Eine Woche auf dem Sozialamt Zürich 03.06.2004, Weltwoche
Dienstag, 2. MärzMonika Stocker bittet zum Gespräch. Seit zehn Jahren ist sie
Sozialvorsteherin der Stadt Zürich, aber eine solche Explosion der Fälle
habe sie noch nie erlebt. «Verrückt.» Die Stadt zahle inzwischen mehr
als eine Million Franken Fürsorge- und Ergänzungsleistungen aus. Pro
Tag. «Stellen Sie sich vor, mehr als eine Million pro Tag, und niemand
protestiert.» Sobald sich die Diskussion jedoch um ein Projekt oder um
einen Versuch drehe, diese Leute wieder fit zu machen, gehe ein Geheul
los. «Als ob es sich die Stadt leisten könnte, jeden Tag so hohe Beiträge
zu verteilen.»Ist etwa das System faul? Monika Stocker, sicher keine Sozialabbauerin,
hat dazu ein Buch geschrieben. «Lernen aus den 90er Jahren» lautet
der Titel, und darin finden sich Sätze wie: «Heute honorieren die sozialen
Sicherungssysteme vielfach, dass ich mich nicht bewege, dass ich nicht
flexibel bin, dass ich verharre.»
Zürich ist nicht London, nicht New York. Dort muss, wer Geld vom Staat
will, selber etwas leisten. Auf die reiche Schweiz übertragen, hiesse das:
Man muss zuerst tausend Franken verdienen, egal wie. Sei es durch
Putzen oder Glätten, Hunde- oder Kinderhüten, Rasenmähen oder
Bäumefällen. Wer das schafft, wird vom Staat honoriert, bekommt
tausend Franken Sozialhilfe hinzu, hat damit zweitausend. Wer etwas
mehr verdient, bekommt vom Staat etwas weniger, aber immer so, dass
Arbeiten sich lohnt, auch für die tiefsten Schichten. Heute dagegen wird
am meisten belohnt, wer gar nichts tut. «Das ist doch unwürdig, Frau
Stocker. Damit treiben Sie die Leute in die Schwarzarbeit – oder in die
Resignation.»
Monika Stocker hört zu, sie kennt diese Diskussion. Die Sozialhilfe führe
zu «falschen Anreizen», heisst es. Sie selber nennt es
«Kausalitätsprinzip»: Eine Person erhält Geld, weil sie zu wenig Geld hat,
ohne jede Vorbedingung. Dieses Prinzip will Monika Stocker nicht
abschaffen, aber sie will es ergänzen durch das «Finalitätsprinzip»: Eine
Person soll vom Staat eine Leistung erhalten, damit sie sich neu
orientieren könne, eine zweite Chance bekomme. Dass ein McJob
besser ist als kein Job, das findet auch Monika Stocker. «Ich fordere
diese Tausend-Franken-Jobs seit langem.» Aber Billig-Jobs seien
hierzulande nicht populär. Bei Arbeitnehmern nicht, Arbeitgebern nicht,
bei Gewerkschaftern schon gar nicht, bei Sozialarbeitern auch nicht.
Resultat in Franken: etwas mehr als eine Million. Allein in der Stadt
Zürich. Pro Tag.
Gerne möchte Monika Stocker zu einem «Seitenwechsel» einladen.
Soeben habe ein Swisscom-Manager fünf Tage auf ihrem
Sozialdepartement verbracht. Auch die UBS schicke Bankiers vorbei, die
Welt aus den Augen eines Sozialarbeiters zu erfahren. Warum nicht ein
Journalist?
Donnerstag, 29. April
Wer Geld vom Sozialamt will, muss persönlich vorbeikommen. Von
aussen ist die «Dorflinde» in Zürich Oerlikon ein rotbraunes, trostloses,
siebenstöckiges Hochhaus. Für alle, die sich neu anmelden wollen, öffnet
sie jeden Morgen um 10 Uhr ihren Schalter unten im Parterre. Keine
Minute vorher. Fünf Personen stehen an. Man mustert sich gegenseitig.
Dann geht die Türe auf, und man darf gleich an der Pforte eine Nummer
ziehen. Ein Gefühl wie auf der Post.
Vorn der Schalter, dahinter zwei Sachbearbeiterinnen. «Name und
Adresse?» Wer nicht in Zürich Oerlikon, Zürich Affoltern, Zürich
Schwamendingen oder Zürich Seebach angemeldet ist, wäre hier auf
dem falschen Amt. «Warum suchen Sie Hilfe?» – «Weil wir kein Geld
mehr haben», antworten 85 Prozent. Hat die Sachbearbeiterin die
Personalien ins System getippt, geht sie nach hinten und nimmt ein Blatt
frisch aus dem Drucker: die «Alpha»-Daten der Stadtverwaltung. Sie
erlauben eine erste Sofort-Kontrolle: Ist die Person, die sich gerade
vorgestellt hat, auch angemeldet? Bezieht sie
Krankenkassensubventionen? Wie viel Einkommen und Vermögen
wurden beim letzten Mal versteuert?
Dann winkt das Ticket zur Sozialhilfe. Ein Formular, das sieben Seiten
lang und so umfassend ist, dass es auf keinen Fall sofort ausgefüllt
werden könnte. Die Sachbearbeiterin am Schalter erklärt Punkt für Punkt.
Verlangt werden alle Angaben zum Einkommen, zum Vermögen, zum
Auto, zur Zweiten und Dritten Säule, zu der Wohnung, den Alimenten,
Stipendien, andern Sozialleistungen, Schulden, Gesundheitskosten.
Sämtliche Bankauszüge über die letzten sechs Monate sind beim
nächsten Mal mitzubringen, auch alle Belege über Erbschaften oder gar
Immobilien in aller Welt. Oberstes Prinzip: Die Sozialhilfe zahlt erst, wenn
das eigene Bare verbraucht ist. Eine Einzelperson darf maximal 4000
Franken Vermögen behalten – Auto inklusive. Ein finanzieller Striptease
ist das, mit Ehrlichkeit als oberstem Gebot. Falsche Angaben würden
betraft und gebüsst, droht die Sachbearbeiterin am Schalter. «Sobald Sie
uns das Formular mit allen Unterlagen zurückbringen, bekommen Sie
einen Termin beim Sozialarbeiter.»
Im Schnitt erhalten die neu Angemeldeten im Sozialzentrum «Dorflinde»
das erste Geld vier Tage später. Ein Service, den man hier im Parterre
nicht als «effizient», sondern als «niederschwellig» bezeichnet.
