Eigentümlicher Bauboom

Kaufen ist billiger als auch schon, aber nicht billiger als mieten. Warum die Leute trotzdem Häuser und Wohnungen kaufen.

03.05.2004, NZZ Folio

Hinter den vier Wänden der Schweizer verbirgt sich Unerwartetes. Zum
Beispiel, dass es weiter aufwärtsgeht mit unserem Land. Dass wir nicht
nur gut leben, sondern immer besser. Dass es gar keine
Wachstumskrise gibt, kein «verlorenes Jahrzehnt», keinen geschröpften
Mittelstand. Alle diese Schlagworte lösen sich in Luft auf, sobald man
eintritt in jene Zonen, in die sich der Boom der letzten Jahre
zurückgezogen hat: hinter die Haustüren. Dort stösst man auf eine stille,
aber stetige Vermehrung eines Luxusgutes: auf mehr Raum. Zwischen
1980 und 2000 erhöhte sich die durchschnittliche Wohnfläche pro Kopf
schön regelmässig um 5 Quadratmeter pro zehn Jahre von 34 auf 44
Quadratmeter. Schweizerinnen und Schweizer haben sich mit dem
wenigen Geld, das sie zusätzlich verdient haben, sehr viel leisten
können. Die Wohnfläche pro Kopf hat viel stärker zugenommen als das
Einkommen pro Kopf.Raum ist wie jedes andere Gut ungleich verteilt. Die erste Trennlinie folgt
streng den Besitzverhältnissen: Mieter kommen auf 39 Quadratmeter pro
Kopf, Eigentümer auf 50. Das ist bereits ein erster Hinweis darauf,
warum die Wohnfläche in den letzten Jahren so fürstlich angestiegen ist:
weil der Anteil der privaten Eigentümer auch in der Schweiz allmählich
zunahm, von 31,3 auf 34,6 Prozent im Lauf der neunziger Jahre. Die
zweite Trennlinie folgt scharf dem Alter. Mit Abstand am meisten
Wohnraum hinzugewonnen haben die 65-Jährigen; sie haben sich in den
letzten 20 Jahren um volle 18 Quadratmeter ausgebreitet und belegen
inzwischen mehr als 60 Quadratmeter.Eine fast schon unheimliche Platzvermehrung, die zeigt, dass es unseren
Pensionierten allerdings muss man hervorheben: im Durchschnitt so gut
wie noch nie geht, und sie investieren besonders stark in
Eigentumswohnungen. «Die grösste Bedeutung erlangt das
Stockwerkeigentum im Alter zwischen 50 und 75 Jahren», heisst es in
einer neuen Immobilienstudie der Credit Suisse. In dem Alter mag man
keinen Rasen mehr mähen, und man schätzt den direkten Liftzugang zur
Wohnung.

Die 65-Jährigen belegen inzwischen fast doppelt so viel Wohnfläche wie
die 40-Jährigen, die in den letzten zehn Jahren punkto Wohnfläche kaum
mehr zulegen konnten. Anders die 20- bis 30-Jährigen, die sich ebenfalls
steigern konnten, wenn auch nicht annähernd so stark wie die
Pensionierten. «Zwischen zwanzig und dreissig haben die Leute oft noch
keine Kinder, aber ein doppeltes und anständiges Einkommen», sagt
Christoph Koellreuter von der Basler Konjunkturforschung BAK. Was tun
diese gutverdienenden Jungen mit ihrem Geld? Einige investieren
konservativ wie ihre Grosseltern in Immobilien, besonders gern in
zentralen und urbanen Lagen.

Just das Stockwerkeigentum, hierzulande relativ neu und erst seit 1965
gesetzlich geregelt, hat das Verhältnis der Schweizer zum
Wohneigentum gründlich verändert bei den Jungen wie bei den Alten.
Zwar beginnt der neuste «Immobilien-Ratgeber» des Schweizerischen
Hauseigentümerverbandes wie eh und je mit: Die meisten Personen
kaufen nur einmal im Leben Wohneigentum. Das ist zum Glück eine
Legende, Immobilienbesitzer sind auch in der Schweiz nicht mehr gar so
immobil, wie ihr eigener Verband meint. Sie sind durchaus bereit, ihren
Besitz je nach Lebensabschnitten zu tauschen, oft parallel zum
Lebenspartner.

Das belebt den Markt, auch wenn Schweizer Eigentümer weiterhin
sesshafter sind als andere Leute. In den USA etwa wechselt ein
Einfamilienhaus im Schnitt alle sieben Jahre die Hand, eine Mietwohnung
sogar alle zweieinhalb Jahre den Mieter. Anders bei uns: Während
Mietwohnungen im Durchschnitt alle fünf bis sechs Jahre frei werden,
dauert das bei Eigentumswohnungen zehn bis elf Jahre, bei
Einfamilienhäusern sogar zwanzig Jahre. Zwanzig Jahre sind eine lange
Zeit, aber nicht das ganze Leben. Danach kommt freilich nur jedes
zweite Einfamilienhaus wirklich auf den Markt, das andere wird innerhalb
der Familie vererbt.

