Weissbuch Leseprobe

weissbuchWeissbuch 2004

Aus dem ersten Kapitel

«Weniger Staat!»: Das ist ein Slogan von gestern, der heute von der Tatsache ablenkt, dass dieser Staat, ob er nun etwas verschlankt oder weiter gemästet wird, so oder so einen beachtlichen Teil der Wertschöpfung absorbiert. Zur Zeit sind es zwischen 35 und 50 Prozent des Bruttoinlandprodukts, je nach politisch motivierter Definition der Staatsquote. Es hilft übrigens auch wenig, über die genaue Höhe dieser Staatsquote zu streiten. So oder so hat der Staat ein beträchtliches Volumen angenommen. Ein Volumen, das offenbar gar niemand genauer unter die Lupe nehmen will. Es ist sonderbar, aber es gibt heute kaum Studien über die Wirkung der staatlichen Umverteilung. Selbstverständliche Fragen wie «Wer profitiert?», «Wer zahlt?» können kaum beantworten werden. Politisch wird über ein paar Details der zukünftigen Umverteilung gestritten, während die fortlaufenden Ströme als sakrosankt gelten. Der Status Quo hat hier zu Lande eine enorme Kraft.

Die einen drohen mit dem Abbau, vor dem sich die andern fürchten. Und keiner redet vom Umbau, der so dringend nötig wäre.

Wer Reformen oder gar Rezepte verspricht, muss zunächst das bestehende System durchleuchten. Schonungslos, aber faktenreich. Ist diese Kritik genau genug, ergeben sich Lösungen oft von alleine. Diesem dialektischen Ansatz folgt das «Weissbuch 2004»: Zunächst wird aufgezeigt, was alles warum schief läuft im Sozial- und Steuerstaat Schweiz. Die hauptsächliche These lautet auf den kurzen Nenner gebracht: Leistung lohnt sich nicht. Das gilt übrigens für alle: Leistung lohnt sich nicht für die Armen (Kapitel 2), zu wenig für den Mittelstand (Kapitel 3), auch kaum für die Reichen (Kapitel 4). Darum beginnt jede Reform, die hier vorgeschlagen wird, mit dem Motto: Leistung muss sich lohnen. Dies ist das A und das O zu mehr «mehr Wohlstand», hier muss ein Prozess in Gang kommen, bei dem sogar der Staat etwas beitragen kann. Nicht mit moralischen Appellen, sondern mit Anreizen monetärer Art. Wer mehr leistet, soll das bitte in seinem Portemonnaie zu spüren bekommen.

Entscheidendes Mass ist der «Grenzsteuersatz». Dieser zeigt an, wie viel eine Person davon hat, wenn sie sich zusätzlich anstrengt. Verdient sie heute 1000, überlegt sie sich sehr wohl, ob sie 100 hinzu verdienen will, wenn sie 60 davon abgeben muss (= Grenzsteuersatz von 60 Prozent). Halbiert sich dieser Satz auf 30 Prozent, nimmt die Motivation vermutlich mehr als doppelt so stark zu. Kritiker mögen diesen Ansatz als «primitiv», «vulgär-psychologisch» oder «ökonomistisch» schimpfen. Klar. Hier wird auch nicht behauptet, wir arbeiten bloss wegen des Geldes. Aber eine gewisse Rolle spielt der Lohn eben schon. Ganz abgesehen von der politisch relevanten Frage: Wer zum Teufel wird im ganzen Land von den höchsten Grenzsteuersätzen getroffen?

