Idée Suisse Leseprobe

Idée suisse
1. Die Idee
2. Wie ein Tinguely-Brunnen
3. Eine kleine Theorie der Sozialversicherungen

1. Die Idee

«Als ich ein Bub war, habe ich ein Telefonbuch in die Hand genommen und mir vorgestellt, dass jeder Teilnehmer einen Franken gibt. Dann könnten alle zusammen etwas auf die Beine stellen, was sonst nur in der Reichweite von Finanzmoguln ist. Wir hätten es in der Hand, die Inhalte, die Qualität, den Preis zu gestalten. Es wäre ein Teil Unabhängigkeit, und jeder, der zahlt, ob reich oder arm, dürfte Leistungen beanspruchen.» Aus dem kleinen Peter wurde Schellenberg, der als langjähriger Programmdirektor des Schweizer Fernsehens seinen Bubentraum in die Tat umsetzen durfte: Fernsehen für alle. «Ob ein Publikum Schlager oder Philosophie mag, es hat ein Recht, mit dem gleichen Respekt bedient zu werden», schrieb Schellenberg zum fünfzigsten Geburtstag des Fernsehens. «Das ist für mich das Service-public-Modell.»

Was der frühere Fernsehdirektor mit dem Begriff «Service public» gemeint hat, weiss bald jedes Schulkind, sogar in der Deutschschweiz. «Ziel ist eine Grundversorgung mit einem Gut, das allen Menschen einer Gesellschaft zu einem erschwinglichen Preis zur Verfügung stehen sollte: Strom, Wasser, öffentliche Verkehrsmittel, Post, Strassen, Spitäler und eben auch Radio/Fernsehen – unabhängig von den Launen und Zwängen des Marktes, von Spekulanten oder Moguln.»

Inzwischen kursiert ein noch besserer Slogan, der ursprünglich ebenfalls französisch ist, aber auch auf Deutsch alle richtigen Assoziationen weckt: Idée suisse. Da schwingt «Solidarität» mit, aber sie schwingt nur mit, ohne dass dieses abgegriffene Wort erwähnt werden müsste. Weiter tönt Idée suisse nach «Gerechtigkeit», die man als «ausgleichende», als «soziale» oder wie auch immer verstehen darf. Ferner klingt «Umverteilung» an, ein altbackener Begriff, den heute niemand mehr hören will, auch wenn er am Platz ist. Und dann natürlich «Zusammenhalt», gemeint als «nationaler Zusammenhalt»: Das ist die zentrale Botschaft der Idée suisse, die auf Französisch elegant daherkommt.

Bekannt durch Funk und Fernsehen, hat sich Idée suisse in den Köpfen der Zuschauerinnen und Zuhörer verselbständigt. Eine Nation, die sich selber bis zum Überdruss als «Willensnation» designiert, sieht sich zusammengehalten von der Idee, dass es einen Ausgleich geben soll zwischen Reich und Arm, Jung und Alt, Berg und Tal, Stadt und Land, Gesund und Krank, Klug und Dumm, Frau und Mann, Deutsch und Welsch, Tessinisch und Romanisch. «Unsere Fahne», sprach Bundespräsident Joseph Deiss zum 1. August 2004, «steht für solidarisches Zusammenleben, für Rücksichten auf Minderheiten und für den sozialen Ausgleich.»

Gleichzeitig ist Idée suisse offizieller Bestandteil des Schriftlogos der SRG und damit einer Institution zugehörig, die das Volk – wie in Peter Schellenbergs Bubentraum – flächendeckend, reichhaltig, umfassend versorgt. Sieben Fernseh- und achtzehn Radiosender werden produziert, ein extremer Service public für ein so winziges Land. Bereits der Personalbestand deutet darauf hin, dass es sich bei der SRG SSR idée suisse nicht um ein übliches Unternehmen handelt, das sich nach den Gesetzen des Marktes richten muss. Die oberste Sorge gilt dem Ausgleich, diesmal dem Ausgleich zwischen den Sprachregionen.

Das zeigt sich schon bei der Stellen-Zuteilung:

– Bei der Société de radio-télévision suisse romande sind es 1542,

– bei der Deutschschweizer Radio- und Fernsehgesellschaft 1461,

– bei der Società cooperativa per la radiotelevisione nella Svizzera italiana 1025,

– und bei der Cuminanza rumantscha radio e televisiun sind es 92.

