rst die Arbeit, dann das Vermögen 30.03.2006, Weltwoche

Erst die Arbeit, dann das Vermögen
Kommentar zur Diskussion um die Spitzenlöhne 30.03.2006, Weltwoche
Ich kenne jemanden, der bei einer Grossbank arbeitet und nicht Marcel Ospel heisst. Wie wenig er verdient, weiss ich nicht. Aber wenn ich die gesamte Lohnsumme (ohne Ausbildungskosten, ohne Arbeitgeberbeiträge) der UBS oder der Credit Suisse durch die Anzahl der Vollzeitstellen teile, erhalte ich ein durchschnittliches Einkommen von 250000 Franken. So viel verdient mein Bekannter nicht.Ich kenne einen Junior, der Tennis spielt und nicht Roger Federer heisst. Selbst wenn er hart trainiert, selbst wenn er es einmal bis nach Wimbledon schaffen sollte, so wird er dort kaum 27000 Pfund abholen. So viel beträgt im Schnitt das Preisgeld aller 128 Teilnehmer. Aber von diesen 128 Teilnehmern verdienen gerade 16 durchschnittlich, die grosse Masse von 96 Teilnehmern hingegen viel weniger; und nur 16 einzelne Figuren, die Achtelfinalisten, schwingen obenaus und erhalten zusammen mehr als die Hälfte der Preissumme. «The winner takes it all, the loser’s standing small», sangen die schwedischen Abba.Im Geschäftsleben haben wir es besser. Die hohen Durchschnittssaläre, wie sie heute üblich sind, deuten darauf hin, dass nicht nur Vereinzelte blendend verdienen. Zwar sagt uns kein Bankier, wie viele von seinesgleichen wie viel verdienen; die Angabe zur statistischen Verteilung der Löhne gehört offenbar zum Berufsgeheimnis. Aber ich gehe davon aus, dass die Ungleichheit der Banklöhne kaum grösser sein kann als im Tenniszirkus; alles andere wäre dann doch extrem. Demnach dürften mindestens 12,5 Prozent der «Teilnehmer», die bei den Grossbanken «Angestellte» genannt werden, überdurchschnittlich verdienen. Womit die UBS und die Credit Suisse weltweit mindestens 16000 Personen im Dienst haben, deren Jahressalär 250000 Franken übersteigt. Eine schöne Masse an Spitzenverdienern.So wie Wimbledon ein spezieller Rasen ist, so bespielen auch die Finanzkonzerne ein spezielles Feld: das Investmentbanking. Hier beschäftigen Credit Suisse und UBS fast 35000 Mitarbeiter, welche – kräftig durchatmen, liebe Leserin, lieber Leser –, welche im Schnitt eine runde halbe Million im Jahr verdienen. Wenn wir erneut davon ausgehen, dass die Verteilung dieser Bestlöhne kaum ungleicher ausfallen kann als im Tenniszirkus, so müssen UBS und Credit Suisse im globalen Investmentbanking mehr als 4000 Personen beschäftigen, denen sie im Jahr über eine halbe «Kiste» hinüberschieben. Unter diesen «mehr als 4000» gibt es ein Dutzend, die sogar noch mehr abholen als Ospel.

Sind solche Löhne ungerecht? Sicher ist, dass die Ungleichheit noch zunimmt. An der schmalen Spitze, die freilich bedeutend mehr Personen umfasst als die Namen der bekannten Konzernchefs, an dieser sehr schmalen Spitze werden unglaubliche Löhne und noch höhere Boni ausbezahlt, ob bei UBS oder Novartis, Roche oder Swiss Re, Logitech oder Ems-Chemie – es gibt zahlreiche Gelegenheiten, selbst unter Schweizer Flagge. Im Vergleich dazu haben es die Tennis-Cracks eindeutig schwerer, in Wimbledon kann immer nur einer Sieger sein, weshalb auch einleuchtet, warum Rodscher, der die letzten drei Turniere alle gewann, noch mehr verdient als Marcel.

Das Problem an der Linie

Uns, die wir weder Federer noch Ospel heissen, bleibt das Bewusstsein, dass wir alle irgendwie «Teilnehmer» sind. Wir wissen, wir könnten es auch schaffen, sofern wir das nötige Glück hätten und genug Einsatz leisten würden. Und deshalb ist die Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer auch so immun gegen gleichmacherische oder gar klassenkämpferische Rhetorik. Ein richtiger UBS-Angestellter tickt wie ein Tennis-Junior: Er will etwas leisten – und im Fall, dass er erfolgreich ist, dafür honoriert werden. Marcel Ospel ist doch kein Schreckgespenst, sondern einer, der aus bescheidenen Verhältnissen in Kleinbasel stammt und es vom gewöhnlichen Banklehrling bis nach ganz oben geschafft hat. Ein Vorbild.

Die Schweiz ist auf dem Weg zurück, zurück zur Leistungsgesellschaft. Wer will, kann. Logisch, dass es nicht alle schaffen. Offensichtlich, dass die Lohndifferenzen wachsen. Aber deswegen droht der Schweiz noch keine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Die obersten Saläre heben zwar ab, aber nichts ist endgültig oder determiniert, alles fliesst. Einige Leute, die sich in der Masse anstrengen, werden nach oben nachstossen, während andere, die sich oben bequemen, abfallen werden. So funktioniert Wettbewerb, und den dürften sogar Investmentbanker noch zu spüren bekommen.

Das wahre soziale Problem zeigt sich unten – bei der fixen Linie, welche die «Teilnehmer» von den «Nichtteilnehmern» trennt. So wie es die allermeisten Möchtegern-Tennisprofis gar nie an ein Qualifikationsturnier der ATP-Tour schaffen, kommen auch immer mehr Jugendliche nie mehr an eine Lehrstelle bei der UBS oder der Credit Suisse heran: «ungeeignet». Zu viele Leute, wohl mindestens 12,5 Prozent, fallen unten heraus, manche für immer – und völlig unabhängig davon, wie hoch das Preisgeld ist und wie es zwischen den Gewinnern verteilt wird.

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