Ein Volk von Invaliden Warum? 24.04.2003, Weltwoche

Ein Volk von Invaliden
Warum? 24.04.2003, Weltwoche
Die Zahl arbeitsunfähiger Menschen nimmt nirgendwo so schnell zu wie in der Schweiz. Warum interessiert sich niemand für die Kosten?Hilfe! Immer mehr Leute sind nicht mehr fit genug für den Schweizer Arbeitsmarkt. Das soll nicht als Vorwurf verstanden werden, dies ist eine statistische Tatsache, die etwas hochtrabend «Invalidisierung der Gesellschaft» genannt wird. In Gang gekommen ist ein Prozess, bei dem sich alle Zahlen alle zehn bis zwölf Jahre verdoppeln. Betrug die Zahl der IV-Rentner 1992 noch 140000, waren es letztes Jahr 220000. Zurzeit bezieht in der Alterskategorie der 50- bis 54-Jährigen bereits jeder zehnte Bewohner dieses Landes eine Leistung der Invalidenversicherung (IV), bei den über 60-Jährigen bald jeder vierte Mann und jede sechste Frau.Während in der Öffentlichkeit laut über eine Erhöhung des Rentenalters debattiert wird, läuft im Alltag still und leise das andere Drehbuch ab: Immer mehr Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz erreichen das Rentenalter nicht. Unfreiwillig. Weil diese Leute für nicht länger erwerbsfähig erklärt werden. Aus medizinischen, also «objektiven» Gründen. Nur redet niemand davon. Betroffen sind keineswegs nur die Älteren, die es auf dem Arbeitsmarkt etwas schwerer haben. Am markantesten steigt die «Invalidisierungswahrscheinlichkeit» bei den 30- bis 44-Jährigen.Zwar wachsen auch andere Zweige der Sozialversicherungen. Aber keiner wächst so stark wie die IV. Lagen die Ausgaben 1990 noch bei vier Milliarden, ist der neuste Zwischenstand auf runde zehn Milliarden Franken aufgelaufen und ein Ende dieser Entwicklung nicht abzusehen. Die jährlichen Zuwachsraten schwanken zwischen fünf und acht Prozent, was international beachtlich ist. In keinem Land der Welt hat die fortschreitende Invalidisierung ein solches Tempo, wie ein neuer OECD-Report zeigt. Lagen 1990 die IV-Ausgaben der Schweiz bei 1,0 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) und damit weit unter dem Durchschnitt der OECD-Länder, hat die Schweiz mit den heutigen 1,8 Prozent des BIP den Durchschnitt der OECD-Länder (1,3 Prozent) längst übertroffen. Einzig die skandinavischen Länder und vor allem die Niederlande (2,6 Prozent des BIP) kommen auf höhere Werte, allerdings sind dort die Zuwachsraten tief oder negativ (Niederlande).

Was zum Kuckuck ist in den letzten zwölf Jahren eigentlich passiert, dass die Schweizerinnen und Schweizer heute doppelt so krank sind wie früher? Auf den ersten Blick natürlich nichts. Man sieht einem Erwerbsunfähigen den Tatbestand der Erwerbsunfähigkeit auch nicht unbedingt an. Im Jargon der Sportjournalisten befinden wir uns «im mentalen Bereich», hinter der unheimlichen Vermehrung der Fälle verbergen sich hauptsächlich zwei Diagnosen: Erstens nehmen die «Psychosen und Psychoneurosen» stark zu, zweitens in etwas geringerem Ausmass die «Erkrankungen an Knochen und Bewegungsorganen», die in der Umgangssprache oft als «Rückenschmerzen» artikuliert werden, und daneben kommt es oft zu einer Kombination von solch orthopädischen Leiden mit psychischen Leiden. Frappant auch hier der internationale Vergleich: In keinem anderen OECD Land beruht die medizinisch diagnostizierte Erwerbsunfähigkeit so stark auf «mentalen Ursachen» wie in der Schweiz. 1985 betrug dieser Anteil 24 Prozent, inzwischen liegt er laut neuster OECD-Studie bei 39 Prozent. Weltrekord, aber kein öffentliches Thema.