Plastisch schlägt sich diese Politik in der Erwerbsstatistik des Kantons Tessin nieder. Dort ist die SRG SSR idée suisse der drittgrösste Arbeitgeber überhaupt. Auf jeden einzelnen Zahnarzt im Tessin kommen fünf Radio- und TV-Journalisten. Man stelle sich vor: Jederzeit ist ein Tessiner dabei, für 305 andere Tessiner – Säuglinge und Greise eingerechnet – Radioprogramme oder TV-Sendungen herzustellen. So etwas ist einzigartig auf dem Planeten Erde, nirgendwo sonst kommt es zu einer derart intimen elektronischen Medienversorgung, nicht einmal im romanischsprachigen Teil des Kantons Graubünden.

Erstaunlich, aber bezeichnend ist, dass diese Tessiner Medienförderung völlig unbestritten bleibt. Selbst die Deutschschweizer, von den Welschen als «Totos» betitelt, geben sich nonchalant. Es scheint sogar egal zu sein, dass die Tessinerinnen und Tessiner in ihrer überwiegenden Mehrheit gar nicht das einheimisch geförderte Schaffen verfolgen, sondern zu 63 Prozent lieber ausländische TV-Programme glotzen, was übrigens dem landesüblichen Mass entspricht. Die SRG zielt eben nicht darauf, möglichst viele Kunden zu erreichen, sonst würde sie das Tessin links liegen lassen. Nein, sie will das ganze Land mit einem parallelen Teppich von Angeboten überziehen. «Die französisch-, italienisch- und die rätoromanischsprachigen Landesteile erhalten von den Gesamteinnahmen der SRG SSR idée suisse einen überproportional grossen Teil der Mittel, damit dort ähnlich viele Sendungen produziert und empfangen werden können wie in der Deutschschweiz», heisst es im Unternehmensporträt.

In Zahlen:

– Die 4 Prozent Tessiner bekommen 23 Prozent der SRG-Gelder,

– die 24 Prozent Welschen 32 Prozent,

– und die 72 Prozent Deutschschweizer müssen sich mit 45 Prozent der SRG-Gelder begnügen, wobei das halbe Prozent der Rätoromanisch Sprechenden eine derart kleine Minderheit stellt, dass sie in dieser Darstellung, die von der SRG SSR idée suisse stammt, offiziell unter der Kategorie «Deutschschweizer» laufen.

Neben der SRG privilegiert die Kulturstiftung Pro Helvetia die Sprachminoritäten, wenn auch in geringerem Ausmass. Hier wird der Bund zusätzlich aktiv, indem er Extramillionen zur «Förderung von Kultur und Sprache» ins Tessin und nach Graubünden lenkt. Mit dem Resultat, dass ein Lyriker, der auf Rätoromanisch schreibt, im Vergleich zu einem Deutschschweizer fünfzehn bis zwanzig Mal höhere Chancen hat auf eine staatliche Unterstützung. Förderungswürdig wird hierzulande, wer das richtige Idiom spricht, nämlich dasjenige, das vom Aussterben bedroht ist. «Die vierte, die rätoromanische Schweiz gibt es nur noch literarisch», spottete Friedrich Dürrenmatt.

Doch das ist Idée suisse, wie sie lebt. Völlig unbestritten, allseits akzeptiert. Wenn jemand ernsthaft Einspruch erhebt, dann sicher nicht die Majorität, die sich mit guten Gründen benachteiligt fühlen könnte, sondern eine andere Minderheit, die auf «gleiche Rechte» pocht. Das ist ein erfolgversprechendes Mittel, um Subventionen zu ergattern.

Prompt designiert sich fast die ganze Kulturszene, vom Film bis zum Tanz, als Minderheitsprogramm. Dieselbe Mentalität macht sich neuerdings in der Fernsehlandschaft breit. Angesichts der Tatsache, dass die Schweizerinnen und Schweizer so viel Geld für ihre SRG SSR idée suisse übrig haben, möchten sogar die kommerziellen Veranstalter ein Stück dieses Kuchens für sich abschneiden. Das Klagen der Privaten fand Gehör. Inzwischen hat der Nationalrat im Rahmen des neuen Bundesgesetzes über Radio und Fernsehen (RTVG) beschlossen, dass maximal vier Prozent der Gebühreneinnahmen neu den kommerziellen Anbietern zufliessen sollen. Ein typisch schweizerischer Kompromiss: Für die Privaten bedeutet diese minimale Subvention zu viel zum Sterben, zu wenig zum Leben – während die SRG ihr Monopol, ohne das eine Idée suisse nicht vorstellbar wäre, in die Zukunft rettet.