Antwort: Die Armen, auf neudeutsch «Working Poor» genannt. Menschen also, die arm sind, obschon sie arbeiten. Die müssen schon sehr früh Steuern bezahlen, und vor allem spüren sie die Sozialtransfers, die zu ihnen fliessen – oder eben nicht mehr fliessen. Je mehr sie sich selber erarbeiten, um so weniger Geld vom Staat erhalten sie. Im Extremfall führt das zu ungewollten «perversen» Effekten: Was die Leute selber hinzu verdienen, nimmt ihnen der Staat gleich wieder weg. Sie stehen, wie es bildhaft in einer Analyse des Ifo-Instituts von München heisst, vor einer «Eigernordwand»: Damit die unteren Schichten aufwärts kämen, müssten sie zunächst die steile Wand hoch und ihr eigenes Einkommen gewaltig steigern; erst wenn ihnen das gelänge, kämen sie oben an. Der drohende Absturz wirkt von vornherein entmutigend. Endstation ist die Sozialhilfe, in der Schweiz «Fürsorge» genannt. Ist eine Person einmal bei ihr gelandet, hat sie alles Interesse, da unten zu bleiben. Sie ist gestrandet – in der Armutsfalle (Kapitel 2).

So offenbart sich im schweizerischen Alltag eine völlig verkehrte Version des kapitalistischen Systems. Statt nach «oben» orientieren sich die Leute nach «unten». Dieser fatale Trend hat bereits die Familien des unteren Mittelstandes erfasst. Bald strengen sich auch Durchschnittsverdiener an, weniger Lohn heimzubringen – damit sie Subventionen an die Krankenkassenprämie erhalten, niedrigere Tarife für die Kinderkrippe und weniger für die Steuern zahlen müssen. Mehr Steuern, mehr Gebühren, mehr Abgaben, dies der politische Kanon. Aber eigentlich geht es hier um eine triviale Arithmetik: Kein Staat der Welt kann seinen Bürgern mehr als 100 Prozent wegnehmen. Wobei der kritische Punkt schon etwas früher einsetzt, da die Motivation der Leute zu sinken beginnt. Mit der gegenwärtigen Abgabequote hat die Schweiz insbesondere beim Mittelstand ein Niveau erreicht, das sich – vorsichtig ausgedrückt – nicht mehr unendlich steigern lässt (Kapitel 3).

Und erst die Reichen, auf neudeutsch «Abzocker» genannt. Penetrant klagen sie über exzessive Lasten. Prompt verausgaben sie viel Intelligenz, viel Energie und sogar Geld, um ihre Steuern zu optimieren. Sie zügeln, das macht sich bezahlt. Sie halten eine ganze Armada von Juristen und Treuhändern auf Trab, um mit maximalem Aufwand ihre totale Steuerbelastung unter 50 Prozent zu drücken und damit sogar günstiger wegzukommen als der Mittelstand. Das mag aus individueller Perspektive eine schöne «Leistung» sein, erbracht von der Elite dieses Landes. Produktiv in einem volkswirtschaftlichen Sinn ist das sicher nicht (Kapitel 4).

Die Steuersätze sind zu hoch, das ist die erste unangenehme Botschaft. Die zweite besteht darin, dass das heutige Steuersystem viel zu kompliziert geworden ist. Staatsverdrossenheit kommt nicht nur davon, dass man zu viel abgeben muss, sondern dass diese Pflicht fürchterlich kompliziert ist. Am Umgang mit dem Steueramt und den Sozialversicherungen stören sich Private wie Patrons. Sogar die staatstreue CVP hat erkannt, dass etwas nicht mehr stimmt. «Bürokratie halbieren!», versuchte sie auf Wahlkampf zu machen. «Mit der CVP wird die Steuererklärung in einer Stunde möglich». Das glaubten ihr gemäss den nationalen Wahlen vom 19. Oktober 2003 gerade noch 13 Prozent.

Die «Einfachsteuer», wie sie in Russland, der Ukraine und andern Ländern des «neuen Europas» erfolgreich erprobt wird, ist bei uns noch gar kein Thema. Dabei handelt es sich um ein Modell, die auf einen Schlag Licht bringen würde in den Steuer- und Sozialdschungel. Man muss ja nicht gleich den ganzen Staat neu erfinden. Es wäre schon viel erreicht, wenn die Schweiz ihr heutiges progressives Steuersystem abschaffen und durch ein proportionales ersetzen würde. Alle sollen gleich viel – oder besser: alle sollen gleich wenig Steuern bezahlen. Auf englisch: «Flat Tax», also «flache Steuer», wobei auch Adjektive wie «simpel», «gerecht», «erträglich» und sogar «intelligent» angebracht wären. Schliesslich soll sich Leistung dank des neuen Steuersystems wieder lohnen, und zwar für uns alle.

