welche die Fachsprache «taxe occulte» nennt. Diese taxe occulte ist, ich zitiere wieder aus dem Bericht, «eine Folge der unechten Steuerbefreiungen ». Eine ideale Mehrwertsteuer würde lediglich den Konsum belasten, zu 100 Prozent. Die schweizerische Mehrwertsteuer hingegen belastet den Konsum nur zu etwa 59 Prozent, dafür zu 24 Prozent die Investitionen und zu 17 Prozent die Zwischenprodukte. Darunter leidet, ich muss das hier kaum extra betonen, die Binnenwirtschaft.

Nicht vergessen darf man die Kosten der Bürokratie, die je grösser sind, um so mehr Paragrafen es zu beachten gilt. «Differenzierte Sätze sind schwierig zu erheben, da sie Klassifizierungsprobleme nach sich ziehen und Anreize zur Steuerumgehung schaffen». Weiter heisst es im offiziellen Bericht: «Die differenzierten Sätze vergrössern auch den Buchungsaufwand der Steuerpflichtigen. Dieser Umstand trifft kleinere Firmen überproportional.» Man unterscheidet hier zwischen «Erhebungskosten», welche beim Staat anfallen. In der Schweiz sind diese nicht besonders hoch: In der eidgenössischen Steuerverwaltung in Bern sind es umgerechnet rund 600 Vollzeitstellen. «Stärker ins Gewicht fallen», ich zitiere schon wieder aus dem Bericht, «die Entrichtungskosten, welche den Steuerpflichtigen entstehen.» In Grossbritannien wurde diese Entrichtungskosten, die bei den Firmen anfallen, auf 3,7 Prozent der Steuererträge geschätzt, wobei kleine Firmen bis zu zwanzig mal höhere Kosten haben als grosse. «Für die Schweiz liegen nur bruchstückhafte Informationen vor».

Meine Damen und Herren, ich komme allmählich zur Pointe. Ich stelle in meinen Referaten jeweils drei Fragen, die nicht nur auf die Mehrwertsteuer, sondern auch auf die Einkommenssteuer gemünzt sind. Auf diese drei Fragen gibt es, wie ich meine, immer nur eine einzige Antwort:

Erste Frage: Warum ist das jetzige Steuersystem so kompliziert? Einzige mögliche Antwort: Weil es so viele Ausnahmen und Sonderregelungen gibt.

Zweite Frage: Warum gibt es so viele Ausnahmen und Sonderregelungen? Zweite einzige mögliche Antwort: Weil die Tarife so hoch sind, dass sich die Politiker nicht trauen würden, diese hohen Tarife voll und ganz zu verlangen.

Letzte Frage: Warum sind die Tarife so hoch? Dritte einzig mögliche Antwort: Weil so viele Ausnahmen und Sonderregelungen erlaubt sind – (Pause), was das Ausfüllen der Steuererklärungen leider so mühsam macht, wie es ist. Ein klassischer Zirkelschluss.

Die eidgenössische Steuerverwaltung übrigens wüsste, wie die Schweiz aus diesem Zirkelschluss herauskäme. Wir müssten einfach eine «ideale Mehrwertsteuer» einführen – und das System vereinfachen, radikal. Keine einzige Ausnahme, kein einziger Sondersatz. Und siehe da: Das Gesetz wird schlank, der Umgang mit den Ausnahmeparagrafen entfällt, die Steuerbehörde in Bern braucht ein paar Beamte weniger, und die Steuerpflichtigen, die Firmen, könnten einige Zeit sparen, die sie heute im Umgang mit der Mehrwertsteuer verschwenden.

Und last but not least: die Steuertarife würden sinken – und zwar spürbar. Würde man einen neuen Einheitssatz einführen und ohne Ausnahme anwenden, bedeutet das ein Steuersatzsenkung, wie sie die Schweiz noch gar nie erlebt hat. Der neue Einheitssatz würde, ich zitiere nochmals aus dem Bericht, «erheblich unter dem heutigen Normalsatz von 7,6 Prozent» liegen. Im Klartext: «Es wird geschätzt, dass dieser Einheitssatz zwischen 5 und 6 Prozent zu liegen käme.»