Alle im Inland wohnenden Zuschauer, ob arm oder reich, zahlen, wie in der Vision des Buben Schellenberg, die gleich hohe Radio- und TV-Empfangsgebühr. Zwangsweise. Insofern ist die Finanzierung der nationalen TV- und Radioprogrammvielfalt ebenso «unsozial» wie die Prämien der Krankenkassen; Pro-Kopf-Steuern werden gewöhnlich von links bekämpft. Analog zu den Krankenkassen kommt es denn auch zu einer sozialen Abfederung. Personen, die eine Ergänzungsleistung der AHV oder der IV beziehen, werden auf ein schriftliches Gesuch hin von den Radio- und TV-Gebühren befreit. Auch das ist typisch schweizerisch: Wer bedürftig ist, muss sich melden, den Geldmangel nachweisen, dann hilft der Staat. Genau gleich funktioniert die Sozialhilfe: Man muss auf das Amt, das Amt ermittelt, ob man das Existenzminimum erreicht, und bei diesen Kalkulationen fliessen die Radio- und TV-Gebühren stillschweigend mit ein.

Dass die Schweizer Radio- und TV-Gebühren die höchsten der Welt sind, ist mit Sicht auf die hiesige Programmvielfalt kein Wunder. Dies ist der Preis der Schweiz; man kann die Kosten des nationalen Zusammenhalts auch auf jeder Briefmarke, jedem SBB-Billett, jeder Milchtüte oder via Stromrechnung ablesen. Es überrascht überdies kaum, dass die SRG ihre Mittel zur sprachregionalen Umverteilung laufend steigern möchte; dasselbe versuchen die andern Anbieter des Service public auch.

Idée suisse: Das ist heute eine landesweit bekannte Metapher, bei der vom «nationalen Zusammenhalt» über «Solidarität» bis zur «Umverteilung» vieles mitklingt, was typisch schweizerisch ist. Dabei ist diese Marke soeben erst eingeführt worden, und zwar auf Wunsch ihres Generaldirektors Armin Walpen, als Mitglied der CVP Oberwallis eine perfekte Verkörperung der Idée suisse. Im Jahre 1999 hat die SRG diesen Slogan dann übernommen, ja annektiert.

Ursprünglich kommt die Idee hinter dem Namen Idée suisse ganz anderswoher. «Die Schweiz ist ein Land der komfortablen Mitte ohne Pioniergeist», klagten sieben Privatpersonen, darunter der bekannte Headhunter Bjørn Johansson. Die sieben gründeten, 1981 war’s, den Verein Idée-Suisse. «Wir fördern Mensch, Kreativität, Innovation», lautet ihr Motto. Seither gibt dieser Verein Schriften heraus, er veranstaltet Symposien, und er verleiht jedes Jahr den «Goldenen Ideen-Oskar» für besonders originelle Ideen, die sich vermarkten lassen und kreative Arbeitsplätze schaffen. Gewinner sind private Initiativen wie der Technopark in Zürich oder die Szene-Bierbrauerei Turbinen-Bräu.

Ausnahmsweise wird auch eine Leistung des Service public ausgezeichnet. Und der Zufall will es, dass die SRG, als sie noch nicht den Beinamen Idée suisse führte, einmal den «Oskar» des Vereins Idée-Suisse erhielt. Für eine
Innovationssendung am Radio unter dem Titel «Jetzt oder nie», die damals immer schön viersprachig auf vier verschiedenen Kanälen – und dann plötzlich nie mehr ausgestrahlt wurde.

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2. Wie ein Tinguely-Brunnen:

Die Idee des Sozial- und Umverteilungsstaats ist jünger als der Bundesstaat (1848). Die wehrhaften Eidgenossen waren am Anfang lediglich bereit, die «im Militärdienst Verunglückten oder ihre Angehörigen» durch eine Militärversicherung solidarisch zu schützen (1852). Ansonsten blieb die Schweiz, wie man heute sagen würde, «asozial». Es verstrich viel Zeit bis zur Entstehung der ersten allgemeinen Sozialversicherung, der staatlichen Unfallversicherung Suva (1918). Und es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet das Risiko «Unfall» auserwählt wurde. Ein Unfall ist etwas Schicksalhaftes, kann jedem passieren, ohne eigene Schuld.