Höchstens beim Militär nimmt man den Vorgang zur Kenntnis: «Die Leute werden auf den blauen Weg verwiesen», heisst es ungeschminkt. Oder plakativ auf dem Blick-Aushang: «Weicheier! – Jeder vierte Rekrut macht schlapp». Tatsächlich gehen die heutigen jungen Männer mit dem praktischen Beispiel voran: Die Zahl derjenigen, die nicht mehr fit genug sind, hat sich in den letzten zehn bis zwölf Jahren verdoppelt. Bei der Aushebung wird inzwischen jeder Fünfte für «untauglich» erklärt. Vom Rest, der einrückt, muss nochmals jeder Fünfte heimgeschickt werden, aus medizinischen Gründen, um später mit 75 Prozent Wahrscheinlichkeit auch ausgemustert zu werden.

Die Gründe hinter der militärischen Untauglichkeit decken sich mit den Gründen hinter der zivilen Erwerbsunfähigkeit: Verantwortlich für die epochale Zunahme der Fälle sind erstens psychische Leiden, zweitens orthopädische, und oft ist es eine Kombination von diesen beiden. «Der krumme Rücken macht deutlich mehr Beschwerden, wenn der Rekrut zu Hause familiäre Probleme oder Beziehungsprobleme hat», beobachtet Franz Frey, Kreisarzt im Generalstab. Ein ähnlich zweideutiges Muster bei Plattfüssen: bei manchen «ein medizinischer Grund für Dienstuntauglichkeit», bei andern Rekruten, die sich zu Polizisten ausbilden lassen wollen und darum die RS absolvieren müssen, «no problem».

Aus der Schmerzzone wird eine Grauzone, gegen diesen Trend vermögen selbst harte Schweizer Militärverantwortliche nichts auszurichten. Etwas leiser klagt Beatrice Breitenmoser, die öffentlich unbekannte Chefin des öffentlich unterschätzten 10-Milliarden-Werks IV: «Der ehemals klare Krankheitsbegriff wird zunehmend vernebelt.»

Ins Auge sticht, dass nicht überall im Schweizerland die jungen Männer gleichermassen handicapiert sind. Die Quote der Militärdienst-Untauglichen pendelt in Zentralschweizer Kantonen wie Zug oder Nidwalden um 15 Prozent, wogegen sie im Kanton Jura 30 Prozent, in Basel-Stadt 37 Prozent erreicht hat. Noch mehr ins Auge sticht, dass in der Invalidenversicherung ähnlich mysteriöse Unterschiede zum Vorschein kommen, und zwar zwischen den genau gleichen Kantonen. Das eine Extrem bildet Basel-Stadt, wo 8,7 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung eine IV-Rente beziehen, gefolgt vom Kanton Jura mit 7,3 Prozent; am anderen Ende stehen Nidwalden und Zug mit weniger als halb so vielen IV-Renten-Bezügern, 3,5 und 3,6 Prozent der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter.

Aber was heisst das schon? Wer würde behaupten, dass die Basel-Städter so viel kränker sind, dass hier jeder Zwölfte eine IV-Rente bezieht, in Nidwalden nur jeder Dreissigste?

Alles ist relativ, besonders relativ aber sind Begriffe wie «malade» und «munter», «lahm» und «fit» geworden. Hochoffiziell sind nicht mal die besten Fachleute zu einem schlüssigen Urteil fähig. «Ein Mensch ist nicht entweder gesund oder krank, sondern immer mehr oder weniger gesund oder mehr oder weniger krank»: Psychologen und Psychiater halten sich an das «salutogenetische Gesundheitsmodell nach Antonovsky», erfunden 1979, mit Folgen über den heutigen Tag hinaus. «Jede vierte Frau und jeder fünfte Mann erkranken mindestens einmal im Leben an einer Depression», hat inzwischen eine ganz gewöhnliche FDP-Ständerätin aus Biel, Christine Beerli, erkannt. «Zurzeit scheint sich die Depression in der Schweiz zu einer Epidemie-ähnlichen Volkskrankheit zu entwickeln.» Das Schlimmste stehe uns erst bevor: «Offensichtlich übersehen die Hausärzte jede zweite Depression», schätzt Juristin Beerli.