Eine 21-Jährige ist neu in Zürich angekommen. Den Umzug zahlte ihr
das Sozialamt von Solothurn. Die Frau ist völlig blank – und
hochschwanger. «Wie geht es?» Die Sozialarbeiterin raschelt in den
Unterlagen, tippt Zahlen in den Taschenrechner. 1000 für den
Lehrlingslohn. 600 für eine IV-Kinder-Rente, 200 für die
IV-Ergänzungsleistung (beides bekommt sie, weil ihr Vater IV bezieht).
Ergibt 1800 Franken Einnahmen. Schon die neue Wohnung in Zürich
kostet 1450 Franken.
«Diese Wohnung ist das Problem», sagt die Sozialarbeiterin. «Genau»,
antwortet ihre neue Klientin. Am Ersten müsse sie die Miete zahlen,
unbedingt, sonst fliege sie raus, auch wenn sie gerade am Gebären sei,
habe ihr die Vermieterin gedroht; heute ist der Neunundzwanzigste. «Die
Wohnung ist das Problem», wiederholt die Sozialarbeiterin, «sie ist zu
teuer.» Schwangere im neunten Monat gelten zwar als
Zwei-Personenhaushalt, doch auch Zwei-Personenhaushalte dürfen für
die Wohnung höchstens 1300 Franken ausgeben. «Habe ich nicht
gewusst.» Flugs schlägt die junge Solothurnerin vor: «Dann zahlen Sie
mir die 1300 Franken, den Rest organisiere ich sonst.» – «Darf ich nicht»,
antwortet die Sozialarbeiterin, «das liegt nicht in meiner Kompetenz.»
Diese zu hohe Miete müsse vor die Einzelfall-Kommission, die tage am
Dienstag, dem Vierten. Vorher gibt’s nichts für die Miete, sie müsse ihre
Vermieterin um Geduld bitten.
Die Sozialarbeiterin tippt weiter Zahlen in den Rechner, wühlt in den
Papieren, will die letzten Lücken im siebenseitigen Fragebogen füllen.
«Geburtsdatum Ihres Vaters?» Kennt die Frau mit Geburtstermin in
dreizehn Tagen nicht. Zu ihrer Mutter habe sie auch keinen Kontakt
mehr. «Und zum Vater des Kindes?» Einen losen. Das Kind wolle der
Vater erst anerkennen, wenn er es sehe. «650 Franken für den
unmittelbaren Lebensunterhalt», offeriert die Sozialarbeiterin, offenbar
am Ende der Rechnerei angelangt. Auf die Bank überweisen geht nicht,
das Konto ist so stark im Minus, dass der letzte Lehrlingslohn gleich
eingezogen wurde. «Hier haben Sie einen Scheck, den können Sie
einlösen beim Stadthaus, direkt hinter dem Paradeplatz. Wissen Sie
wo?» – «Keine Ahnung. Wie heisst dieser Platz?»
Im Büro nebenan sitzt ein Sozialarbeiter auf Pikett. Für den Notfall, wenn
die Sachbearbeiterin am Schalter nicht mehr weiterwüsste. Zurzeit
bearbeitet er eine Anfrage aus einem Rehabilitationsheim. Dort
eingeliefert wurde eine Frau, 23 Jahre jung, die einen Herzstillstand
überlebt hat. Ihr Mann, der zu 100 Prozent arbeitet, 4900 Franken netto
verdient, ist finanziell am Ende. Ein einziger Tag im Heim kostet 210
Franken. Die Krankenkasse zahlt nichts, sie will die 23-Jährige in ein
Pflege-, sprich Altersheim abschieben. «Das geht doch nicht», sagt der
Sozialarbeiter auf Pikett und klärt ab, ob die Sozialhilfe einspringen kann.
«Hier eine Anfrage einer psychiatrischen Klinik.» Ein Gefangener hielt es
in der U-Haft nicht aus, musste in die Klinik. Die Tageskosten betragen
566 Franken, davon übernimmt die Krankenkasse 207, bleiben 359 übrig
– zu Lasten der Fürsorge. «Die Justiz spart sich Gefängniskosten», knurrt
der Pikett-Mann, ist aber machtlos. Die Sozialhilfe muss sogar die Miete
übernehmen, zum Glück nur 600 Franken im Monat.
Jeder Fall muss einzeln beurteilt werden. Vor kurzem habe sich eine
Deutsche gemeldet, nachdem sie einen Schwarzen geheiratet hatte und
an der Uni studieren wollte. Ethnologie! «Eine Notlage, nur
vorübergehend», versprach die Neo-Studentin, bald finde ihr Mann einen
Job. Doch für eine Ausbildung gibt’s in der Regel keine Sozialhilfe.
«Wir sind keine Bank, auf der man das Geld abholt. Bei jedem Einzelfall
klären wir die Bedingungen ab und kommunizieren diese auch
gegenüber den Klienten», erklärt Martin Greter. Er leitet in der
«Dorflinde» das «Intake», was englisch tönt und die Abteilung meint, die
alle neuen Fälle aufnimmt, zurzeit 220 pro Monat, bezogen auf die
85000 Einwohner in Oerlikon, Schwamendingen, Affoltern, Seebach.
Nirgendwo sonst in Zürich melden sich so viele Neue. Von diesen 220
suchen etwa 30 eine Beratung bei familiären Problemen. Die 190 andern
wollen Geld. «Nur zur Überbrückung», heisst es stereotyp. Tatsächlich
schliesst das «Intake», das die untersten Stöcke belegt, jeden zweiten
Fall innert drei Monaten ab. Die andere Hälfte, die hartnäckigen Fälle,
wird in die vier Quartierteams weitergereicht. Diese Klienten müssen von
nun an den Lift nehmen. Hinauf in den vierten, fünften, sechsten Stock
der «Dorflinde».
Mittag. Man geht hinüber ins Restaurant «Züri Nord», trifft sich dort
wieder, allerdings in vertauschten Rollen. Jetzt sind die Sozialarbeiter die
Klienten. In der Küche und hinter der Kasse stehen Fürsorgeempfänger
aus allen Kontinenten, servieren Getränke, wägen Salate und Speisen.
