Aargauer Zeitung, 13.12.2004, von Christoph BoppMarkus Schneider, täuscht der Eindruck, oder ist das «Idée suisse»-Buch etwas moderater und milder im Ton als das «Weissbuch 2004»?Markus Schneider: Das mag sein. Ein Weissbuch schreibt man mit einer Absicht, zu provozieren. Es soll mindestens eine Debatte über einen Missstand anregen.
Und das «Idée suisse»-Buch nicht?
Schneider: Doch. Aber das Klima scheint mir heute ziemlich vergiftet: Die einen drohen mit Sozialabbau, die andern fürchten sich davor. Ich bin überzeugt, dass uns diese Art der Diskussion nicht weiterhilft. Darum habe ich dieses Mal einen neutralen, ja sogar positiven Titel gewählt.
Sie haben ja das Wort «Sozialstaat» im Titel tunlichst vermieden. Weil es polarisiert?
Schneider: Das zweite Buch hat den Untertitel «Was das Land zusammenhält . . .»
«. . . und wer dafür bezahlt.»
Schneider: Richtig. Ich stellte mir die Frage, was der nationale Zusammenhalt kostet. Was fliesst da alles für Geld? Wer profitiert? Wer bezahlt?
Eine Kostenfluss-Analyse des Sozialstaats?
Schneider: Der Sozialstaat Schweiz kommt mir vor wie ein Tinguely-Brunnen. Überall spritzts und fliessts, einige werden etwas mehr nass, andere etwas weniger – aber richtig durchschaubar ist das Ganze nicht.
Eine andere gern benützte Metapher ist die Giesskanne . . .
Schneider: Als ich begann, das Buch zu schreiben, dachte ich, es sei ganz einfach. Wir müssen diese Umverteilung nur etwas gezielter gestalten, dann wird das System effizienter. Je länger ich daran arbeitete, desto mehr wurde ich mir der Schwierigkeiten bewusst. Was heisst «zielgerichtet»?
Es dürfen dann eben nur diejenigen Sozialleistungen kriegen, die sie auch wirklich brauchen.
Schneider: Dafür braucht es Kriterien. Wer hat Anrecht auf Leistungen, wer nicht? Nötig sind immer irgendwelche Einkommens- und Vermögensgrenzen. Nur wer darunter liegt, soll etwas bekommen. Bei der Sozialhilfe erstellt man für jeden Einzelfall ein Budget und rechnet individuell aus, ob sich eine Lücke ergibt oder nicht. Dasselbe bei den Ergänzungsleistungen. Nun gibt es inzwischen sehr viele Transferleistungen, die sich an Einkommens- und Vermögensgrenzen richten. Doch der Staat kann nicht für jeden Einzelfall das Budget berechnen, nur weil er die Krankenkasse subventionieren will, die Alimente bevorschussen oder ein Stipendium gewähren will. Darum orientiert man sich an den Steuerwerten, welche leider nicht viel aussagen. Findige reiche Leute haben null Einkommen, null Vermögen – und hätten damit Anrecht auf Subvention.
Das System ist zu kompliziert, um gerecht zu sein.
Schneider: Ja, und es werden laufend neue solcher Einkommens- und Vermögensgrenzen eingeführt. Pascal Couchepin zum Beispiel will jetzt sogar das Rentenalter vom Einkommen abhängig machen. Das ist alles gut gemeint, führt in der Summe aber zu ungewollten Effekten.
Zu welchen denn?
Schneider: Die Leute orientieren sich nach unten statt nach oben. Alle schauen darauf, dass sie unter keinen Umständen zu viel verdienen, damit sie keine Subventionen verlieren: Ja nicht mehr als 70 000 Franken verdienen, sonst zahle ich zu viel für die Kinderkrippe. Ja nicht mehr als 60 000 Franken verdienen, sonst bekomme ich die AHV erst ab 67. Ja nicht mehr als 50 000 Franken verdienen, sonst bekomme ich keine Alimentenbevorschussung.
Also her mit der Giesskanne!
Schneider: Was heisst Giesskanne? Gemäss meinem Verständnis bekommt bei einer Giesskanne jedes einzelne Gras gleich viel Wasser. Vergleicht man dieses Bild mit dem heutigen Sozialstaaat, wirds himmeltraurig: Gerade die Ärmsten, die es wirklich nötig hätten, bekommen am wenigsten.