Rein quantitativ holt das medizinische Fachpersonal allerdings auf. Die Zahl der Ärzte steigt konstant an, was laut Krankenkassen die konstant wachsenden Gesundheitskosten verursacht. Noch schlimmer steht Beatrice Breitenmoser von der IV da, denn sie muss auf eine sich multiplizierende Zahl von Psychiaterinnen und Psychotherapeuten verweisen. Konkret: Hat die Zahl aller FMH-Ärzte mit eigener Praxis in den letzten fünfzehn Jahren um die Hälfte zugelegt, hat sich die Zahl der Psychiater und Psychotherapeutinnen mit eigener Praxis im selben Zeitraum mehr als verdoppelt, die Zahl der Jugendpsychiater mehr als verdreifacht.

Dass es auch bei der Psychiaterdichte krasse regionale Unterschiede gibt, überrascht wohl niemanden mehr. Noch weniger verwundert, welcher Kanton am einen Extrem steht: Basel-Stadt. Rein statistisch kommt hier auf alle 1500 Einwohnerinnen und Einwohner eine Psychiaterin oder ein Psychotherapeut mit eigener Praxis (ohne Jugendpsychiater). Damit werden die Baslerinnen und Basler von mehr professionellen Seelendoktoren behandelt als die übrigen Schweizerinnen und Schweizer von Zahnärzten (gut 1800 Einwohner pro Zahnarzt). Zählt man auch noch die Psychiater der Kliniken hinzu, insbesondere der renommierten PUK (Psychiatrische Universitätsklinik) Basel, kommt die Stadt am Rheinknie auf eine Versorgungsdichte, die weltrekordverdächtig ist.

Dicht hinter Basel folgt gleich Genf mit 2000 Einwohnern pro Praxis eines Psychiaters oder einer Psychotherapeutin. In Zürich kommt eine Praxis auf immerhin 3200 Einwohner, im Kanton Zug auf 16800 Einwohner. Spiegelbildlich dazu gesellt sich die Wahrscheinlichkeit für eine Person, IV-Rentner oder IV-Rentnerin zu werden: In Basel-Stadt beträgt sie wie gesagt 8,7 Prozent, in Genf 5,5 Prozent, im Kanton Zürich 4,4 Prozent, in Zug 3,6 Prozent.

Man kann diese Entwicklung natürlich auch positiv sehen. «Psychiatrische Erkrankungen sind in der Gesellschaft kein Tabuthema mehr», stellt Beatrice Breitenmoser nüchtern fest. «Folgerichtig wirkt heute eine Invalidität aus psychischen Gründen weniger stigmatisierend als früher.» Gleichzeitig löst sich das Rätsel auf, warum sich in der IV alle Zahlen alle zehn bis zwölf Jahre verdoppeln. Die Leute werden nicht kränker. Die Zunahme der Fälle kommt vielmehr davon, «dass immer mehr Aspekte der Lebensqualität mit medizinischer Terminologie erfasst und mit medizinischen Methoden angegangen werden». Beatrice Breitenmoser nennt?s eine «Medizinalisierung des Lebens», die sich auf das Verhalten der Versicherungen auswirke. «Die Medizinalisierung bedeutet Delegation von Verantwortung an die Medizin.»