Wie ist das möglich? Ganz einfach:

$ Indem der Staat die Reichen besser behandeln als heute. Der maximale Satz für die direkte Einkommenssteuer soll sinken – auf ein Niveau, wie heute in Wollerau SZ üblich.
$ Indem der Staat mit dem Mittelstand pfleglich umgeht und diesen von der direkten Einkommenssteuer befreit. Diese Leute zahlen ja schon genug für die Krankenkasse, indirekte Steuern, Sozialabgaben, Gebühren.

$ Indem der Staat auch den Ärmeren hilft. Jedes Kind erhält jedes Jahr ein paar Tausender im Jahr als Steuergutschrift. Jede erwachsene Person ebenfalls, sobald sie selber erwerbstätig ist – bar auf die Hand.

Eine Schweizer Einfachsteuer müsse auf diesen drei Prinzipien beruhen, das genügt. Ist diese nun neoliberal? Oder echt sozial? Oder schlicht utopisch, weil nicht finanzierbar? Bitte keine vorschnellen Urteile. Es engagieren sich nicht nur rechtskonservative Schwärmer für solche Modelle (Kapitel 5).

Der Steuerstaat ist wie ein siamesischer Zwilling mit dem Sozialstaat verbunden. Abgaben haben ja nicht nur negative Auswirkungen auf die Motivation der Leute, sie dienen positiv als Quellen zur Finanzierung der Sozialleistungen, die zu den Leuten zurück fliessen. Auch das ist trivial. Das Problem beginnt leider schon damit, dass die Leute gar nicht wissen, wie teuer der Sozialstaat effektiv ist. Der heutige Sozialstaat ist – ganz analog zum Steuerstaaat – ein Dschungel. Er beginnt bei den Krankenkassenprämien, denn nicht einmal sie bilden die tatsächlichen Kosten ab, so lange die Kantone und Gemeinden im Versteckten die Spitäler subventionieren. Noch schlimmer bei allen Formen der Vorsorge: Ob Alter, Invalidität, Unfall oder Krankentaggeld, nirgendwo bekommen die Leute heute zu spüren, wie viel sie zur Versicherung dieser Risiken zahlen müssen. Ohne Kostenwahrheit jedoch bleibt die Debatte über den Sozialstaat eine Scheindebatte (Kapitel 6).

Und das ist erst der Anfang. Die Demografie lügt nicht, die Alten werden immer älter, die Pensionierten immer zahlreicher. Bereits machen sie 27 Prozent der Bevölkerung aus, ohne Kinder gerechnet, doch dieser Anteil wird kontinuierlich steigen, auf 44 Prozent im Jahr 2040. Schon allein deswegen muss sich der Staat auf die Zukunft vorbereiten. Er braucht zusätzliche Mittel, und zwar sogar dann, wenn es ihm gelingt, da und dort mit einzelnen Massnahmen bei der Altersvorsorge oder im Gesundheitswesen ein klein wenig zu sparen. Logische Folge ist ein knallharter Verdrängungswettbewerb aller übriger staatlichen Ausgaben: Der Staat muss, sofern er weiterhin sozial sein will, an andern Ecken und Enden sparen. Radikal. Das beginnt bei der Landesverteidigung, die am besten schrittweise weiter abgeschafft wird, geht über zur Landwirtschaft, die sich endlich dem Markt öffnen muss, und endet beim ganzen übrigen Subventionsdschungel (Kapitel 7).

Markus Schneider
Weissbuch 2004
Dezember 2003
140 Seiten

SFR 39.-
ISBN 3-905682-00-1
Weltwoche Verlag

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