Die Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) war, selbst in minimaler Ausgestaltung, zunächst nicht mehrheitsfähig. 1931 scheiterte die Lex Schulthess, benannt nach dem damaligen Bundesrat, der sich mächtig für die Vorlage ins Zeug legte, in einer Volksabstimmung. Erst nach dem Krieg, hundert Jahre nach der Gründung des Bundesstaats, wurde das bis heute wichtigste nationale Sozialwerk geschaffen. Dann ging es Schlag auf Schlag, Sozialwerk für Sozialwerk.

Auf die AHV (1948) folgten die Arbeitslosenversicherung (1952) und die Invalidenversicherung (1960). Die berufliche Vorsorge der Zweiten Säule wurde für obligatorisch erklärt (1985), die steuerlich privilegierte Vorsorge der Dritten Säule für fakultativ (1987). Schliesslich wurde die Krankenversicherung auf wirklich alle Einwohner ausgedehnt (1996) und ein Mutterschaftsurlaub bewilligt (2004). Der innerschweizerische Finanzausgleich zwischen den reichen und den armen Kantonen wurde ebenfalls spät erfunden (1959). Die Regionalpolitik, die den speziell abgelegenen Regionen dienen soll, setzte nachher ein (1974). Das Wort «Service public» geht in der Deutschschweiz seit den neunziger Jahren um.

Der Staat tut immer mehr, gibt immer mehr Geld aus, und das hat – ob gewollt oder ungewollt – einschneidende Auswirkungen auf die Verteilung. Nicht alle Leute profitieren gleich stark, nicht alle Leute zahlen gleich viel, das ist ja gerade der Sinn der Idée suisse. So weit, so klar. Etwas weniger klar wird die Sache, sobald man konkret fragt: Wer profitiert wie stark? Wer zahlt wie viel? Wie sozial – oder allenfalls: wie unsozial – verteilt der Staat das Geld heute um? Welche Ziele werden erreicht? Welche nicht? Was macht Sinn? Was weniger? Was hält die Schweiz zusammen? Zu welchen Kosten, mit welchem Nutzen?

Auf solche Fragen gibt es heute kaum zuverlässige Antworten. Zwar rufen die einen stereotyp nach «weniger Staat!», die andern nach «mehr Staat!». Das sind meist reine Bekenntnisse, ohne viel Substanz, gewürzt mit etwas Ideologie. Was fehlt, ist eine Bilanz über sämtliche Wirkungen der Umverteilung.

Der heutige Sozial- und Umverteilungsstaat entpuppt sich als eine Art Tinguely-Brunnen. Es rattert, es quietscht, es kracht, es pufft, und vor allem spritzt es. Auf unergründlich verschlungenen Wegen strömt und sickert das Flüssige. Fasziniert steht das Publikum davor, schaut zu und lernt dabei: Eine solche Maschine funktioniert; aber sie funktioniert eben nur in der mechanischen Welt. Im realen Umverteilungsstaat spritzt und strömt das Flüssige ebenfalls in sehr viele Richtungen, und das Publikum kommt gleichfalls nicht mit. Welche Person wird wie nass? – Alle ein bisschen, so der erste Eindruck. Und einige richtig.

Das Phantombild des Profiteurs hat folgendes Signalement: Er ist vor 1950 geboren, Akademiker, kinderlos, lebt im Konkubinat, raucht nicht, besitzt entweder ein eigenes Haus, oder er mietet seit ewig das gleiche Appartement, wohnt auf alle Fälle abseits der Stadt, geht aber trotzdem ins Theater oder in die Oper, ist sehr mobil mit der Bahn, aber auch mit dem Auto und dem Flugzeug, ist in einer Pensionskasse bestens versichert, bewirtschaftet ein paar Wiesen, auf denen er nebenbei Schafe züchtet und am Feierabend Rüebli aussät, selbstverständlich streng biologisch, und er ist weiblich.

Mit dem grossen Wort von der «Solidarität» war ursprünglich etwas anderes gemeint: ein Ausgleich zwischen Reich und Arm und in zweiter Linie ein Ausgleich zwischen Krank und Gesund. Schon diese beiden Ziele führen in der Praxis zu Konflikten: Heute werden via AHV und Krankenversicherung alle über 65-Jährigen unterstützt, auch wenn diese – zumindest statistisch – viel reicher sind als die «Jungen», die zur Kasse gebeten werden.

