Mit der Schweiz geht es voran NZZ am Sonntag, 10.04.2005, von Bruno S. Frey

Mit der Schweiz geht es voran
NZZ am Sonntag, 10.04.2005, von Bruno S. Frey
Wir Schweizer neigen zur Genügsamkeit. Das hohe Einkommen macht uns mit unserem Leben zufrieden. Die meisten scheint es wenig zu kümmern, dass wir im Vergleich zu vielen andern Länder zurückfallen. Im letzten Jahrzehnt ist unsere Wirtschaft durchschnittlich nur mit 1,8 Prozent pro Jahr gewachsen; der Unterschied etwa zu Irland, dessen Sozialprodukt in den letzten zehn Jahren um 7,8 Prozent pro Jahr zunahm, ist gigantisch. Wächst bei gleicher Ausgangslage die Wirtschaft eines Landes um 6 Prozentpunkte pro Jahr weniger schnell, hat es in etwa 12 Jahren nur noch ein halb so grosses Sozialprodukt wie das andere Land.Hält die Wachstumsschwäche an, muss unsere Alters-, Sozial- und Gesundheitsversorgung radikal reduziert werden, weil immer weniger Berufstätige immer mehr nicht Arbeitende unterstützen müssen. Eine Zweiteilung der Gesellschaft in Leute mit und ohne Arbeit ist eine auch bei uns drohende Gefahr. Immerhin ist bei uns die Arbeitslosigkeit auf derzeit 3,9 Prozent angestiegen, bei den 20- bis 24-Jährigen beträgt sie 6,4 Prozent.Neue Initiativen sind unbedingt erforderlich. Zwei kürzlich vom Bundesrat propagierte Ideen weisen in die richtige Richtung. Dies ist erstaunlich und lobenswert, wird dieses Gremium doch häufig als Bremser angesehen. Der Bundesrat hat die Absicht bekundet, Steuergutschriften für Bedürftige einzuführen, um die Armutsfalle zu überwinden. Mit Hilfe einer Staugebühr soll dem Verkehrsinfarkt begegnet werden. Mit solchen Initiativen könnte die Schweiz wieder zur Spitze der sozialen und wirtschaftlichen Entwicklung aufschliessen.

Ein Grund für die heute hohe Zahl von Arbeitslosen ist unser Sozial- und Steuersystem, das in erheblichem Umfang das Arbeiten buchstäblich bestraft. Eine allein erziehende Verkäuferin, deren Ex-Mann die Alimente verweigert und deren Kind zur Krippe geht, reduziert in vielen Gemeinden unseres Landes ihr verfügbares Einkommen, wenn sie ihr Erwerbseinkommen steigert, wie uns Markus Schneider in seinem «Weissbuch 2004» vorrechnet. Der Grund liegt nicht nur in den höheren Steuern, sondern vor allem im Wegfall von Kinderzulage, Alimentenbevorschussung und der Subvention an die Krankenkasse. So bewirkt etwa ein Lohnzuwachs von 6500 Franken im Jahr in Schaffhausen, dass einer solchen Frau die Sozialleistungen um 6400 Franken gekürzt werden, nun aber 600 Franken mehr Steuern anfallen. Der erreichte Zuwachs im Erwerbseinkommen vermindert das verfügbare Einkommen um 500 Franken. Selbstverständlich arbeiten viele Leute nicht nur wegen des Geldes. Warum sollte aber ein Grenzsteuersatz gerade bei den unteren Einkommensschichten mehr als 100 Prozent betragen, bei den besser Verdienenden jedoch nur die Hälfte? Wird zusätzliche Arbeit und Anstrengung mit einem Einkommensverlust bestraft, sinken die Arbeitsanreize. Die Arbeitslosen werden im Teufelskreis der «Armutsfalle» gefangen gehalten, aus dem sie sich nur schwerlich herauslösen können.

Eine Steuergutschrift begegnet diesem Übel, indem die am stärksten von Armut bedrohten Personen – insbesondere Familien mit Kindern und Alleinerziehende – vom Steueramt Geld erhalten. Wer arbeitet oder mehr arbeitet, verliert nicht wie bisher beinahe schlagartig die staatliche Unterstützung, sondern erhält immer noch so viel, dass das verfügbare Einkommen zunimmt und Arbeit sich auch monetär lohnt. Damit dieses System bezahlbar ist, erhalten nur diejenigen diese Unterstützung, die arbeiten. Wer aus gesundheitlichen Gründen arbeitsunfähig ist, erhält wie bisher eine Invalidenrente plus Ergänzungsleistungen. Die grosse Zahl der hier tätigen Ausländer deutet darauf hin, dass nicht die Stellen knapp sind, sondern wegen des Sozialsystems für manche Schweizer die Anreize zur Arbeit ungenügend sind. Eine Steuergutschrift ermöglicht Personen, auch Stellen mit geringer Besoldung – zum Beispiel im humanitären Bereich – anzunehmen und dadurch mehr Einkommen zur Verfügung zu haben.

Das «Road Pricing» betrifft ein anderes Gebiet. Wer eine überlastete Strasse befahren will, muss eine Staugebühr bezahlen. Strassen mit flüssigem Verkehr bleiben unentgeltlich. Den Verkehrsteilnehmern wird so ein Anreiz vermittelt, das Auto weniger zu benützen, andere Wege zu fahren, den öffentlichen Verkehr zu wählen und langfristig Arbeits- und Wohnort anzunähern. Autofahrer werden veranlasst, sparsam mit dem knappen Strassenraum umzugehen. Es brauchen nicht dauernd neue Strassen, Brücken und Tunnels gebaut zu werden, die die Schweiz weiter zupflastern und zersiedeln. Die Erhebung dieser Staugebühr ist technisch kein grundsätzliches Problem. Vielmehr kann die Schweizer Industrie ein neues Produkt lancieren und exportieren.

Bundesrat und Parlament sollten diese Innovationen rasch beschliessen und durchführen. Wie die Einführung der Schwerverkehrsabgabe LSVA und die vor kurzem beschlossene Reform des Föderalismus im Rahmen des Neuen Finanzausgleichs gezeigt haben, macht das Volk mit, wenn die Vorlage gut begründet ist. Demgegenüber ist die dringend notwendige Föderalismusreform in Deutschland und Österreich schmählich gescheitert. Die direkte Demokratie verhindert Fortschritt keineswegs – obwohl uns dies bestimmte Kreise gerne suggerieren. Um den Problemen der Schweizer Wirtschaft zu begegnen, sollten den beiden Innovationen weitere folgen, insbesondere die Einfachsteuer («flat tax») auf persönliches Einkommen. Aber das ist Zukunftsmusik.

Bruno S. Frey ist Professor für Volkswirtschaft am Institut für empirische Wirtschaftsforschung der Universität Zürich.

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