Oder polemisch gesagt: Richtig gesund bin ich heute erst dann, wenn ich zu meinen Gebrechen stehe. Ausserdem leben wir in einer freien Gesellschaft mit freier Arztwahl. Jeder kann den Arzt und den Psychiater so lange wechseln, bis er einen findet, der die Krankheit diagnostiziert, unter der er von Anfang an gelitten hat. Eine ähnliche Botschaft zumindest verbreitet die Stiftung Pro Mente Sana: «…weil psychisches Leiden zum Leben gehört», wird man auf ihrer Internet-Seite begrüsst. Und Pro Mente Sana ist nicht irgendeine Organisation. Sie versteht sich als Pressure-Group von «über 70000 Personen, die in der Schweiz eine Invalidenrente aufgrund einer psychischen Beeinträchtigung» beziehen.

Alles fliesst. Tabu ist nicht mehr das «Invalidsein», tabu werden allenfalls kritische Fragen zur zunehmenden Invalidisierung. Kein Politiker traut sich an dieses Thema, kein Arbeitgebervertreter, sogar die SVP fällt auf durch Berührungsängste. Das ist erstaunlich, kostet die IV doch bereits zehn Milliarden Franken jährlich, ohne die IV-Ergänzungsleistungen gerechnet, die bald eine weitere Milliarde Franken jährlich ausmachen. Nächstens muss die Mehrwertsteuer um 0,8 Prozent erhöht werden, das ist beschlossene Sache, obschon alle Politiker wissen, dass diese Massnahme nicht genügen wird, die IV-Defizite wegzubringen. Doch wer bei den Invaliden sparen will, muss in einer «Arena»-Sendung gegen Rollstuhlfahrer antreten, als ob die Rollstuhlfahrer für die Kostensteigerungen verantwortlich wären. Also haben die Politiker auch erst ein einziges Mal seit 1960, der Gründung der IV, versucht, bei der IV zu sparen – vergeblich. Den (zweifelhaften) Vorschlag, die Viertelsrenten abzuschaffen, lehnte das Volk mit siebzig Prozent Nein wuchtig ab.

Ein einsamer Experte nur zieht fleissig durch die Lande und gegen die herrschende «politische Korrektheit» vom Leder. Erwin Murer heisst er, ein kritischer Jurist im Rang eines Professors an der Universität Fribourg, hält Vortrag um Vortrag, analysiert die «rententreibenden Faktoren», schreibt Aufsätze, manchmal zusammen mit Psychiatern, und zeigt mit dem Finger immer und immer auf denselben wunden Punkt: auf die «Kategorien unklarer Kausalität», bei denen die ewig gleichen «unspezifischen Symptome» geschildert würden wie «Kopfschmerzen, Schlaflosigkeit, Konzentrationsstörungen, Schwindel, Müdigkeit».

Selbst Erwin Murer aber ist ein anständiger Mann. Er würde die Betroffenen nie als «Hypochonder», «Simulanten», «Schmarotzer» hinstellen. «Die Versicherten leiden tatsächlich», attestiert ihnen der streitbare Professor. Fraglich sei einzig, ob diese Symptome auf eine Gesundheitsschädigung zurückzuführen seien oder ob nicht eine «Stresssituation» Ursache der Invalidität sei. Oft stünden am Ausgangspunkt familiäre Probleme, etwa eine Scheidung, Unsicherheiten am Arbeitsplatz, Sprachschwierigkeiten, und bei Ausländern sorgen beispielsweise auch politische Unruhen im Heimatland für Stress.

Das tönt ein bisschen wie die berühmte Frage nach dem Huhn oder dem Ei, aber das ist nicht der Fehler des Erwin Murer. Er beschäftigt sich halt mit der Invalidenversicherung, und dort gehören solche Fragen zum gewöhnlichen Alltag. Die Kriterien für Invalidität sind klar, aber theoretisch. IV-Chefin Breitenmoser unterscheidet fein zwischen «IV-relevanten» und «IV-fremden» Faktoren. «IV-relevant» ist eine Erwerbsunfähigkeit, wenn sie Folge eines «körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheitsschadens» ist. «IV-fremd» sind wirtschaftliche Ursachen wie eine schlechte Konjunktur. «IV-fremd» sind auch persönliche Gründe wie das Alter der Betroffenen, eine fehlende Ausbildung oder ungenügende Sprachkenntnisse. «IV-fremd» sind ferner soziokulturelle Faktoren wie Entwurzelung und mangelnde gesellschaftliche Integration.