Die klügsten Bauern pflanzen Tabak, obschon sich das Schweizer Klima dafür gar nicht eignet; umgekehrt zahlen die Raucher extra hohe Steuern, was die untersten sozialen Schichten extra belastet. Nicht jeder Walliser oder Urner, der vom interkantonalen Finanzausgleich profitiert, ist ein armer Schlucker. Die Studenten, die heute fast gratis studieren dürfen, kommen meist aus gutem Haus; das Opernpublikum ebenfalls, es wird trotzdem gewaltig subventioniert. Unter den Mietern der staatlich geförderten Stadtwohnungen finden sich auffallend viele Politikerinnen und Politiker.

All das ist nicht neu. Nachzulesen war das schon in einem Buch, das «Sozialstaat unter der Lupe» heisst, herausgegeben von den beiden Ökonomieprofessoren René L. Frey (Universität Basel) und Robert E. Leu (Universität Bern). Auf Seite eins steht:

«Umverteilungsmassnahmen des Staates erreichen ihr Ziel in gewissen Fällen nicht, nur ungenügend oder mit zu grossen gesamtwirtschaftlichen Kosten. Vereinzelt wirken sie sich sogar kontraproduktiv aus, das heisst, sie bewirken eine Umverteilung von Arm zu Reich – statt umgekehrt. Ein Grund ist darin zu suchen, dass viele sozialpolitische Massnahmen in der Bevölkerung breit streuen. Um den tatsächlich hilfebedürftigen Personen zu helfen, ohne diese zu diskriminieren, wird die gesamte Bevölkerung einbezogen. Man spricht in diesem Zusammenhang vom ‹Giesskannenprinzip›.»

Dieses Buch aus dem Jahre 1988 trifft heute wohl stärker zu als damals. Nur scheint sich niemand ernsthaft dafür zu interessieren. Oben wird zwar laufend noch mehr Geld ins System eingegeben, aber wo und wie dieses Geld unten herauskommt, weiss weiterhin niemand. «Bevor man eine Politik erfolgreich verbessern kann, müssen deren Wirkungen bekannt sein», steht im damaligen Buch der Professoren René L. Frey und Robert E. Leu.

In jüngster Zeit sind reihenweise Studien und Bücher publiziert worden, die neue Zweifel an der Zielgenauigkeit wecken:

– «Eine Einkommensumverteilung durch das System der Sozialen Sicherheit als Ganzes ist nicht festzustellen»: Das ist das Fazit einer Nationalfonds-Studie vom Büro Bass, die sich «eine möglichst umfassende Wirkungsanalyse der Finanzflüsse des Systems der Sozialen Sicherheit» zum Ziel gesetzt hat.

– «Eine zweite Beobachtung ist die, dass die Sozialpolitik der Schweiz offensichtlich viel in der Mitte umverteilt, also trotz hohen Ausgaben relativ wenig von den Reichen zu den Armen geleitet wird.» Das schreibt der Basler Ökonomieprofessor Silvio Borner in seinem neuen Buch.

– «Die reichsten zehn Prozent der Haushalte konnten zwischen 1990 und 2001 ihr kurzfristig verfügbares Einkommen erhöhen. Die andern Erwerbs- und Rentnerhaushalte mussten in der Regel mit stagnierenden, ja sogar leicht sinkenden frei verfügbaren Einkommen rechnen.» Das belegt eine Studie des Büros Ecoplan, welche die Eidgenössische Steuerverwaltung in Auftrag gab. Dabei ging es um die Frage, wie sich «die Einkommens- und Vermögensverhältnisse nach Abzug aller Steuern und Abgaben in den letzten zehn Jahren entwickelt haben».

– «Ein Haushalt an der Armutsgrenze oder darunter bekommt netto kaum mehr als einer mit deutlich überdurchschnittlichem Einkommen»: Das ist das Resultat einer weiteren Nationalfonds-Studie des Büro Bass, welche speziell die Familienpolitik untersucht hat.

– «Von den staatlichen Transfers vermag lediglich die AHV die Einkommensungleichheit merklich zu verringern.» Das zeigt eine Studie des Bundesamts für Statistik, die vor vier Jahren erschienen ist.

– «Es resultiert eine überraschend tiefe Steuerbelastung für Haushalte mit hohem Einkommen.» Dieses Faktum fand der Ökonom Frank Bodmer heraus, nachdem er das angeblich progressive Steuersystem näher analysiert hatte, das bei vielen Spitzenverdienern offenbar kaum zulangt. «Höhere Abzugsmöglichkeiten, steuerbefreite Kapitalgewinne, innerschweizerischer Steuerwettbewerb» sind die Stichworte zum Steuersystem.