«Züri Nord», von aussen ein normales Restaurant, ist ein Projekt des
EAM, des Ergänzenden Arbeitsmarkts der Stadt Zürich. Qualität wie
Preise sind marktüblich: Salat, Essen, Mineral, Espresso, Trinkgeld, für
25 Franken.
Am Tisch erzählt A., Kadermitarbeiter vom siebten Stock, vom harten
Job. Ein Sozialarbeiter müsse sich abgrenzen, sonst gehe er drauf.
Schnell kommt A. auf das Thema «Sicherheit und Gewalt», für das er
zuständig sei. «Wir wünschen uns eigentlich ein offenes Haus, trotzdem
sind die Eingangstüren einzelner Stockwerke geschlossen. Jedes
Quartierteam entscheidet selber.» Früher sei er noch naiv gewesen, bis
ihm einer gedroht habe: «Ich weiss, wann du arbeitest. Ich weiss, wo du
wohnst. Ich weiss, wann deine Familie zu Hause ist und du nicht.»
Seither stehe sein Name nicht mehr im Telefonbuch.
«Das Gewaltthema gehört leider zur Realität», bestätigt Hansruedi
Oetiker, Leiter der «Dorflinde». Sobald ein Klient einem Sozialarbeiter
drohe, müsse dieser zu ihm rauf in den siebten Stock. Dann frage er
direkt: «Wo ist das Messer? Haben Sie schon einmal zugestossen?
Wann?» Oder: «Sie haben gesagt, Sie kommen mit der Pistole vorbei.
Haben Sie eine Pistole? Wo ist sie?» Verfügt jemand, der droht,
tatsächlich über eine Waffe, zeige er ihn bei der Polizei an. «Ist doch
klar.»
Um 14 Uhr hat der Mann mit Schnauz einen Termin bei der
Arbeitsvermittlerin. Er erzählt: Beim letzten Job in einer Beiz wurde er bar
auf die Hand bezahlt. 12000 Franken waren offen, als die Wirtin
Selbstmord machte. Der Mann strandete bei der Sozialhilfe, wurde krank,
auch psychisch, bekam Probleme mit der Freundin. Das Schlimmste sei
vorüber. Jetzt wäre er wieder bereit, bereit für einen Job. Alles, was in
der Gastronomie möglich ist, habe er schon gemacht, sogar einen
Betrieb geführt. «Wollen Sie wieder in der Küche einsteigen?», fragt die
Arbeitsvermittlerin. «Klar, ich kann nicht mehr vorne an der Theke stehen
mit meinen Zähnen.» – «Ah, jetzt sehe ich! Sie haben das aber gut
getarnt mit dem Schnauz.» – «Ich darf einfach nicht mehr lachen, dann
sieht man nichts.» – «Reden Sie darüber mit Ihrer Sozialarbeiterin,
sprechen Sie das offen an, Zähne kann man implantieren.»
Bald wird der Mann mit dem Schnauz im «Züri Nord» anfangen können.
Fast lacht er vor Glück, als er das Sozialzentrum verlässt.
Anschliesssend öffnet die Arbeitsvermittlerin das Fenster: «Es riecht ein
klein wenig nach Alkohol.» Aber sie ist sicher: «Der schafft’s.»
Freitag, 30. April
Von weit her eine laute Frauenstimme. Ursula Schmid, Amtsvormundin in
der «Dorlinde», redet ruhig weiter. Die laute Stimme wird lauter, kommt
näher. «Eine Klientin. Sie ist wütend auf mich.» Deren Wohnung sei
gefährdet, «weil sie mitten in der Nacht ausrastet und aus dem Fenster
schreit». Um das zu besprechen, sei sie heute auf 8.30 Uhr hierher
bestellt gewesen. Sie kam nicht. Inzwischen habe die Frau wohl auf der
Stadtkasse wie jeden Freitag ihr Wochengeld, 280 Franken, abholen
wollen. Das war dann gesperrt.
«Ich mit meinem Bein. Ich muss vom Paradeplatz extra nach Oerlikon
kommen.» Ursula Schmid geht hinüber ins Vorzimmer des Büros. «Mit
meinem Bein durch die ganze Stadt! Ich muss in die Klinik! Ich gehe
gleich in die ÐSchulthessð und sag denen, was Sie sind: eine Hexe!» –
«So, so.» – «Und ich gehe nicht in die Ferien, wenn ich kein
Doppelzimmer mit Petra bekomme.» – «Sie bekommen ein Einzelzimmer,
und Petra bekommt auch ein Einzelzimmer.» – «Dann streike ich. So will
ich nicht in die Ferien gehen müssen.» – «Sie müssen nicht, Sie dürfen.»
– «Ich sag’s der Chefin. Ich mit meinem Bein muss zwei Mal durch die
ganze Stadt. Wenn ich zu spät zur Arbeit komme, sind Sie schuld! Meine
Chefin scheisst mich zusammen, wir haben es streng. Ich sag’s der
Chefin! Ich hole Petra! Ich rufe im Tram aus, damit alle Leute hören, was
Sie für eine sind. Ich will ein Bier. Und vorher schlage ich Ihnen eine in
die Schnauze. Sie mischen sich überall ein!» – «Ich mische mich nur ein,
weil Ihre Wohnung gefährdet ist.» – «Ich gehe zur Polizei! Ich hole das
Fernsehen! Und ich brauche Geld.» – «Für was?» – «Für Schuhe. Sehen
Sie nicht, welche Schuhe ich trage? Ins Spital muss ich mit diesem Bein,
und dort will ich nicht mehr raus. Das ist die Endstation. Und zur
Stadtkasse nehme ich jetzt ein Taxi, grad extra.» – «Ist doch schade ums
Geld.» – «Ich sag denen bei der Stadtkasse, was Sie für eine sind!»
Endlich steht der Termin. In einer Woche muss sie wieder kommen, um
das Problem mit der Wohnung zu besprechen. Im Gegenzug darf sie das
Wochengeld abholen. Zusätzlich erhält sie 100 Franken extra für die
Schuhe.
Ursula Schmid kommt ins Büro zurück, ruhig und gefasst. «Frau K.hat
einen Instinkt. Sie hat gespürt, dass hier drüben jemand in meinem Büro
sitzt und zuhört.» 1960 geboren, schwieriges Milieu, Alkohol, Gewalt,
sexueller Missbrauch, seit 1980 unter Vormundschaft. «Zum Abschied
hat sie nach mir geschlagen, Sie haben das nicht sehen können.» Ihre
Einzimmerwohnung führe sie tipptopp. Regelmässig arbeite sie in einer
geschützten Werkstatt, sechseinhalb Stunden am Tag. Ihr Problem: das
Bier. Abends auf dem Heimweg kaufe sie eine Dose oder auch zwei; das
gehe. Sobald sie mehr trinke, raste sie aus. Übers Wochenende
übernachtet jetzt Petra bei ihr, das müsse sie abstellen. Dann trinken sie
das Bier harassenweise. Petra, schwächer als Frau K., lebt im Heim.