«In der Realität», gibt Beatrice Breitenmoser zu, «ist häufig ein Miteinander von IV-relevanten und IV-fremden Faktoren festzustellen.» Heikel seien etwa die Entscheide bei Alkoholikern oder Drogenabhängigen. Suchtabhängigkeit sei zwar eine Krankheit, aber sie verunmögliche nicht per se die Ausübung einer Erwerbstätigkeit. Tückisch auch viele Entscheide bei Ausländern: Was tun mit einem Bauarbeiter, der wegen Rückenbeschwerden nicht mehr auf dem Bau arbeiten kann, jedoch keine andere Arbeit findet, weil er quasi Analphabet ist, keine Ausbildung hat und sich kaum in der Landessprache verständigen kann? Was tun mit Leuten, die sich auf 500 Stelleninserate beworben haben, vergeblich, und deswegen verzweifeln? Was mit einer Person, die ganz einfach nicht mehr will?

«Der Mediziner hat abzuklären, ob diese Person wollen kann», antwortet Jus-Professor Erwin Murer kühl. «Und der Therapeut muss ihr dazu verhelfen, dass sie wollen will.»

An derart eindeutigen Aussagen scheitern allerdings sogar die Militärärzte. Achtzig Prozent der psychiatrisch Entlassenen haben in ihrem zivilen Leben «nie eine spezifische psychiatrische Betreuung» nötig. Also sind diese Betroffenen «nicht im eigentlichen Sinn psychisch krank», heisst es in einer Studie. «Die Betroffenen reagieren jedoch mit psychiatrischen Symptomen auf ausserordentliche Situationen, wie sie das Militär darstellt.»

Später im Leben gibt es immer wieder andere ausserordentliche Situationen, darunter auch ganz offensichtlich traumatisierende Ereignisse wie Unfälle und Verbrechen. Eine Vergewaltigung kann eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) und nebenbei auch noch Schuld-, Scham- und Minderwertigkeitsgefühle auslösen. In einem solchen Fall bejaht selbst der kritische Jurist Erwin Murer eine «Adäquanz». Dasselbe attestiert er einem 48-jährigen SBB-Lokführer, nachdem er einen auf dem Geleise liegenden Selbstmörder überfahren hatte, in der Folge eine «ausgeprägte Phobie vor dem Führen von Lokomotiven» entwickelte, den Beruf wechseln musste und eine Lohneinbusse erlitt.

Anders der Fall eines 32-jährigen Lastwagenfahrers, der nach einem Unfall die Führerkabine selbständig verliess, kreidebleich, und seither über «Rückenschmerzen» klagte. Ausser einer Wirbelfraktur wurde nichts organisch Objektivierbares gefunden. Die psychiatrischen Abklärungen ergaben aber, dass der Mann, eine «selbstunsichere, kompensatorisch extrem leistungsorientierte, infantile Persönlichkeit», tatsächlich litt. Nur soll das nichts mit dem Unfall zu tun gehabt haben. Kurz zuvor wurde bei ihm eine Sterilität infolge geringer Spermienzahl nachgewiesen, seine Frau erwog die Scheidung – und das Eidgenössische Versicherungsgericht in Luzern lehnte den Invaliditätsfall ab.

