Über die SVP-Wahlkampf-Rhetorik 21.08.2003, Weltwoche
Teile und herrsche. Das Rezept ist alt, aber immer noch
frisch genug, um in Holziken AG, wo am Samstag das
traditionelle Parteifest der SVP steigt, Wahlkampf zu machen.
Offen ist einzig, welche Kategorie von Menschen diesmal
zweigeteilt wird. Bewährt und beliebt ist die Trennung
zwischen «echten» Flüchtlingen und «unechten». Neueren
Datums sind «die wirklich Invaliden», nicht zu verwechseln
mit den «nur scheinbar Invaliden». Auch könnte die SVP
wieder einmal sagen, welche Ausländer nun «erwünscht»
sind und welche nicht. Laut Fest-Programm rückt am
Samstag allerdings eine andere Frage ins Zentrum: Wer von
den langjährig Niedergelassenen darf sich einbürgern lassen
und wer nicht?Im Einzelfall sind solche Grenzziehungen immer delikat, aber
genau darin besteht der Reiz der Rhetorik. Einzelfälle können
zu Fallbeispielen hochstilisiert werden, um mal dies oder mal
das zu verallgemeinern. Auf diesem Gebiet kennen sich
SVP-Politiker bestens aus, ihre Gegner übrigens auch. – Und
leider fragt niemand: Was sind die Kriterien, um «echt» und
«unecht» auseinander zu halten? Wer bestimmt diese
Kriterien? Wer wendet sie an? Bei SVP-Politikern lohnt sich
ein solcher Test erst recht, beanspruchen diese doch, die
besseren Liberalen zu sein. «Wer freisinnig denkt, wählt
SVP», kalauert Christoph Blocher. Eine liberale Politik freilich
verlangt nach klaren Spielregeln, die für alle gelten,
unabhängig von subjektiven Präferenzen.Nüchtern betrachtet, halten sich die meisten Asylsuchenden
völlig legal in der Schweiz auf. Es gibt «vorläufige
Aufnahmen» durch die Asylbehörden, «humanitäre
Aufnahmen» durch die Fremdenpolizei, Tausende an der
Zahl, alles schön nach einheimischer Rechtsordnung. Hier
werden Paragrafen nicht «missbraucht», sondern
angewendet. Passen diese Kriterien der SVP nicht, müssen
ihre Politiker reagieren wie wirkliche Politiker: Indem sie sich
einsetzen, die Kriterien zu ändern. So ist eine weitere
Volksinitiative «gegen den Asylrechtsmissbrauch» tatsächlich
geplant, zumindest als Manöver für den Wahlherbst.Im Vergleich dazu steht die IV-Debatte noch am Anfang.
«Scheininvalide»: Niemand hat dieses Wort zuvor benutzt,
aber alle wussten sofort, was darunter zu verstehen sei. Der
Begriff mag zwar schwammig sein, aber die Realität ist eben
auch schwammig, da der Unterschied zwischen «gesund»
und «krank» sogar vom medizinischen Fachpersonal
zunehmend aufgeweicht wird. Also ist die Kampagne bereits
eine Drehung weiter. Das Wort von den «Scheininvaliden»,
das auf Einzelfälle weist, wird in Analogie zum
«Asylmissbrauch» als «Sozialmissbrauch» hochstilisiert.
«Wirklich Invalide sollen eine Rente bekommen», heisst es im
Inserat der SVP, «viele nur scheinbar Invalide aber wollen
Arbeit und Lohn durch eine IV-Rente ersetzen.» Oder der
Berner SVP-Nationalrat Hermann Weyeneth: «Die
Invalidenversicherung dient nicht dazu, Drückeberger von der
Arbeit fern zu halten.»
Man beachte jedoch die Wortwahl, denn die SVP spricht
ausdrücklich nicht von «Simulanten». Das tun nur ihre
Gegner. «Ich darf die SVP bitten, ihre Sprachregelung etwas
zu verbessern», mahnte Rosmarie Dormann, CVP, kürzlich
im Nationalrat die Reihen der SVP. Darauf trat deren
Fraktionschef Caspar Baader ans Rednerpult, wehrte sich.
Worauf Dormann beharrte: «Das Wort
«Simulant» ist heute hier ganz sicher von
Seiten der SVP mehr als einmal gebraucht worden.» Eine
Durchsicht der Protokolle ergab: Das Wort «Simulant» wurde
von keinem SVP-Vertreter benutzt, dafür von zwei
SP-Vertretern, die es wiederum der Ratsrechten in den Mund
legten.
Ein Simulant täuscht eine Krankheit vor, was eine
schauspielerische Leistung verlangt, die die meisten Ärzte
den wenigsten ihrer Patienten zutrauen. Das Problem liegt
wohl auch anderswo: Praktisch alle IV-Rentner fühlen sich
subjektiv krank, nur lässt sich das nicht immer mit objektiven
Kriterien nachweisen. Es gibt immer mehr «unsichtbare
Krankheiten», so der Titel eines Beobachter-Ratgebers. Oder
eben «Befindlichkeitsstörungen», wie es SVP-Nationalrat Toni
Bortoluzzi im «Zischtigsclub» nannte.