«Ja, sie rastet aus. Aber sie lügt nicht. Sie wird sich zum Beispiel ein paar
neue Schuhe kaufen; nicht heute, aber nächste Woche. Und sie wird sich
das nächste Mal bei mir entschuldigen. Ich kenne sie.»
Dann erzählt Ursula Schmid von Jimmy, der die Geburt nach einem
schweren Heroinentzug seiner Mutter knapp überlebt hat, heute
dringend Ritalin braucht, aber trotzdem ausflippt, sobald seine
Pflegemutter ausser Haus ist. Oder von einer Zahnärztin, die nach der
Scheidung eine halbe Million Franken erhalten, diese innert zweier Jahre
verprasst hat und nun von der Sozialhilfe lebt. Neunzig Klienten hat
Ursula Schmid, darunter «vier bis fünf wirklich schwierige Fälle». Aber
kein Gewalttätiger. Früher habe einer mit voller Wucht den Telefonhörer
auf die Gabel geknallt und dann zu ihr gesagt, leise und sanft: «So,
Urseli, jetzt geht’s dir dann so wie diesem Telefonhörer.»
Letzte Frage an Ursula Schmid: «Haben Sie auch Erfolgserlebnisse?» –
«Frau K.» Pause. «Für mich ist Frau K. ein Erfolg. Dass wir sie so halten
können. Dass sie eine Wohnung hat. Eine Arbeit. Ein Leben.»
Arthur Bernet ist SVP-Gemeinderat des Quartiers, Jahrgang 1934. Er
kommt jeden Monat für zwei, drei Stunden vorbei. Als Kontrolleur des
«Apparats», der früher «Fürsorgebehörde», noch früher «Armenpflege»
geheissen habe. «Wir von der Politik beurteilen die Geschäftsführung
und schauen, dass die Normen eingehalten werden.»
Gemeint sind die Skos-Richtlinien, die die Höhe der Fürsorgeleistungen
festlegen. Verabschiedet werden diese Richtlinien von einem privaten
Verein, der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe heisst, abgekürzt
Skos. Deren Richtlinien gelten – fast – in der ganzen Schweiz; sie sind
umstritten und zurzeit gerade in Revision. Der Kanton Zürich hat sie für
verbindlich erklärt. Arthur Bernet spricht in einem Tonfall, dass man
merkt: Käme es auf ihn an, würden diese Skos-Richtlinien nicht
eingehalten. «Der Aargau zahlt viel weniger. St. Gallen macht auch einen
Abzug, Bern wird einen von 15 Prozent einführen.» Neulich habe auch
der Zürcher Regierungsrat Ruedi Jeker der Skos einen Brief
geschrieben. Noch läuft in Zürich aber alles nach den Skos-Richtlinien.
Und noch achtet just der Skos-Richtlinien-Kritiker Arthur Bernet darauf,
dass diese Skos-Richtlinien eingehalten werden. Er nimmt ein Formular:
«Da staunen Sie vielleicht, welche Zahlen draufstehen.»
Ein verheiratetes Paar mit albanischem Familiennamen hat vier Kinder,
null Einkommen, null Vermögen. Diese Familie bekommt 2781 Franken
für den Grundbedarf I, 220 Franken für den Grundbedarf II, 1608
Franken für die Wohnung, 210.80 Franken für die Krankenkasse, «wobei
Sie wissen müssen, dass diese Prämien schon subventioniert sind», 206
Franken Zuschlag für den Grundbedarf II, «denn ein Kind ist im Alter für
eine Ausbildung, aber von einem Lehrlingslohn sehe ich natürlich
nichts». Das ergebe summa summarum 5025.80 Franken im Monat –
steuerfrei. «So viel Geld», sagt Bernet, «verdient mancher Schweizer
auch nicht.» Er schnalzt mit der Zunge. Dann fährt er fort: «Warum
arbeitet in dieser Familie denn niemand?» Das wisse er auch nicht, laut
den Gesprächsprotokollen der Sozialarbeiter gebe es immer Gründe.
«Ich kontrolliere nur die Beträge. Die Rechnung stimmt, die
Skos-Richtlinien sind eingehalten.» Brav macht Referent Bernet ein
Häkchen. Jeder Sozialfall in der Stadt Zürich braucht einmal im Jahr ein
solches Häkchen eines Behördenmitglieds.
Was Arthur Bernet nicht sagt: Zürich geht über die Skos-Richtlinien
hinaus. Wer Sozialhilfe bezieht, aber einen Job hat, sieht in der übrigen
Schweiz vom Lohn nur 250 Franken – ein mieser Anreiz, Arbeit
anzunehmen. In Zürich darf man bis zu 600 Franken behalten, was man
hier «Chancenmodell» nennt. Wer es in diese Kategorie schafft, kommt
dann auf ein Niveau der Existenzsicherung, das weltrekordverdächtig ist:
6031 Franken netto im Monat zum Beispiel für eine Familie mit drei
Kindern. Das ist keine Propaganda von rechts, sondern ein
Rechenexempel aus einem offiziellen Papier. Solche Zahlen deuten an:
Es könnten sich noch mehr Leute auf dem Sozialamt melden, als es tun.
Was Arthur Bernet dann sagt: «Ich finde, die Kinderzulagen der Skos
sind zu hoch. Jene, die arbeiten, haben ja viel geringere Kinderzulagen.»
Drei Büros weiter meint eine Sozialarbeiterin genau das Gegenteil. Just
für Leute mit Kindern werde es eng. «Da reicht es nur für
dreissigfränkige Turnschuhe, keine Markenschuhe. Da muss die Mutter
ewig nein sagen.» Sie berät gerade eine Auslandschweizerin aus
Bolivien. Ursprünglich hatte diese einen richtigen Job bei der Swissair.
Als sie nach einem Urlaub nach Zürich zurückkam, gab es keine Swissair
mehr. Emsig bewirbt sie sich um eine neue Stelle, legt einen Stapel mit
Absagen auf den Tisch. «Es ist schwierig.» Die Frau weint, die
Sozialarbeiterin bestätigt: «Es ist schwierig.»