Für eine Dauerkontroverse sorgt das berühmte Schleudertrauma, das nach einigen Wochen meistens wieder abklingt, in einigen wenigen schweren Fällen aber chronisch wird. Aller- dings ohne dass dies pathologisch an der Halswirbelsäule (HWS), den umgebenden Weichteilen oder dem Hirn nachgewiesen werden könnte. Trotzdem ist gemäss offiziellen Urteilen des Eidgenössischen Versicherungsgerichtes das HWS-Distorsionstrauma «erfahrungsgemäss geeignet, psychische Fehlentwicklungen auszulösen». Damit öffnet sich ein weiteres Feld von Huhn-Ei-Fragen – mit verdächtigen regionalen Abweichungen: «In unserer Agentur in Basel werden rund achtmal mehr Schleudertraumen gemeldet als in Genf», sagt Willi Morger, Suva-Geschäftsleitungsmitglied. Erklären lassen sich solche Differenzen allenfalls durch kulturelle Faktoren. Romands haben ein unverkrampfteres Verhältnis zum Automobil, womöglich äussert sich das bis zur Unfallverarbeitung.

«Tendiert unser Sozialversicherungssystem zur Invalidisierung?», lautete der Titel einer Tagung in Luzern, an der Erwin Murer erneut gegen die herrschende «politische Korrektheit» ankämpfte und das Wort «Invalidisierung» durch «Psychiatrisierung» ersetzte. Der Jurist konnte die ökonomischen Anreizeffekte zwar auch nicht beziffern, aber Murer war sich sicher, «dass sehr viel Geld ausgegeben wird für Fälle, in denen kein wirklich invaliditätsrelevanter Gesundheitsschaden zugrunde liegt». Ökonomen haben sich bisher nicht in diese Diskussion eingemischt. «Ein interessantes Thema!», meint Jürg H. Sommer, der Sozialversicherungsexperte der Universität Basel. Aber auch er verfügt über keine Gewissheiten, nur über eine dumpfe Ahnung: «Problematisch scheint mir die stark steigende Zahl an jüngeren IV-Rentnern, die auf vagen psychischen und psychosomatischen Störungen beruht.»

Die IV-Rente, so tief wie die AHV-Rente, maximal 2110 Franken im Monat für Vollinvalide, ist sicher kein Anreiz, sich invalid schreiben zu lassen. Im Gegenteil, muss doch jeder vierte IV-Rentner noch eine IV-Ergänzungsleistung beantragen. Sind die Betroffenen zusätzlich bei einer Pensionskasse versichert, sieht die Lage besser aus – oft unabhängig davon, wie viele Beiträge sie effektiv einbezahlt haben. Drei Viertel der Pensionskassen nämlich halten sich im Invaliditätsfall an fixe Leistungsziele (zum Beispiel: sechzig Prozent des versicherten Lohns). Haben die Betroffenen zudem Kinder in Ausbildung, gibt?s neben den Kinderrenten der IV auch noch solche von der Pensionskasse. Damit dürften viele Versicherte das Rentenmaximum erreichen, das mit neunzig Prozent des mutmasslich entgangenen Lohns definiert ist, was zweifellos eine stattliche Rente darstellt. Dieses Neunzig-Prozent-Maximum wiederum erreichen fast alle Invaliden, die eine Berufsunfallversicherung haben und ihre Erwerbsunfähigkeit auf einen Unfall zurückführen können. So wird neben der IV-Rente eine Invalidenrente der Unfallversicherung fällig (achtzig Prozent des versicherten Lohns). Zurzeit richtet die staatliche Suva 76000 Invalidenrenten aus. International beachtlich sind vor allem die Kosten der Berufsunfallversicherung insgesamt: In der Schweiz betragen sie 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts, im Durchschnitt der OECD 0,35 Prozent. Man darf das nicht als Vorwurf verstehen, sondern als Beweis dafür, dass sich auch Leute, denen es dreckig geht, rational verhalten. Sie versuchen, die Rente dort abzuholen, wo sie am höchsten ist.