– «Trotz beachtlichem Mitteleinsatz und dem entsprechenden administrativen Aufwand ist es nicht gelungen, die kantonalen Unterschiede bezüglich der finanziellen Leistungsfähigkeit zu verringern.» Das sagt der Bundesrat, und zwar in einem offiziellen Bericht über die Wirkung des milliardenteuren Finanzausgleichs zwischen den reichen und den armen Kantonen. Drastischer schildert es der Freiburger Professor Henner Kleinewefers: Nach seinem Papier hat der bisher bestehende Finanzausgleich den wirtschaftlich schwachen Regionen nicht nur nichts genützt, sondern «die Zentren in ihrer Entwicklung gebremst».

Alle diese Resultate sind wissenschaftlich belegt. Zwar stammen sie aus Studien, die sich meist auf ein bestimmtes Teilgebiet beschränken und auf Methoden beruhen, die untereinander kaum vergleichbar sind; überdies sind nicht alle Arbeiten leicht lesbar.

Aber der Gesamteindruck ist erschreckend. «Mehr Umverteilung» führt offensichtlich nicht zu «mehr Gleichheit». Diese Aussage wird einige trösten, andere ärgern, aber alle, Linke wie Rechte, müssen einsehen: Ein fetter Staat ist nicht automatisch gerecht. Auch ein schlanker Staat kann sozial sein.

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3. Eine kleine Theorie der Sozialversicherungen

«Es war einmal ein ganz alter Mann. Seine Augen waren trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er nun mit der gesamten Familie bei Tische sass und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er manchmal seine Suppe auf das Tischtuch. Und es floss ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor. Deswegen musste sich der alte Grossvater hinter den Ofen in die Ecke setzen. Sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen und noch dazu so wenig, dass er kaum satt werden konnte. Da sah er betrübt nach dem Tisch der anderen, und seine Augen wurden ihm nass. Als einmal seine zittrigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten konnten, fiel es zur Erde – und zerbrach. Die junge Frau tobte. Der Grossvater sagte aber nichts und seufzte nur. Da kaufte sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller. Daraus musste er nun löffeln.

Während sie nun alle da so sassen, trug der kleine vierjährige Enkel auf der Erde kleine Brettlein zusammen. ‹Was machst du?›, fragte der Vater. ‹Ich mache ein Tröglein›, antwortete das Kind, ‹daraus sollt ihr dann essen, wenn ich einmal gross bin.› Da sahen sich beide eine Weile betroffen an, fingen plötzlich an zu weinen, holten sofort den alten Grossvater an den Tisch und liessen ihn von nun an immer mitessen. Und sie sagten auch nichts, wenn er gelegentlich ein wenig verschüttete.»

Dieses alte Märchen der Brüder Grimm zeigt: Kinder spielen eine entscheidende Rolle, wenn Grosseltern von Eltern gepflegt werden sollen. Nur hat in der heutigen Schweiz eine von fünf Frauen gar kein Kind mehr. In der Stadt Basel lebt bereits hinter jeder zweiten Haustür eine einzige Person. Die Grossfamilie, sie ist Geschichte.

Gerade deswegen aber bleibt die Solidarität zwischen den Generationen aktuell. Die Generation der Aktiven produziert Waren und Dienste, sei es mit bezahlter oder unbezahlter Arbeit, das ist seit je so. Doch tut das die Generation der Aktiven nie für sich allein; einen Teil ihrer Produktion gibt sie immer ab. Tut sie das nicht freiwillig innerhalb der Familie, muss sie dazu gezwungen werden. Anders geht es nicht. In jeder Gesellschaft, wie sie politisch auch organisiert ist, wollen nicht nur diejenigen das Brot essen, die es selber backen oder zumindest mithelfen dabei. Es gibt immer und überall Kranke, Alte, Invalide, Arbeitslose, Kinder, die auf Transfers angewiesen sind, reale oder monetäre.

«Umverteilung», meint der Zürcher SVP-Nationalrat Christoph Mörgeli, «ist letztlich ein gewalttätiger Vorgang, weil privat erwirtschaftetes Eigentum unter Androhung staatlicher Sanktionen beschlagnahmt wird.» Das ist richtig. Nur: Was ist die Alternative?

Ohne Grossfamilie bleiben zwei Lösungen übrig, die auf der gerühmten «Eigenverantwortung» basieren: individuelles Sparen und private Versicherungen. Die Erwerbstätigen verzichten während ihrer aktiven Zeit auf etwas Konsum, legen Geld zurück, selbständig, und hoffen auf eine Erbschaft. Diese Privatvorsorge ist umso wichtiger, je älter die Menschen – und je reicher die Alten werden.