Also muss, damit sich die Nachfrage befriedigen lässt, gebaut werden.
Und es wird auch gebaut, zwar nicht wie wild, aber gezielt für Leute, die
sich das gewisse Eigene leisten können. Bei den Mietwohnungen hat der
Bestand in den neunziger Jahren nur gerade um 3 Prozent
zugenommen. Ganz anders bei den Eigentumswohnungen und den
Einfamilienhäusern: hier ist der Bestand zwischen 1990 und 2000
geradezu explodiert, er nahm um 18 beziehungsweise 20 Prozent zu.

Während der sogenannten Wirtschaftsflaute jener zehn Jahre sind also
neben 70 000 Eigentumswohnungen 100 000 Einfamilienhäuser gebaut
worden, viele davon auf der grünen Wiese. Dieses Tempo hat sich in
letzter Zeit noch erhöht: Im vierten Quartal 2003 wurden 16 Prozent
mehr Wohnungen baubewilligt als ein Jahr zuvor, in den
Agglomerationen der fünf grössten Städte sogar 21 Prozent mehr, zum
grössten Teil sind das neue Eigentumswohnungen.

Wer sich, ob jung oder alt, eine Wohnung sucht, will in der Regel grosse
Räume, viel Licht, eine richtige Terrasse mit unverbauter Sicht, am
liebsten auf einen See oder die Berge. Offenbar verfügt diese Kundschaft
auch über ein genügend grosses Portemonnaie. Dieter Marmet vom
Zürcher Immobilienberater Wüest & Partner beobachtet gar eine
paradoxe Nachfrage: «Je mehr Quadratmeter eine Wohnung hat, umso
höher steigt die Zahlungsbereitschaft pro Quadratmeter.» Erst ab 220
Quadratmetern ändert sich dieses Bild.

Am knappsten ist der Boden dort, wo die Preise am höchsten sind, in
Städten und Steueroasen. Im Kanton Zug etwa würden heute fast nur
noch Eigentumswohnungen gebaut, sagt der Kantonsplaner René
Hutter. «Für Einfamilienhäuser existiert nahezu kein Bauland mehr.»
Dabei gibt sich Zug alle Mühe, neue exklusive Ressourcen nachwachsen
zu lassen. Heute zählt der Kanton rund 2400 Hektaren Bauzonen,
gemäss Richtplan sind nun 220 Hektaren für Siedlungserweiterungen
vorgesehen.

Wer es billiger haben will, muss sich anderswo umsehen. Die kleine
Schweiz ist gross genug; selbst für zahlbare Einfamilienhäuser gibt es ein
Reservoir. Zum Beispiel den Kanton Schaffhausen. Der dortige
Wirtschaftsförderer, Thomas Holenstein, plant in diesen Tagen neue
Inserate, die den Zürchern zeigen sollen, wie nah Schaffhausen ist. Und
dass es dort nicht nur günstige Mietwohnungen gibt, sondern auch
bestes Bauland ab 110 Franken der Quadratmeter. Einfamilienhäuser ab
450 000 Franken, eine alte Villa für 800 000 Franken. Oder ein zahlbares
Bauernhaus zum Umbauen, wie es Thomas Holenstein selber in
Wilchingen gefunden hat. «Das Wohnen im Kanton Schaffhausen ist so
attraktiv, dass man etwas höhere Steuern in Kauf nimmt.»

Auf der grünen Wiese zu bauen, ist also nach wie vor billiger als die
verdichtete Bauweise in städtischen und zentralen Lagen. Der Preis
dieser Entwicklung: jede Sekunde geht ein Quadratmeter Kulturland
verloren, pro Jahr die Fläche des Zugersees. Bald ist das ganze
Mittelland ein einziger Siedlungsbrei, der Verkehrslawinen verursacht
und nach neuen Strassen und zusätzlicher S-Bahn-Erschliessung
verlangt. Auch die Abwasser-, Wasser- und Stromversorgung kann pro
Kopf bis zu dreimal höhere Kosten verursachen, als dies bei verdichteter
Bauweise der Fall wäre, wie eine Ecoplan-Studie zeigt. Daraus folgert
der Basler Regionalökonom René L. Frey: «Würden den Bauherren auf
der grünen Wiese die wahren Kosten vollständig verrechnet, würde
manchem das Bauen in der Agglomeration vergehen.»