Nur: Allmählich rumort es. Nicht bei den Unfallversicherern, sondern im Gebälk der Pensionskassen. Sie haben nämlich noch weniger juristischen Handlungsspielraum, müssen die Entscheide der IV-Stellen übernehmen und fühlen sich, wie Beat Conrad von den Allianz-Versicherungen ausführt, «am Gängelband der IV». Logische Folge ist eine parallele Entwicklung der Zahlen, die sich alle zehn bis zwölf Jahre verdoppeln. 1992 bezahlten die Pensionskassen 60597 Invalidenrenten aus, 2000 waren es 105408, neuere Zahlen gibt es nicht, aber die Wirkungen sind spürbar. Inzwischen mussten in vielen Fällen die Lohnprozente für Risikobeiträge erhöht werden, teilweise massiv, nur gibt es dazu keine Statistiken. Am stärksten leiden wohl kleine Handwerksfirmen.

Es ist unglaublich, aber wahr: Niemand in der Schweiz ist an der vollen Kostenwahrheit über die Invalidisierung interessiert. Das hat System. Bis vor kurzem haben Arbeitgeber und Arbeitnehmer ein gemeinsames, aber gefährliches Spiel getrieben. Abzulesen ist das etwa in den tiefroten Bilanzen der Pensionskasse der SBB, wo früher «ein Teil der vom Arbeitgeber initiierten vorzeitigen Pensionierungen durch ÐInvaliditätsfälleð gelöst wurde». So steht es hochoffiziell in einem Revisionsbericht von Atag Ernst & Young. Ein Skandal, aufgedeckt von der nationalrätlichen Geschäftsprüfungskommission. Aber von links bis rechts schauen die Politiker weg.

Oskar Leutwiler, Pensionskassenexperte bei Pricewaterhouse Coopers, schildert das Prinzip so: «In Zeiten der Hochkonjunktur versucht jeder Arbeitgeber, jeden Arbeitnehmer zu beschäftigen. Kommt es aber zur Krise, meldet der Arbeitgeber gesundheitlich Angeschlagene als invalid.» Medizinischen Gutachten vertraut der studierte Mathematiker Leutwiler kaum: «Rückenschmerzen oder psychische Krankheiten, etwa Angstzustände, können auch vorgetäuscht werden.» Es sei einfach eine Tatsache, dass steigende Sozialleistungen rententreibend wirken: «Je höher das gesamte Ersatzeinkommen, desto interessanter ist es, krank zu sein.»

Die IV-Rente, ergänzt durch eine Pensionskassenrente, ist oft attraktiver als die Arbeitslosenversicherung, die lediglich siebzig Prozent des Lohns auszahlt, begrenzt auf 400 Tage. «Verständlicherweise», meint Pensionskassenexperte Leutwiler, «versuchen Arbeitslose gelegentlich, ihre Existenz mit einer Invalidenrente aufzubessern.» Fachleute sprechen von «latenten Invaliditäten» und meinen Gesundheitsschäden, die in Zeiten guter Konjunktur nicht geltend gemacht werden, weil ja auch niemand deswegen erwerbslos wird, bei Ausbruch einer Rezession dann aber nachgemeldet werden – zu Recht.

«Wer nicht mehr funktioniert, fliegt raus», übertitelte der Tages-Anzeiger einen Artikel über die «rasant» steigende Zahl der IV-Rentner. Dieser Titel sei falsch, korrigiert ein Mann der Praxis, Andreas Dummermuth von der IV-Stelle in Nidwalden, dem Kanton mit der tiefsten IV-Quote. «Wer nicht mehr funktioniert, fliegt nicht raus, sondern anderswohin.»