Was bleibt? «Die Motivierten schicken wir auf den Ergänzenden
Arbeitsmarkt», antwortet Ulla Kellenberger, Co-Leiterin des
Quartierteams Seebach. «Bei den andern, die sich umständlich
anstellen, macht das keinen Sinn.» Nächste Frage: «Wie kommen Sie
mit der Explosion der Fallzahlen klar?» – «Wir haben einfach weniger Zeit
pro Klient, sehen einige nur noch ein- oder zweimal im Jahr. Das Geld
überweisen wir mit Dauerauftrag. Gäbe es irgendwelche Änderungen,
müssten das die Klienten ohnehin von sich aus melden.» Bei jedem
Wechsel der Wohnung muss das Sozialamt zur Höhe der neuen Mieten
ja sagen. Ein Auto darf keiner kaufen. Fährt einer trotzdem mit dem
Mercedes vor, meldet das womöglich sein Nachbar; solchen Hinweisen
gehe man nach und fordere dann Rückerstattung. Aber es sei nicht ihre
Aufgabe, Detektivin zu spielen, mahnt Ulla Kellenberger. Mal sei jemand
in flagranti beim Taxifahren ertappt worden, von seiner eigenen
Sozialarbeiterin. Ein Aushilfsjob nur, aber eben nicht deklariert. «Es gab
eine Busse.»
In der «Dorflinde» teilen sich 125 Angestellte 75 Stellen, bieten eine
vielfältige Beratung für Kinder, Jugendliche, Erwachsene, führen
vormundschaftliche Massnahmen, wachen über 1750 laufende
Auszahlungen. Ihr oberster Chef, Hansruedi Oetiker, fragt zum Abschied:
«Kennen Sie schon die Eigernordwandgrafik der Stadt Zürich?» Seit
1970 dasselbe Bild. In jeder Rezession steige die Arbeitslosigkeit, und
mit ihr steige auch die Zahl der Sozialhilfefälle. Sinke die Arbeitslosigkeit
wieder, bleibe die Zahl der Sozialhilfefälle so hoch, wie sie war – um bei
der nächsten Rezession das nächsthöhere Plateau zu erreichen. Dann
wiederholt Oetiker den Standardsatz aller Sozialarbeiter: «95 Prozent
unserer Klienten wollen keine Sozialhilfe. Viele schämen sich sogar. Die
wollen arbeiten.»
Montag, 3. Mai
«Wir sind Junior Power.» Merdjan steht in einer ehemaligen Werkhalle
der ABB direkt hinter dem Bahnhof Oerlikon vor einer Infowand und
erklärt, was Junior Power ist. Ein Brückenangebot für junge Männer im
Alter zwischen 16 und 22, organisatorisch ein Teil des Ergänzenden
Arbeitsmarktes (EAM) des Sozialdepartements Zürich, finanziert durch
die Arbeitslosenversicherung. Eine komplizierte Struktur, Merdjan liest sie
vom Blatt ab. Zwei Klassen gebe es bei Junior Power mit je zwölf Jungs.
Zweieinhalb Tage Schule, zweieinhalb Tage Metallverarbeitung in der
Werkstatt. Merdjan zeigt Arbeitsproben: Kerzenständer, Flaschenöffner,
dann ihre Gruppenarbeit, einen Eiffelturm. Schon ist er am Ende seines
Vortrags angelangt: «Ich bin in der Schweiz geboren, lebte die ganze
Zeit hier. Nun bin ich seit elf Monaten bei Junior Power, in einem Monat
ist Schluss. Ich habe keine Lehrstelle gefunden und auch sonst keinen
Job.»
Hier gehe es weniger um die Metallverarbeitung, ergänzt sein Lehrer.
Sondern um die «Schlüsselqualifikationen»: Zuverlässigkeit,
Pünktlichkeit, Ordnung, Teamarbeit. Also um berufsübergreifende Werte.
Ein Kollege Merdjans hat eine Coiffeurlehrstelle gefunden, einer eine
Praktikumsstelle als Pflegehelfer in einem Spital, einer als
Logistikassistent, einer darf eine Anlehre machen in einer Velowerkstatt,
einem andern EAM-Projekt der Stadt Zürich. Einer wird Verkäufer in
einer Telefonfirma. «80 bis 85 Prozent finden etwas», so der Lehrer.
«Keinen Traumberuf zwar, aber einen Job.»
Ein paar Baustellen, Banken und Wohnblocks weiter die Tramont-Halle,
das neue Zentrum des EAM. Nebeneinander eine Schreinerei, eine
Malerei, eine Siebdruckerei, eine Metallverarbeitung, «Schöns Züri» und
oben unter dem Dach eine Näherei. Es begrüsst Hans-Martin Muggli, ein
ausgebildeter soziokultureller Animator. «Wissen Sie, was ein richtiger
Seitenwechsel ist?», fragt er. «Wenn man Ihnen das Portemonnaie
wegnimmt, die Wohnung und den Job kündigt, das Konto leert und die
Kreditkarte sperrt.»
Die Leute, die hier arbeiten, bekommen keinen Lohn, sondern zusätzlich
zur Sozialhilfe 300 Franken «Motivationszulage». Klar gebe es solche,
die sagten: «Für 300 Franken arbeite ich nicht.» Hinzu kommen 8
Franken fürs Mittagessen, macht nochmals gut 120 Franken im Monat,
aber darum geht es nicht. «Ziel ist die Qualifikation für den ersten
Arbeitsmarkt.» Mit dem ersten ist der richtige Arbeitsmarkt gemeint.
Der Achtstundentag beginnt morgens um 8 Uhr. Die Klienten werden hier
«Teilnehmer» genannt. Zwanzig fahren für «Schöns Züri» jeden Morgen
mit dem Velo los, den Stadtplan im Sack und das Farbkesseli auf dem
Gepäckträger. Manchmal geht’s hinauf zum Zoo oder nach Witikon, das
sind die Bergpreise. «Velofahren wirkt gut auf die Psyche», sagt
Animator Muggli. Eigentliches Ziel sind die vielen grauen Schaltkästen
der EWZ und der VBZ, die meistens verklebt, verschmiert oder versprayt
sind. Zu diesen Kästen pedalen die Sozialhilfeempfänger, bepinseln sie,
selbständig. Und sorgen für ein «Schöns Züri».