Ein Beispiel, bitte.
Schneider: Nehmen wir die Kinderzulagen. Alleinerziehende Mütter haben oft keinen Job oder nur einen Teilzeit-Job. Die bekommen dann nichts oder eben nur 50 Prozent davon. Viele Transfers im Familienbereich verlaufen so: Je mehr die Eltern verdienen, umso stärker profitieren sie, etwa von Steuerabzügen. Ich denke, hier gäbs ein Prinzip, das einfacher – und zugleich gerechter wäre: Alle bekommen in Franken gleich viel, aber nicht alle müssen in Franken gleich viel einzahlen. Wenn man den ganzen Sozialstaat wie eine richtige Giesskanne organisiert, kommt es zu einer Umverteilung von Reich zu Arm. Dann stimmt wenigstens die Richtung, was bei vielen heutigen Sys-temen leider nicht der Fall ist.
Warum hat eigentlich die «Einfachheit» keine politische Lobby? Warum denken wir immer, dass nur komplizierte Systeme «gerecht» sein können?
Schneider: Das liegt am politischen Prozess. Politiker vertreten ihre Wähler, das heisst, sie versuchen für die Interessen ihrer Wähler möglichst viele Sonderrechte herauszuholen. Jedes Grüpplein bekommt eine Sonderregelung.
Die Politiker sollte man bei der Sozialpolitik draussen behalten?
Schneider: (Lacht) Im Einzelnen haben sie meist gute Absichten. Mit jeder zusätzlichen Massnahme wird das System aber komplizierter, und am Ende verlieren dann sogar die Politiker die Übersicht. Inzwischen ist es fast unmöglich, die Wirkungen der Verteilung zu überprüfen.
Wie müsste man dann politisch vorgehen?
Schneider: In der direkten Demokratie gewinnt, wer das bessere Argument besser vorträgt. Und die besseren Argumente bekommen wir aus einer möglichst sauberen Analyse. Darum schreibe ich Bücher: um aufzuzeigen, wie das System funktioniert – oder eben nicht funktioniert. Erst in einem zweiten Schritt können wir dann über allfällige Lösungen streiten.
Das scheint mir eigentlich selbstverständlich . . .
Schneider: Es gibt da schon ein Problem: In der Politik wird fast alles, wofür Geld ausgegeben wird, mit sozialen Gründen gerechtfertigt. Zum Teil geschieht das offen, zum Teil weniger offen. Nehmen Sie die Subventionierung des öffentlichen Verkehrs. Das sind gigantische Summen, von denen dann einfach alle profitieren, die in einem Zug, einem Bus oder einem Tram sitzen.
Also dürfen nur noch die Reichen im Zug fahren?
Schneider: Nein. Aber der soziale Ausgleich soll in der Sozialpolitik stattfinden. Die Bürger sollen wissen, was der soziale Ausgleich kostet; und ich glaube, sie sind auch bereit, dafür zu zahlen. Aber es genügt, wenn die Sozialpolitik sozial ist, dann muss die übrige Politik nicht auch noch sozial sein.
Also keine Subventionen mehr? Dann würde der Staat ja auf sehr viel Gestaltungsmacht verzichten müssen.
Schneider: Das beste Beispiel ist die Wohnungspolitik. Hier gefällt sich der Staat als Bauherr, oder er subventioniert Genossenschaften. Das tönt gut. Nur: Wer sind die Nutzniesser? Diejenigen, die in den billigen Wohnungen sitzen. Das sind nicht unbedingt die sozial Schwachen und schon gar nicht die Ausländer. Die meisten Wohnungen gehen unter der Hand weg. Wer bei diesem Zirkel nicht dazugehört, bekommt keine verbilligte Wohnung. Das ist nicht sozial.
Sozial wäre?
Schneider: Wenn der Staat den wirklich Bedürftigen die Miete subventionieren würde. Das tut er heute schon, denn ein Grossteil der Fürsorgegelder und Ergänzungsleistungen werden dazu verwendet, dass sich die Armen eine Wohnung leisten können. Bis hierher macht das Sinn, aber eben nur bis hierher.
Also weniger Staat?