Dabei stellt die IV-Stelle nur das Ende einer langen Kette dar: In der Regel wird ein Patient zunächst vom Hausarzt «arbeitsunfähig» geschrieben, dann an den Spezialisten weitergereicht. Finanziell getragen wird der Fall in den ersten beiden Jahren meist von der Krankentaggeldversicherung. «Nach einer Arbeitsunfähigkeit von sechs Monaten beträgt die Chance, in die Arbeitswelt zurückzukehren, gerade noch fünfzig Prozent», weiss ein anderer Mann der Praxis, René Kramer von der Krankenkasse Helsana. Bis die IV einen Fall zu Gesicht bekommt, ist es also oft schon zu spät. Trotzdem wird die IV alles tun, um die Betroffenen mit besonderen Massnahmen wieder in den Arbeitsmarkt zurückzubringen. «Eingliederung vor Rente!» lautet dazu das politische Schlagwort.

Mehr Mediziner finden mehr

Gelingt das nicht, kann die IV auch nicht mehr tun, als die ärztlichen Gutachten dahingehend zu begutachten, ob die Ausrichtung einer IV-Rente gerechtfertigt ist. Die Ärzte der IV-Stellen selber dürfen Patienten nicht eigenhändig untersuchen. Dieser Punkt – immerhin – wird nun geändert. Mit der vierten IV-Revision dürfen die IV-Stellen eigene regionale ärztliche Dienste einrichten, was die «Vereinheitlichung der Beurteilung von medizinischen An spruchsvoraussetzungen für alle Versicherten» ermöglichen soll. Ob damit Kosten gesenkt werden, ist ungewiss. «Je mehr Mediziner je mehr suchen, desto mehr werden sie finden», meint der Mann der Praxis, Andreas Dummermuth von der IV-Stelle in Nidwalden. Lehnt die IV am Ende eine Rentenzahlung ab, fliegen die Betroffenen noch immer nicht «raus». Für solche Fälle bieten unzählige Juristinnen und Juristen ihre Dienste an. «Die IV ist die einzige Sozialversicherung, die auch private, gemeinnützige Rechtsberatungsstellen für Behinderte finanziert», so IV-Chefin Beatrice Breitenmoser.

Das Netz ist feinmaschig, es verstreicht viel Zeit, aber je länger es dauert, umso wahrscheinlicher wird das Ende: die IV-Rente. Sozusagen die staatlich anerkannte Einschränkung der Erwerbsfähigkeit. Eine «Einschränkung», die «voraussichtlich bleibend» sein muss oder «zumindest für längere Zeit ganz oder teilweise bestehen» muss, wie es in den Paragrafen heisst.

Und niemand fragt: Wie wirken solch endgültige Urteile auf die Psyche von Menschen, die psychisch bereits belastet sind?

Ein einziger der vielen Psycho-Experten hat nach Antworten gesucht. Niklas Baer von der Psychiatrieplanung des Kantons Baselland führte achtzig Interviews mit Betroffenen und Angehörigen, soeben erschien seine Studie unter dem Titel «Diskriminiert». Dieser Titel muss als Angriff auf die zunehmende Invalidisierung verstanden werden. «Die Ausgrenzung verschlechtert die Lebensqualität von psychisch Kranken entscheidend», hat Niklas Baer erfahren. Dabei ist er sich nicht mal so sicher, ob die Arbeitswelt heute für psychisch Kranke «tatsächlich nachteiliger» sei als noch vor zehn, zwanzig Jahren. «Sie ist zwar straffer geworden, aber handkehrum auch flexibler.» Interessant ist eine weitere Einschätzung, die Baer ausgerechnet gegenüber der Basler Zeitung aussprach: «Man kann nicht davon ausgehen, dass es heute viel mehr psychisch Kranke gibt. Ich bezweifle jedenfalls, dass das Leben früher generell besser war. Aber psychisch Kranke nutzen heute die vorhandenen Angebote besser.» Das sei eine «Chance», meint Fachmann Baer – sofern seine Kollegen die Leute nicht einfach invalid schreiben.

Beatrice Breitenmoser, die IV-Chefin, bleibt realistisch: «Ich sehe keine Anzeichen dafür, dass sich die Zunahme der IV-Rentnerinnen und -Rentner aus psychischen Gründen in mittlerer oder längerer Frist deutlich verringert.»

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