Niemals aber kann Selbstvorsorge allein genügen. Will die Schweiz eine soziale Schweiz bleiben, ist ein gewisses Mass an staatlicher Umverteilung nötig. Nicht nur der Reichtum ist ungleich verteilt, auch das Risiko. Es gibt Leute, die «zu früh» invalid werden, während andere «zu spät» sterben. Besonders krass zeigt sich dieses Problem bei den Krankenkassen: Gäbe es nur den freien Markt und nur die privaten Versicherungen, müsste eine 90-jährige Frau theoretisch eine siebzehnmal höhere Prämie für die Krankenkasse zahlen als ein 25-jähriger Mann. Das aber ist den 90-jährigen Frauen kaum zuzumuten.

Hinzu kommt, dass Krankenkassen in einem völlig freien Markt ihre Kunden frei auswählen und knallhart selektionieren dürften – etwa so, wie wir das von der Autohaftpficht kennen. Schweizer zahlen weniger als Ex-Jugoslawen, Frauen weniger als Männer, Erwachsene weniger als Jugendliche, wobei das wichtigste Kriterium das individuelle Verhalten ist: Wer ein paar Jahre unfallfrei bleibt, fährt dreimal billiger.

Auch die Krankenkassen könnten, wären sie frei, ihre Kunden fix einteilen, denn sie verfügen über alle nötigen Daten. «Eine Person, welche im Vorjahr im Spital war, hat in der Regel mehr als doppelt so hohe Kosten im darauf folgenden Jahr, verglichen mit einem Versicherten, der nicht hospitalisiert war», weiss Konstantin Beck, Statistiker bei der Krankenkasse CSS. Noch unangenehmer würde es für Kranke, die in die Kategorie der «teuersten zehn Prozent» rutschen, denn sie verursachen in einer Krankenkasse gut 60 Prozent der Kosten. Und der Extremfall: «Das teuerste Prozent der Versicherten mit Leistungen über 30000 Franken im Jahr verursacht rund 23 Prozent der gesamten Leistungen», schreibt Konstantin Beck in seinem neuen Buch.

Also greift der Staat lenkend ein, indem er zwei Regeln setzt: Erstens muss jede Kasse jede Person aufnehmen, und zweitens zahlt jede Person die gleiche Prämie. Das sind zwei simple Grundsätze, welche alle Chronischkranken, HIV-Positiven, Menschen mit einem Herzfehler schützen – und die Solidarität zwischen «Gesunden» und «Kranken» garantieren.

Nebenbei führen diese beiden Prinzipien zu mindestens drei andern Umverteilungsströmen:

– Junge zahlen gleich viel wie Alte,

– Männer gleich viel wie Frauen,

– der Mittelstand gleich viel wie die «Reichen», während das ärmere Drittel der Bevölkerung subventioniert wird.

Doch Mass und Richtung der staatlichen Umverteilung in den Sozialversicherungen hängen immer davon ab, wie «frei» die Prämien sind. Das ist von Sozialwerk zu Sozialwerk verschieden, generelle Aussagen sind daher schwierig. Klar ist jedoch das Prinzip: Sind Prämien wie bei den Krankenkassen fix für alle, entfalten sich die Solidaritäten vielschichtig. Werden die Prämien hingegen, wie es im Jargon heisst, «risikogerecht» abgestuft, tendiert die Solidarität gegen null.

Auf dem Bau zum Beispiel meldet statistisch jeder fünfte Vollzeitbeschäftigte jedes Jahr einen Unfall an, in Banken oder Immobiliengesellschaften nur jeder hundertste. Weil das Risiko auf dem Bau zwanzigmal höher ist als im Büro, ist die Prämie auf dem Bau ebenfalls zwanzigmal höher als im Büro – denn die Unfallversicherungen dürfen ihre Prämien je nach Branche abstufen.

«Solidarität» ist im Einzelfall eine komplizierte Angelegenheit. Manches ist zufällig, anderes beabsichtigt. In der staatlichen Unfallversicherung gibt es wenig, in der staatlichen Arbeitslosenversicherung viel Umverteilung. Hier zahlen alle gleich viele Lohnprozente, also profitieren zum Beispiel Ausländer, die im Vergleich zu Schweizern das doppelte Risiko haben, arbeitslos zu werden.

