Entziffert 30.08.2006, Bilanz
Was wäre die Eidgenossenschaft ohne Ausländer? Ein Grund zum Auswandern.__ Hätte es in den USA seit 1950 keine Einwanderung gegeben, gäbe es 15 Prozent weniger Amerikaner. Hätte es bei uns seit 1950 keine Einwanderung gegeben, wären wir sogar 33 Prozent weniger. Damit ist die Schweiz, ähnlich wie Kanada oder Australien, ein klassisches Einwanderungsland. Und das seit 1885. In jenem Jahr kamen zum ersten Mal mehr Ausländer herein, als Schweizer und Ausländer hinausgingen; seither weisen Statistiker einen «Wanderungsüberschuss» aus, seither werden wir «überfremdet» bis heute.Trotzdem: Es gibt uns immer noch. Und: Wären wir immer rein geblieben, wären wir nie so reich geworden. Denn wir haben die Ausländer gebraucht: als Arbeiter. «Die in den Fabriken und Manufakturen, im Strassen- und im Eisenbahnbau investierten Kapitalien verlangten nach mehr Händen, als die Schweizer Bürger bereit und fähig waren, arbeiten zu lassen», schreibt der Soziologe Werner Haug vom Bundesamt für Statistik. Und wir haben die Ausländer sogar verehrt: als Unternehmer. Henri Nestlé war ein Deutscher, Charles Brown ein Engländer, Nicolas G. Hayek ist ein Libanese.Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen, die zum Teil sehr gut ausgebildet waren, zum grösseren Teil nur schlecht. Just das führt immer wieder zu Spannungen. Zum ersten Mal im Juli 1896 im Zürcher «Chreis Cheib» mit einem «Italienerkrawall». Was passte den randalierenden Schweizern an jenen Immigranten nicht? «Das lärmende Benehmen, ihr provokatives Auftreten, die Angriffe auf Sittlichkeit und Sicherheit und so weiter haben die Bevölkerung zu einem wahren Ingrimm gegen die Italiener angestachelt», stand in der Zeitung.
Was wären wir ohne Immigranten? Weniger, älter, ärmer. Von 1950 aus gesehen, hat wie gesagt ein Drittel der Bevölkerung «einen Migrationshintergrund», wie es im Jargon der Soziologen heisst. Dieser hohe Anteil kommt natürlich davon, dass Immigranten mehr Kinder auf die Welt stellten und weiterhin stellen. Eine Einwohnerin mit ausländischem Pass bringt immerhin 1,87 Kinder zur Welt, eine Frau mit Schweizer Pass gerade noch 1,27.
Jede moderne Volkswirtschaft aber braucht neue, junge, engagierte Köpfe. Zum Glück kamen so viele Ausländer, deren Kinder, sobald sie einmal integriert waren, hungrig sind hungriger jedenfalls als die vielen jungen Schweizer. Das zeigt sich nicht nur im Sport (Martina Hingisova, Schweizer Fussball-Nati), sondern auch an den Universitäten, unter den Hightech-Gründern oder Modeschöpfern. Soziologen an der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern haben die Volkszählung 2000 ausgewertet und dabei eine besondere Secondo-Mentalität bei den 17-Jährigen ausgemacht: Die Eingebürgerten mit einem Schweizer Pass sind am ehrgeizigsten und am erfolgreichsten. 32 Prozent von ihnen schaffen es ins Gymnasium, von den «gebürtigen» Schweizerinnen und Schweizern nur 26 Prozent.
Inzwischen betreibt die Schweiz sogar eine richtige Selektion. Früher haben wir mit dem Saisonnier-Statut gezielt die Unqualifizierten angelockt, denen wir auch noch besonders wenige Rechte zugestanden hatten; es war wohl weniger klug, ausgerechnet die weniger Klugen hineinströmen zu lassen. Nun dürfen aus der EU alle einwandern; und bei den andern Volksgruppen wählen wir wie Australien oder Kanada die am besten Ausgebildeten aus. Ökonomen sprechen von einem «War for Talents», einem globalen Krieg um Talente, bei dem die Schweiz vorn mithält. Unser Land gilt als dynamisch, internationale Konzerne verlegen ihre Zentralen hierher, die Wirtschaft wächst, die besten Leute kommen zu uns.
Wer möchte schon tauschen? Eine Gesellschaft, die immer älter wird, sich abkapselt, sich nicht erneuert, ist nicht attraktiv. Deren Jugendliche, vor allem die besser ausgebildeten, wandern aus dorthin, wo die Perspektiven besser sind. Zum Glück auch in die Schweiz.