Schneider: Ja. Aber «weniger Staat» ist nicht gleichbedeutend mit «weniger sozial». Ich plädiere für einen schlanken Staat, der seine Mittel möglichst effizient einsetzt. Wir sollten «den Reichen» so wenig Geld wie nötig abnehmen – und im Gegenzug dafür sorgen, dass dieses Geld so gut wie möglich bei den «Armen» ankommt. Soziale Umverteilung ist enorm wichtig, es braucht sie. Aber sie soll vernünftig geschehen.
Vernünftig würde heissen «transparent»?
Schneider: Ohne Transparenz kann gar niemand die Wirkungen kontrollieren, sie sollte ganz am Anfang der Debatte stehen. Die Subventionierung des Verkehrs zum Beispiel läuft auf eine Verbilligung des Verkehrs hinaus. Die Folgen davon sind mehr Verkehr, mehr Mobilität, mehr Lärm. Am Schluss klagen wir über die Zersiedelung der Landschaft, die Zerstörung der Umwelt und so weiter.
Gibt es überhaupt ein «einfaches Sys-tem»? Reden Sie nicht von einer Utopie, einer reinen Möglichkeit?
Schneider: Die Systeme können nicht ewig so weiterlaufen, wie sie jetzt laufen. Wir können nicht immer noch mehr Geld in die Umverteilungskreisläufe hineinpumpen. Die Ausgaben der IV können sich nicht alle sieben Jahre verdoppeln – während gleichzeitig die Bauern und der öffentliche Verkehr immer neue Forderungen stellen.
Ist das nicht der alte Slogan: «Stoppt den Staat, er ist zu teuer!»
Schneider: Alle Trends laufen in die gleiche Richtung. Unsere Gesellschaft wird älter, damit steigen auch die Gesundheitskosten, das führt zu mehr Umverteilung. Wenn es den Politikern nicht gelingt, beim Sozialstaat zu sparen, müssen sie an andern Orten sparen – anders geht es nicht.
Wieder die Politik. Wir haben zu viel direkte Demokratie.
Schneider: Das würde ich nicht sagen. Ich habe das Gefühl, dass das Volk bei den Abstimmungen sogar sparsamer ist als die Politiker in Parlamenten oder Regierungen. Im Moment leben wir auf Pump. Wir machen Schulden. Das finde ich eine besonders hinterhältige Art der Umverteilung: Von den kommenden Generationen zu uns.
Was können wir konkret tun?
Schneider: Wir müssen endlich Prioritäten setzen. Und zwar so, dass auch unsere Nachfahren damit leben können.
Bleibt dann da nicht die soziale Gerechtigkeit auf der Strecke?
Schneider: Nein. Aber man muss die Prioritäten offen auf den Tisch legen. Erstens muss der Staat die Armut und die Not lindern. Zweitens sollen alle Menschen möglichst gleiche Startchancen haben. Es darf doch nicht sein, dass – laut den neuesten Pisa-Ergebnissen – rund 15 Prozent der Schüler zur Kategorie «Niveau 1 und darunter» gehören. Diese Schüler können kaum lesen, kaum rechnen und haben null Chance auf eine Lehre. Es bleibt ihnen ein Billig-Job, aber in der Schweiz gibts kaum Billigjobs. Also landen sie bei der Fürsorge. Hier müssen wir die Prioritäten anders setzen, dringend. Noch geben wir für drei Kühe gleich viel Geld aus wie für die Ausbildung eines Primarschülers, das ist absurd. Und drittens soll der Staat soziale Sicherheit garantieren, gemäss einem Standard, der für alle gilt. Hier muss man ein Minimum definieren, wobei das nicht immer minimale Leistungen heisst.
Also wird es immer noch Almosen- und Fürsorgeempfänger geben?
Schneider: Das System muss intelligent sein. Es darf keine negativen Anreize geben. Leistung muss sich lohnen. Wer mehr verdient als das Minimum, soll nicht fürchten müssen, dass er am Schluss weniger hat als einer, der nicht arbeitet.
Wie soll das geschehen?
Schneider: Es läuft auf eine Subventionierung der tiefen Löhne hinaus. Der Staat soll die tiefen Löhne aufstocken, wobei der staatliche Zuschuss mit steigenden Löhnen abnimmt.
Führt das nicht zu Zuständen wie in den USA, dass Leute ohne Job ganz aus dem sozialen System herausfallen?