Noch grösser ist die Umverteilung zugunsten einzelner Branchen: Im Gastgewerbe ist das Risiko, arbeitslos zu werden, zwanzigmal höher als in der Forstwirtschaft; trotzdem zahlen alle gleich viel. Dasselbe in der Invalidenversicherung (IV): Auch hier blechen Kühllagerarbeiter und Journalisten gleich viel, obschon die Ersteren, wäre die IV eine private Anstalt, schätzungsweise fünfzehnmal höhere Prämien entrichten müssten. Vor allem kommt es via IV zu einer verdeckten Umverteilung nach dem Alter, indem die jüngsten Aktiven gleich viel einzahlen müssen, obschon das Invaliditätsrisiko erst ab fünfzig steil ansteigt.

So variiert das Ziel der Umverteilung von Sozialwerk zu Sozialwerk. Meistens geht es um den Ausgleich zwischen Gesund und Krank, Jung und Alt, Mann und Frau – und selten um die Solidarität zwischen Reich und Arm. Nur via AHV und IV läuft ein erheblicher Transfer von oben nach unten, da jede Person auf ihrem vollen Lohn die Prämie bezahlen muss, obschon auch die Einkommensstärksten nie mehr als eine Maximalrente in Höhe von 2150 Franken im Monat beziehen werden. Ganz anders in der Arbeitslosen- und der Unfallversicherung: Hier werden die Löhne nur bis zu einer oberen Grenze von 106000 Franken jährlich versichert. Damit werden die Spitzeneinkommen auf ihren Spitzenlöhnen von den Sozialabgaben befreit – sie müssen nicht solidarisch mitzahlen.

All das führt zu einem klaren Resultat: Zwar wachsen die Sozialversicherungen ständig, zwar verteilen sie immer mehr Geld um, aber etwas schaffen sie nie – sie werden die Armut nie wegbringen. Eine Umverteilung von Reich zu Arm ist ausserhalb der AHV und der IV in keiner einzigen Sozialversicherung vorgesehen. Hinzu kommt, dass die Leute «ganz unten», das heisst die wirklich Bedürftigen, in den meisten Fällen nicht (mehr) erwerbstätig – und damit auch nicht (mehr) versichert sind. Also brauchen diese Leute weiterhin eine Extrahilfe, die nicht etwa von Prämienzahlern, sondern direkt aus dem Staatshaushalt finanziert wird.

Das beginnt bei den Subventionen der Krankenkassenprämien, die in Basel-Stadt bereits 4,5 Prozent aller Steuereinnahmen beanspruchen, geht über zu den Ergänzungsleistungen zur AHV und zur IV und endet bei der klassischen Fürsorge.

Das Märchen der Brüder Grimm präsentiert sich in der Schweiz heute so: Knapp 4 Millionen Erwerbstätige stehen etwa 3,6 Millionen «anderen» gegenüber. Zur Kategorie der «anderen» zählen:

Kinder und Jugendliche bis 19 Jahre 1 650 000
Über 65-Jährige 1 150 000
Invalide 300 000
Fürsorgeempfänger 300 000

Arbeitslose 150 000
Als Bauern getarnte «Staatsrentner» 60 000

Das ist der Stand heute. In der Zukunft ist vieles unsicher, aber zumindest etwas ist klar: Der Anteil der über 65-Jährigen wird steigen, massiv. Bis ins Jahr 2030 um etwa 600000 Personen. Und wenn nicht alles täuscht, steigt zusätzlich auch die Zahl der Invaliden und der Fürsorgefälle.

Umgekehrt ist der Trend bei den Erwerbstätigen: Diese Zahl wird sinken, wobei diese Prognose etwas unsicherer ist, weil sie von der Einwanderung abhängt. Bleibt die Schweiz aber ein einigermassen offenes Land, wie es das Szenario Trend des Bundesamts für Statistik vorsieht, wird die Zahl bei den 20- bis 64-Jährigen bis 2030 lediglich um etwa 280000 Personen schrumpfen.

Doch der Saldo wird negativ sein. Die Kategorie der Erwerbstätigen nimmt ab, die Kategorie der «anderen» zu, und diese «anderen» werden die Erwerbstätigen sogar überholen, noch vor dem Jahr 2020. Das Mass der Umverteilung wird in Zukunft nicht sinken, es wird zunehmen.

Markus Schneider: Idée suisse – Was das Land zusammenhält und wer dafür bezahlt. Weltwoche. 160 S., broschiert, Fr. 39.–-

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