Nach dem ersten Monat kommt es zur beruflichen und persönlichen
Ressourcenerhebung. Entscheidend sind wieder die
«Schlüsselkompetenzen». Ist ein Teilnehmer unpünktlich oder sonst
nicht einsatzbereit, fällt er raus. Nach einem ersten halben Jahr kann
maximal ein zweites halbes anhängt werden. «Jetzt können Sie uns die
Frage nach der Effizienz stellen», sagt Animator Muggli und antwortet:
«Je nach Konjunktur. Zurzeit vermitteln wir dreissig Prozent, in den guten
Jahren waren es mehr.»
Die exakten Statistiken führt die EAM-Administration an der Langstrasse:
28,7 Prozent beträgt die Vermittlungsquote. Man kann das als
«bescheiden», aber auch als «beachtlich» einstufen. Die
EAM-Programme kosten 37,5 Millionen Franken. Andererseits tun
«Klienten», sobald sie zu «Teilnehmern» werden, etwas. Sie erbringen
Leistungen zugunsten der Öffentlichkeit und erwirtschaften mit Verkäufen
einen Ertrag von rund 5 Millionen Franken. Vor allem aber kann die Stadt
Zürich ihren 8500 Sozialfällen immerhin 1065 Jahresarbeitsplätze zur
Verfügung stellen.
Und wer beim EAM nicht mitmachen will? Wird bestraft, aber mild; ab
sofort noch milder als bisher. Laut den Skos-Richtlinien darf lediglich der
Grundbedarf II gekürzt werden, der im Kanton Zürich ohnehin halbiert
wird. Ab Sommer beträgt die Zulage noch 46 Franken pro Person. So tief
ist dann auch die maximale Sanktion für Sozialhilfeempfänger, die sich
«nicht kooperativ verhalten».
Dienstag, 4. Mai
«Muesch es Buggeli ha vom Schaffe, nid a Ranze vom Suufe», sagt der
Tätowierte zum Mazedonier. «Weisst du, ich bin ein bisschen Charlie
Chaplin.» Der Mazedonier torkelt theatralisch, Hans mischt sich ein,
meint: «Du bist ein bisschen viel Charlie Chaplin», nimmt dem
Mazedonier die Schweizer Kirschschoggi weg und droht ihm unter vier
Augen: «Morgen nehme ich dich nicht mehr mit, wenn du wieder so viel
getrunken hast.»
Der Job-Bus «Wald» ist ein spezielles EAM-Projekt. Drei Busse bringen
je sechs Taglöhner ins Grüne. Diese Teilnehmer sollen nicht qualifiziert,
nur «stabilisiert» werden, wie Sozialarbeiter sagen. Auch Leute, denen
es schlecht geht, sollen wissen: Es gibt in Zürich Wiedikon hinter dem
Bahnhof eine Brücke, auf die ich mich jeden Tag um 9.15 Uhr hinstellen
kann. Stehen zu viele da, entscheidet das Los, wer mitdarf. Früher, als
es noch 75 Franken pro Tag zu verdienen gab, kamen vor allem die
Fixer. Seit nur noch 30 Stutz und ein Mittagessen locken, erscheinen
auch Konsumenten legaler Drogen. «Vermutlich», sagt Hans, «hat hier
jeder ein Alkoholproblem».
Ausser Eugen. Der hat früher auch gesoffen, noch mehr gekifft, aber
jetzt läuft und läuft und läuft er. Drei Stunden und 27 Minuten hat er
gebraucht am Zürcher Marathon. Kaum ist der Morgenkaffee im Wald
getrunken, verwandelt sich Eugen jeden Dienstag vom Klient zum
Motivator: ein paar Lockerungsübungen, dann ein Footing auf der
Finnenbahn.
Der Tätowierte will nicht mitmachen, der Mazedonier auch nicht, sie
gehen mit vier andern zur «Gruppe Hans» und beginnen sofort mit der
richtigen Büez. Hans ist ein passionierter Naturschützer, kein
Sozialarbeiter. Er höre zu, mehr nicht. «Die Leute hier haben schon
genug mit Sozialarbeitern zu tun gehabt.»
Der Tätowierte nennt Hans trotzdem seinen «Job-Bus-Vater». Bei Hans
werde gearbeitet, und der Tätowierte will arbeiten. Aber nur jeden
Montag und jeden Dienstag. Er mache es halt gerade umgekehrt: Zwei
Tage arbeite er, dann ruhe er fünf. Heute produziert die «Gruppe Hans»
Bio-Pfähle. Hans lichtet mit der Motorsäge den Wald, im Auftrag der
Korporation Schlieren. Die Taglöhner entästen die gefällten Fichten, der
Mazedonier trägt die Stämme singend hinauf zur Strasse. Der Tätowierte
schält die Stämme. Mit dem Tätowierten kann man bei der Büez locker
das ganze Sozialsystem analysieren, er bezieht Sozialhilfe seit ewig; er
kennt mehrere EAM-Betriebe von innen. «Aber jeden Tag pünktlich
aufstehen liegt mir nicht. Wenn es schön und warm ist, gehe ich mit dem
Hund an den See.»
Ein Taglöhner kocht jeweils für die Gruppe, der heutige ist ein
ehemaliger Profi. Er bestimmt das Menü, kauft ein, muss mit acht
Franken pro Person auskommen und tischt dann auf: zum Entrée eine
Griessgemüsesuppe, zwei Sorten Salat – einen grünen und einen roten
(Randen-Rüebli) -, zum Hauptgang Lammgigot mit Kartoffelgratin, zum
Dessert Vanillepudding mit frischen Erdbeeren.
Die Stimmung ist richtig familiär. «Du musst Vitamine essen», wird eine
Frau aufgemuntert, der es gesundheitlich schlecht geht. Besprochen
werden die Halbfinal-Rückspiele der Champions League von heute und
morgen Abend. Einer erzählt, was er in 20 Minuten gelesen hat: dass
Ruth Metzler gestern bei ihrem Besuch im Bundeshaus ihre Bodyguards
als Studenten getarnt habe. Zwei fachsimpeln über die Mondfinsternis
von kommender Nacht zwischen 22 und 23 Uhr. Ein bisschen Streit
auch: Der Wortlose hat ein Lagerfeuer entfacht. «Das stinkt. Es ist doch
genügend warm heute.» Dann reden sie über Felix, den sie alle gekannt
haben. «An was ist er gestorben?» – «An was ächt? An Läberzirrhose!»