Schneider: Man soll bitte nicht mit den Extremen drohen. In den USA muss jede arme Person, um zu überleben, gleich zwei oder drei Billigjobs nachgehen. In der Schweiz bekommt jede arme Person, selbst wenn sie keinen Billigjob ausführt, genügend Geld vom Staat. Unsere Fürsorge und die Ergänzungsleistungen zur AHV und zur IV garantieren ein Existenzminimum, wie es weltweit einmalig ist.
Und was sagen Sie zum Vorwurf, daraus entstehe die berühmte «20-Prozent-Gesellschaft» mit einem Fünftel Gutverdienenden und vier Fünfteln Hausangestellten, die den obersten Fünftel bedienen?
Schneider: Das ist schon wieder ein Extrembild, das allenfalls in der Dritten Welt am Platz ist. Aber fragen Sie doch einen heutigen Schweizer Fürsorgeempfänger: Wollen Sie weiterhin nichts tun und 2400 Franken kassieren? Oder wollen Sie lieber Hausangestellter werden, wenn Sie damit 1800 Franken selber verdienen, sofern ihnen der Staat dann noch 1200 Franken Lohnsubvention zahlt? Es geht mir hier übrigens nicht nur darum, dass der Staat etwas Geld sparen kann. Aber ich finde es unwürdig, wenn wir die untersten Schichten zu reinen Rentenempfängern abstempeln.
Und jetzt noch unsere Nachfahren. Wie helfen wir denen?
Schneider: Wenn die älteren Generationen ihre Ansprüche nicht herunterschrauben, werden sie die zukünftige Generation überfordern.
Aber sie haben ein Leben lang gearbeitet und gespart.
Schneider: Genau deswegen können sie auch verzichten. Im Durchschnitt ist die ältere Generation nicht nur reich, sondern sehr reich. Reicher, als je zuvor eine ältere Generation gewesen ist.
Also das gewohnte Rentner-Bashing?
Schneider: Noch keine Generation hat so wenige Kinder produziert wie die heutige und gleichzeitig so viel Geld verdient. Das ist doch einfach eine Tatsache. Vor allem Paare ohne Kinder, die doppelt verdienen und damit eine doppelte Pensionskasse haben, sind auf die AHV gar nicht angewiesen. Die könnten in Zukunft sogar etwas mehr für die Krankenkasse zahlen, denn auch via Krankenkasse läuft dieselbe Form der Umverteilung: Von Jung zu Alt.
Dann kommt der SVP-Politiker und sagt: Kinder sind doch Privatsache.
Schneider: Natürlich sind sie das. Es geht auch nicht darum, dass alle Kinder haben müssen. Aber man sollte den Kinderlosen beibringen können, dass sie nicht die gleichen Ansprüche haben dürfen wie Menschen, die Kinder grossgezogen haben. Davon betroffen wäre natürlich nur die reichere Hälfte der zukünftigen Rentner; für die Bedürftigen unter ihnen soll es weiterhin AHV-Ergänzungsleistungen und Krankenkassenkassensubventionen geben.
Glauben Sie, dass das gelingt? Die Macht der Rentner an der Urne ist gross.
Schneider: Die zukünftigen Alten, das ist die 68er-Generation. Und ich vertraue darauf, dass sie die Werte ihrer Jugend, nämlich dass das Geld nicht so wichtig sei, dass das Glück anderswo liege als im Materiellen, nicht völlig vergessen haben.
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Idée suisse – Was das Land zusammenhält und wer dafür bezahlt
Markus Schneider zitiert Dürrenmatt: «Die Gesellschaft kann nie gerecht, frei, sozial sein, sondern nur gerechter, freier, sozialer werden.» Und plädiert deshalb für einen Neustart. Viele lieb gewordene Dinge müsste man redimensionieren: die Landwirtschaft, den öV, die Regionalpolitik, die Armee usw. Aber nur so gibts wieder Luft für die Zukunft.
Markus Schneider: Idée suisse – Was das Land zusammenhält und wer dafür bezahlt. Weltwoche Verlag Zürich 2004. 157 S. Fr. 39.-. Weissbuch 2004. Rezepte für den Sozialstaat Schweiz. Weltwoche Verlag Zürich 2004. 135 S. Fr. 39.-