Wer aber unterscheidet die «echten» Fälle von den
«unechten»? SVP-Exponenten appellieren manchmal sogar
an das gesunde Urteil von Laien: «Fast alle Mitbürger kennen
in ihrem Bekanntenkreis Invalidenrentner, über deren
blühende Gesundheit und Lebensfreude sie sich nicht genug
wundern können», meint Christoph Mörgeli. Auch Beatrice
Breitenmoser, oberste Chefin über die IV im Bundesamt für
Sozialversicherungen in Bern, hat via Zeitungen die
Bevölkerung aufgerufen: «Man soll mir ein einziges Beispiel
nennen, wir sind bereit, jedem Fall nachzugehen.» Bereits
gehen im Bundesamt «vier Meldungen pro Woche» ein. Mal
ist es ein Verwandter, dann ein Bekannter, mal ein
Gemeindeschreiber, dann ein Arbeitskollege, man muss fast
von «Denunziationen» sprechen. Nachdem eine
Pensionskasse gleich «30 Fälle von klarem Missbrauch»
angezeigt hatte, erwiesen sich 28 davon als «vollkommen
berechtigt», so Vizedirektorin Breitenmoser.
Das Zeigen mit dem Finger auf den berühmten «Einzelfall»
mag politisch populär sein. Aber es ist reine
Wahlkampfrhetorik. Wollte die SVP die «Scheininvalidität» an
der Wurzel packen, müsste sie wohl eine unangenehme
Debatte führen – und die heute gültigen Kriterien hinter der
«Erwerbsunfähigkeit» anzweifeln. Im Extremfall könnte sie
einen Generalangriff auf alle «psychischen Krankheiten»
starten. Damit liesse sich die Zahl der IV-Rentner um 40
Prozent abbauen, und gleichzeitig liessen sich auch Kosten
bei den Krankenkassen wegsparen, schätzungsweise 2
Milliarden Franken in der Grundversicherung. Die
Zahnarztkosten, nur zum Vergleich, betragen jährlich 2,8
Milliarden Franken, werden in der Schweiz aber auch von
privater Seite getragen.
Warum meidet die SVP diese Debatte? Weil sie damit von
ihrer eigenen Basis unter Druck käme? Denn es sind ja nicht
die «Ausländer», die sich heute aus psychischen Gründen
invalid schreiben lassen, sondern ganz eindeutig die Inländer.
Womit sich als passende Schlagzeile zum grassierenden
«Sozialmissbrauch» aufdrängen würde: «Wir Schweizer sind
immer mehr die Depressiven!»Welche neue Lösung offeriert uns die SVP heute? Ein Relikt
aus der Vergangenheit, eine Art neues Saisonnier-Statut, das
Kurzarbeitsbewilligung genannt wird, ohne jeden Anspruch
auf Sozialleistungen und vor allem ohne jeglichen
Familiennachzug. «Knechte ohne Rechte», höhnen die
SVP-Gegner. «Willkommen», sofern sie nach ihren
Arbeitseinsätzen schleunigst wieder heimkehren.
«Gastarbeiter» im Sinne des Worts.
Gut, man soll auch über harte Restriktionen frei diskutieren
dürfen. Nur stellen sich dann Fragen: Ist eine solche
Einwanderungspolitik für eine Schweiz mitten in der
Europäischen Union überhaupt realistisch? Und falls ja: Wäre
eine solche Politik klug? Wäre die Schweiz aus ureigenen,
nämlich demografischen Gründen nicht auf qualifizierte
«Inder samt Kindern» angewiesen? – «Multikulti Politik von
SP, FDP und CVP», antwortet SVP-Sprecher Yves Bichsel
abschätzig.
Das neueste SVP-Inserat geht so: «Schamlose Asylbewerber
nutzen unser Gastrecht aus. Linke Medien und feige Politiker
verharmlosen diese Tatsachen. Wir nicht. Wir von der SVP
nennen die Missstände beim Namen.» Belegt wird der Text
wie üblich mit Fallbeispielen und Statistiken; beides dient der
Objektivierung. Inzwischen ziehen SVP-Vordenker gar eine
mathematisch scharfe Grenze zwischen «echten»
Flüchtlingen und «unechten». Ausgehend von der geringen
Zahl der Asylgesuche, die tatsächlich bewilligt werden, wird
eine «Anerkennungsquote von 6,8 Prozent» hochgerechnet,
worauf der Zürcher Nationalrat Christoph Mörgeli im
Pressedienst seiner Partei schlussfolgert: «Mit andern
Worten, die Asylmissbrauchsquote liegt bei 93,2 Prozent.»
Oder mit nochmals andern Worten: Der offensichtliche
«Missbrauch» durch Asylbewerber, die ihre Identität
vertuschen, das Verfahren sonst behindern, kriminell werden
etc., lädt Christoph Mörgeli dazu ein, jede Person, die ein
Gesuch stellt, das nicht bewilligt wird, mit dem Attribut
«missbräuchlich» zu verunglimpfen. Mit einem liberalen
Rechtsverständnis hat das wenig zu tun.