Die Politiker unternehmen freilich alles, um die Nachfrage zusätzlich
anzukurbeln. Gemeinderäte wollen nicht die Infrastrukturkosten der
Kantone minimieren, sondern die Steuereinnahmen ihrer Gemeinde
maximieren, und buhlen darum um neue, gutverdienende Zuzüger, nicht
nur in Schaffhausen. Bundesparlamentarier fördern das Wohneigentum
mit steuerlichen Mitteln, nach der Volksabstimmung vom kommenden 16.
Mai womöglich noch stärker als heute. Alles spricht dafür, dass dieser
Markt für Investoren erst richtig interessant wird. Die berühmten
Babyboomer, inzwischen 35 bis 55 Jahre alt, kommen gerade ins beste
Alter, um selbst zuzulangen.

Wer kauft, muss zwei Bedingungen erfüllen. Erstens muss er mindestens
20 Prozent des Eigenkapitals selber mitbringen; ein Objekt für 600 000
Franken verlangt also 120 000 Franken Eigenmittel. Bedingung Nummer
zwei ist die 6-Prozent-Regel, die dank den historisch tiefen
Hypothekarzinsen zu einer 5-Prozent-Regel geworden ist: bei 20 Prozent
Eigenkapital müssen für Schuldzinsen, Amortisation, Unterhalt und
Nebenkosten 5 Prozent des Kaufpreises budgetiert werden; früher waren
es 6 Prozent, und vielleicht sind es bald wieder so viel. Bei 600 000
Franken macht das zurzeit 2500 Franken im Monat, bei einem Kaufpreis
von 1,2 Millionen bereits 5000 Franken im Monat, wenn nicht bald sogar
6000 Franken.

Solche trivialen Umrechnungen zeigen: Kaufen ist dank den historisch
und international einmalig tiefen Zinsen billiger geworden. Aber kaufen ist
sicher nicht billiger als mieten. Eigenheimbesitzer verzichten nach
Schätzung von Dieter Marmet, Chefökonom von Wüest & Partner, immer
auf etwa 1 Prozent Rendite. Auch langfristig rentieren Immobilien
schlechter als Aktien, dafür etwas besser als Schweizer Obligationen.
Ganz offensichtlich wirken hier immaterielle Reize: Das eigene Haus, die
eigene Wohnung ist einem das wert.

Im Ganzen geht die Rechnung auf, solange die Wohnfläche als
wichtigster Indikator für die Qualität des Wohnens weiterhin so massiv
steigt. Es ist fast wie auf dem Markt für Elektronik: Ein Computer kostet
seit längerem immer gleich viel, rund 2000 Franken, er kann aber immer
mehr.

Im Immobilienmarkt kam es zu Beginn der neunziger Jahre zur Zäsur.
Die Preise brachen ein, entwickeln sich seither jedoch in vernünftigen
Bahnen. Die Mietpreise steigen schön parallel zur Teuerung, die Preise
für Einfamilienhäuser ein bisschen stärker, nochmals ein bisschen
stärker die Preise für Eigentumswohnungen, in erster Linie wegen der
wachsenden Zahl von Älteren. Mit fortschreitendem Alter rechnen Käufer
nämlich anders. Die meisten von ihnen können locker über die 5- oder
6-Prozent-Regel hinwegsehen.

Pensionierte bringen im Durchschnitt viel mehr Eigenkapital mit als die
geforderten 20 Prozent des Verkaufspreises. «Unter 40-Jährige
versteuern generell nur sehr wenig Vermögen», heisst es in einer
Analyse der Zürcher Staatsteuerstatistik 1999. «Zwischen dem 50. und
dem 65. Altersjahr setzt dann die Vermögensbildung ein.» Die Kinder
ziehen aus, gleichzeitig fallen endlich Erbschaften an: «50 Prozent der
Empfänger sind zwischen 50 und 65 Jahre alt.» Zur Zeit der
Pensionierung sind die Leute im Durchschnitt nicht nur reich, sondern
sehr reich. Unter den über 65-Jährigen im Kanton Zürich versteuert jeder
fünfte Verheiratete mehr als 1 Million Franken Vermögen, jeder zweite
immerhin noch mehr als 359 000 Franken.

Die Zahl der Rentner steigt, ihre finanzielle Potenz nimmt zu. Ihre
Vermögen sind im Durchschnitt sehr hoch, ihre Einkommen stabil. Das
weltweit gelobte schweizerische Dreisäulenprinzip beginnt allmählich
Früchte zu tragen. In unzähligen Seminaren und Tagungen haben
Marketingfachleute bereits zu ergründen versucht, welche Sektoren von
der zunehmenden Kaufkraft der Senioren am meisten profitieren
könnten. Der Tourismus? Der Fitness- und Wellnessbereich? Die Möbel-,
Unterhaltungs- oder die Pflegeindustrie? Wohl kaum. Am stärksten
boomen wird der Immobilienmarkt.

Markus Schneider ist Ökonom und Journalist in Zürich.

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