Nach dem Essen jassen drei Schweizer, während der Mazedonier das
Balkan-Grüppli unterhält. Die Kokserin, die brav Vitamine gegessen hat,
sitzt mit dem Wortlosen am Feuer und raucht. Alle rauchen, bis auf
Eugen. Wenn es eine allgemeine Regel gibt, die vom «Intake» in der
«Dorflinde» bis zum Job-Bus im Schlieremer Wald reicht, dann diese: der
typische Sozialfall raucht, oft mehr als drei Päckchen. Macht locker 15
Franken pro Tag, 450 Franken im Monat, womit die stärksten Raucher
unter den Sozialhilfeempfänger gegen 300 Franken Tabaksteuern
zahlen. Mit dem Job-Bus «Wald» dürfen sie maximal 300 Franken
verdienen.
Raffaela Vedova, früher auch beim Job-Bus «Wald», führt jetzt das
Werkatelier für Frauen in einem Hinterhof beim Letzigrundstadion. Sie
teilt ihre Teilnehmerinnen fix ein. Kategorie 1: die Tagesbeschäftigten,
ganz analog zum Job-Bus. Kategorie 2: die Regelmässigen. Viele von
ihnen arbeiten auch Teilzeit, aber nach einem fixen Plan. Ziel ist die
soziale Integration, das sei Stufe 1. Danach können diese Frauen in ein
nächstes EAM-Projekt vermitttelt werden, etwa in die Tramont-Halle in
Oerlikon, das sei Stufe 2. Gelinge von dort aus eine Vermittlung in den
richtigen Arbeitsmarkt, ist das Stufe 3. Klappt das nicht, wie in siebzig
Prozent der Fälle leider üblich, landen einzelne Frauen erneut im
Werkatelier für Frauen, wo sie maximal zwei Jahre weiterbeschäftigt
werden können. «Das ist dann Stufe 4 und natürlich keine Perspektive
mehr.»
Die Teilnehmerinnen, Migrantinnen mit wenig Deutschkenntnissen,
nehmen das helle Atelier anders wahr. «Das ist unsere Arbeit.» Sie
stellen Leinwände her in einem Doppelrahmen, imprägnieren sie und
malen sie weiss. Eine richtige Serienproduktion für ein riesiges
Warenhaus im nationalen Kunstbedarf. Irgendwann kommt aber immer
der Moment, da sie erfahren: Ihre Arbeit hier ist nur temporär. – «Haben
Sie auch Erfolgserlebnisse, Frau Vedova?» – «Wenn es eine
Teilnehmerin von der Stufe 1 in die Stufe 2 schafft.» Auch wenn damit
eine richtige Stelle auf dem richtigen Arbeitsmarkt noch weit weg sei.
Freitag, 7. Mai
10 Uhr. Peter legt eine CD der Rolling Stones ein, beginnt mit
Gemüserüsten und erzählt von der «Pfuscharbeit der Ärzte». Die hätten
ihm die Milz operiert und dann entdeckt: Sein Herz sei noch zu 18
Prozent leistungsfähig. Der Entzug vom Alkohol, das ging ja noch. Aber
der Entzug vom Morphium, das man ihm im Spital verabreicht hat.
Happig. Dann musste er in eine Klinik in den Aargau, aber er hielt nicht
durch.
Zurzeit sei er trocken, sagt er. Und ist im «t-alk», dem vom
Sozialdepartement geführten Treffpunkt für Alkoholiker. Fünf Fixer-Stübli
gibt es in Zürich, aber nur einen Alki-Treff. Den Stoff müssen die Leute
selber mitbringen, erlaubt sind Bier und Wein. Eine Art Kneipe, aber eine
mit Waschmaschine und Tumbler und Secondhandkleidern im Angebot.
Nichtalkoholische Getränke sind gratis. Zigaretten werden im «t-alk», wie
in der dritten Welt üblich, einzeln verkauft. Man liest Zeitung, trinkt, talkt,
spielt, man kann hier sogar Geld verdienen. Sechs Stutz in der Stunde
fürs Kochen, den Vorplatz wischen, eine Garderobe montieren. Alles wird
auf der Jobkarte notiert, damit keiner über 300 Franken im Monat
hinauskommt; die Regeln der Sozialhilfe in Zürich werden eingehalten.
Wie in einer WG hat es Körbchen, in denen die Obdachlosen über Nacht
ihre private Habe deponieren können. Das kulturelle Rahmenprogramm
bietet heute eine Gratisvorstellung im Zirkus Knie. Manchmal gehen sie
kegeln, oder sie braten auf dem Üetliberg Würste.
Das Mittagessen, das Peter aus dem Vorrat im Kühlschrank improvisiert,
kostet wie immer vier Franken. Salat, Nudeln, eine Art Ratatouille mit
Speck. Im Durchschnitt werden 35 Menüs verkauft. Beim Essen
schwadroniert einer von Spermien im Weltall. In seiner Jackentasche ein
zerlesenes Buch: «Eine kurze Geschichte der Zeit» von Stephen
Hawking. «Kenne ich auswendig.» Unvermittelt fragt er: «Hast du
Kinder?» Er wüsste nämlich, worauf es ankäme in der Erziehung. Ein
langhaariger Sanfter, Typ New Age, tritt hinzu: «Du bist immer negativ.
Alles ist Scheisse. Immer total negativ.»
«Wenn es nicht mehr geht, nehmen wir die Leute hinunter ins Büro oder
raus aufs Bänkli und machen mit ihnen einen Verhaltensvertrag mit
klaren Regeln. Wer diese nicht einhält, wird hinausgestellt.» Aber die
Betreuerin staunt selber: Es geht kaum etwas kaputt, Zigis werden brav
im Aschenbecher ausgedrückt. Der «t-alk» auf der Gessnerbrücke, nahe
beim HB, das ist eine geschützte Heimat, wo man bis zu zwanzig Dosen
Bier am Tag trinken kann. Ohne dass jemand sagt: «Du musst weniger
trinken.» Hier leben die Sozialarbeiter nach einem andern Motto: «Du
bist uns wertvoll, so, wie du bist.»