Eine happige Information. Oder wie wir Journalisten in sonstigen Angelegenheiten sagen: «Ein Knüller». Und das in einer Zeit, in der um «zusätzliche Mehrwertsteuerprozente», etwa für die AHV und die IV, hart gekämpft wird. Da kommt der Bundesrat und zeigt, wie man die Wirtschaft, anstatt immer zusätzlich zu belasten, per saldo entlasten könnte. Doch was ist die Reaktion? Dieser Bericht des Bundesrat, offiziell abgegeben am 27. Januar 2005, wird kaum zur Kenntnis genommen, nicht einmal in der NZZ. Am Samstag hat Gerhard Schwarz in seinem Leitartikel am Rand zwei Sätze darüber verloren, das war’s auch schon. Und die andern Journalisten haben es entweder nicht gemerkt, oder es schien ihnen zuwenig spektakulär. Auch die politischen Parteien und die Wirtschaftsverbände reagierten wie die Medien: gleichgültig. Selbst der Bundesrat nahm seinen eigenen Bericht nicht für ganz voll: «Gegen eine solche radikale Reform sind jedoch grosse politische Widerstände zu erwarten.» Darum will die Exekutive «das Schwergewicht vorerst auf Vereinfachungen innerhalb des heutigen Systems legen», was angesichts der organisierten Sonderinteressen in den Parlamenten wohl schwierig bis unmöglich sein wird.

Letzte Frage – die berühmte «Schuldfrage». In einem vernünftigen Diskurs kämen durchschnittlich intelligente Menschen zur Überzeugung, dass eine einfache und einheitliche Mehrwertsteuer wohl das beste für alle wäre. Wer ist schuld, dass sich diese Art Vernunft nicht durchsetzt?

Ich weiss, hier an der Universität Basel hat die direkte Demokratie keinen guten Ruf, und ich könnte hier anfügen: Schuld ist die direkte Demokratie. Will man die Mehrwertsteuer radikal vereinfachen, muss man dazu die Verfassung ändern. Dazu braucht es eine Mehrheit des Volkes und der Stände. Eine solche Mehrheit war bereits nötig, damit die Schweiz überhaupt von der Warenumsatzsteuer zur Mehrwertsteuer gewechselt hat. Und diese Mehrheit wurde damals erst nach mehreren Anläufen geschafft und wohl nur deswegen, weil man das Volk «geködert» hat: mit den berühmten Ausnahmen, etwa für Kultur und Sport, oder den berühmten Sondersätzen, etwa für Lebensmittel und Medikamente. Wir sind damit wieder am Anfang der Diskussion: Es sind immer gute Absichten, welche die Politiker zu den jeweiligen Ausnahmen verleiten.

Nun rede ich hier vor einem wissenschaftlichen Publikum, und ich finde, die Wissenschaft könnte zu diesen Fragen durchaus ihren Beitrag leisten: Nämlich eine Antwort, wie gut die guten Absichten erreicht werden. Wer profitiert von diesen, wie es Kaspar Villiger sagte, «invisiblen Subentionen»? Bei der Mehrwertsteuer fällt jedenfalls auf: Der Satz für Medikamente oder Bücher ist in der Schweiz tief, aber die Preise für Medikamente und Bücher sind es nicht. Oder profitieren die ärmeren Leute wenigstens von den tieferen Tarifen auf den Lebensmitteln? «In Irland wurde festgestellt», ich zitiere schon wieder aus dem Bericht des Bundesrats, dass die reicheren Haushalte für Lebensmittel «doppelt so viel aufwenden, weil sie teurere Artikel kaufen, öfters auswärts essen und mehr Essensreste fortwerfen». In Irland gibt es sogar einen Nullsatz für Lebensmittel, also profitieren von diesem Privileg die höheren Einkommen doppelt so stark wie die tieferen. Oder wie es im Bericht des Schweizerischen Bundesrats heisst: «Ein sonderbarer Weg, die Notlage der Armen zu mildern.»

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