14.30 Uhr, Start zur Patrouille. Zwei Männer und zwei Frauen ziehen ihre
blauen Jacken an, auf denen «sip züri» steht, was nach Sittenpolizei tönt,
aber eigentlich die Abkürzung ist für «Sicherheit, Intervention,
Prävention», eine neue Abteilung des Sozialdepartements. In zivil sehen
die vier aus wie ganz normale Gassenarbeiter, aber in der Halbuniform
werden sie zu halben Polizisten: «Wir zielen nie auf den Mann, nie auf
die Frau, immer auf das Verhalten», erklärt Christian Fischer das Prinzip
Sip.
Ecke Militär-/Langstrasse, Zürichs Zentrum der kleinen Dealer. «Du
musst weg, das ist eine Bushaltestelle»: Die vier von der Sip kennen die
Leute, die sie wegschicken. Und diese wiederum kennen die Argumente
der Sip: Wer länger als zwei Busfrequenzen stehen bleibe, aber in keinen
Bus einsteige, benutze diesen Platz nicht mehr als Bushaltestelle. «Ich
wohne gleich um die Ecke», meint einer und bleibt und bleibt. «Weg hier.
Oder wir holen die Polizei.» Tatsächlich tauchen zwei Zivile der Soko auf,
der Sonderkommission Brennpunkte, und knallen den Typen gegen das
Schaufenster. Die Sip zieht ab – wie immer, wenn die Polizei kommt. Nur
die Verkäuferin des Kleiderladens, die normalerweise jammert, wie
schlecht ihre Geschäfte liefen wegen der Drögeler, klagt jetzt: «Brutal,
wie sie den gegen die Scheibe gewuchtet haben!»
Nächster Einsatz: Stadelhoferplatz, den Christian Fischer «unser Labor»
nennt. Von hier will die Sip Züri niemanden wegweisen, dieser Platz ist
für alle da. Für alle, das heisst: nicht für Punks allein. «Am Anfang
mussten wir das Nutzungsmonopol der Randständigen brechen.»
Mediation, runder Tisch, das ganze Vokabular der Konfliktbewältigung
wurde durchgespielt. «Inzwischen hat es zahlenmässig sogar mehr
Klienten als früher, aber sie werden nicht mehr als Bedrohung gesehen»,
sagt Christian Fischer. Mit Klienten meint er «Angehörige einer
Risikogruppe». Drogenkonsumenten, Alkoholiker, Punks.
Der Beizer vom Restaurant «Stadelhofen» will Christian Fischer
sprechen, unter vier Augen. Bald kommen beide auf den Platz, damit der
Wirt den Punks selber sagen kann, was ihm nicht passt: «Dass ihr immer
da steht unter dem Dach der Bühne, ich habe diesen Platz gemietet für
das Gartenrestaurant.» Ein Punk: «Es regnet. Du machst keinen Franken
weniger Umsatz.» Nach einigem Hin und Her ein Deal: Die Punks dürfen
weiter unterstehen. Sofern sie keine Sauerei machen und die Musik nicht
allzu laut wird. Aber nur, solange es regnet. Und um 22 Uhr wird die Sip
kontrollieren. Zwei Stunden später beginnt erneut die Sisyphus-Arbeit an
der Ecke Militär-/Langstrasse. Die vier von der Sip weisen zehn
Drogenhändler weg, was ihnen nach fast 30 Minuten gelingt.
«Temporäre Zero Tolerance», nennt es Christian Fischer.
Im hinteren Teil der Kasernenwiese, wo der Kräutergarten ist und ein
Kinderspielplatz, nistet sich eine Szene ein. Auch jetzt picknicken sieben
Leute, trinken Wein, lassen einen Joint kreisen – und ihre Hunde frei
laufen. Die vier Sipler in ihren Halbuniformen grüssen und verlangen
freundlich: Hunde an die Leine. Es wird geflucht, geschrien, gestikuliert,
eine Frau rastet aus, und am Ende sind «alle sieben Klienten, inkl.
Hund» fort, wie die Sip in ihrem Rapport festhält. Dabei war gar niemand
weggeschickt worden, es ging nur um die Hunde.
Die Sip sucht das Areal ab, findet zwei Spritzen und ein leeres
Methadonbüchslein, während eine alte Frau mit einem neuen Hund
aufkreuzt. «Warum soll ich meinen Hund an die Leine nehmen?» – «Weil
dort ein Kinderspielplatz ist.» – «Nein, hier hat es keine Kinder, hier hat
es nur Alkoholiker mit ihren Hunden. Und wenn die einmal für fünf
Minuten nicht da sind, benutze ich die Gelegenheit, dass ich meinen
Hund auch einmal frei laufen lassen kann.» Die Sip bleibt stur: «Gehen
Sie nach drüben, im anderen Teil des Kasernenareals sind Hunde
toleriert.»
Um 22 Uhr wie versprochen zurück zum Stadelhofen. Es gab in der
Zwischenzeit einen Polizeieinsatz, telefonisch bestellt vom Apotheker.
Die Sip fragt bei der Soko telefonisch nach, wie es gelaufen sei. Alle
Punks wurden weggewiesen, heisst es. Inzwischen sind etwa 15 wieder
da. Es ist ruhig und sogar aufgeräumt.
Freitag, 14. Mai
Im Amtshaus am Helvetiaplatz. Monika Stocker fügt zwei letzte
Bemerkungen an. Zum einen würde sie gerne eine richtige Firma
gründen – um die vielen arbeitswilligen Sozialfälle kommerziell zu
vermitteln. Halbtageweise zum Beispiel fürs Wäschen, Glätten, Putzen.
Massgeschneiderte Angebote, mit der Stadt Zürich als Garantin. «Es
gäbe viele Familien mit Kindern, die glücklich wären, sie könnten eine
flexible Haushaltshilfe bestellen, ohne sich gleich um die
AHV-Abrechnung, Verträge und all diesen Kram kümmern zu müssen.
Und die Integration kommt gratis hinzu.»
Zum anderen würde sie «gegen das Gerede vom aufgeblähten
Sozialstaat» gerne ein Polit-Experiment wagen, wenn auch nur in
Gedanken. Nämlich ihre Zahlungen – wie gesagt: mehr als eine Million
pro Tag – einstellen. Eine Woche lang nur. «Das müsste in jeder
Denner-Filiale zu spüren sein, dieses Geld fliesst ja direkt in den
Konsum.» Ferner könnte das Sozialdepartement seine 1500
Übernachtungsangebote – von der Notschlafstelle über das begleitete
Wohnen zu den Wohnheimen – schliessen. Ebenfalls nur sieben Nächte
lang. «Und dann sehen wir mal, was in der Stadt los ist!»