Stararchitekten und radikale Ökonomen haben sich aufgemacht, das Land neu zu denken das Zentrum muss verstädtern und die Landschaft verwildern. 03.11.2005, Weltwoche
Und es kam Winy Maas, ein Stararchitekt aus den Niederlanden, um im Auftrag von Avenir Suisse, dem Think-Tank der Wirtschaft, uns Schweizerinnen und Schweizern zu zeigen, wie unser Land auch noch aussehen könnte. Wenn wir, statt immer in die Breite zu bauen, uns in die Höhe richten würden. Resultat waren Bilder: Eines zeigte «Super Zurich», ein Manhattan am linken und am rechten Ufer des Sees, miteinander verbunden mit Brücken wie in San Francisco. Aus der Ferne grüssen die Alpen, und gleich hinter den Wolkenkratzern beginnt ein einziger, zusammenhängender Wald. Auf einem zweiten Bild setzte Winy Maas das Manhattan dorthin, wo sich die Autobahnen von Ost nach West und von Nord nach Süd kreuzen, also irgendwo bei Olten: «Hub City». Im dritten Bild stehen die Wolkenkratzer oben auf dem Berg, denn die Schweizer, so fand der Flachländer Winy Maas, sollen nicht in die Täler hineinbauen, sondern auf die Spitze, wohin der Skitourismus im Zeitalter der globalen Erwärmung früher oder später ohnehin ausweichen müsse: «Matter City».Die Bilder, gedacht als optisch überspitzte raumplanerische Szenarien, wurden im Sommer 2003 in der Fachwelt zuerst gierig aufgesogen, dann verworfen. Vor allem die Stararchitekten im Inland, von denen es einige gibt, meckerten: «Der Zürichsee ist ländlich, man kann an seinem Ufer nicht verdichten», so Jacques Herzog. Er ist immerhin ein Praktiker im Verdichten (= näher zusammen oder höher bauen), der serienweise Sportstadien entwirft (Basel, München, Peking), in China ganze Städte plant und im Nu aus dem Boden stampft während sein Zürcher Kollege Marcel Meili hartnäckig gehindert wird, im Industriequartier an einer Autobahnausfahrt ein gewöhnliches Fussballstadion hochzuziehen. Selbst dieser Marcel Meili aber konnte mit den Simulationen des Winy Maas wenig anfangen: «Eine Stadt auf 2500 Metern ist eine comicartige Provokation.»Geklautes Bild
Tatsächlich? Neuerdings will der Bundesrat, vertreten durch den «Städter» Moritz Leuenberger, auf 1450 Metern über Meer eine «Porta Alpina» erschaffen. «Ein Lichtblick in dunklen Zeiten des stumpfen Sparens.» Endlich werde «wieder einmal ein kühnes Projekt gewagt», das sich zwar «rein betriebswirtschaftlich nicht rechnet», wie Moritz Leuenberger offen zugibt, um das Gewicht auf andere, höhere Ziele zu legen: «Das Projekt soll einer Randregion dienen und den dortigen Tourismus nachhaltig fördern.»
Wie die lokalen Promotoren diese Vorgabe umsetzen wollen, zeigen sie mit dem Bild, das sie bei Winy Maas entlehnt, ja geklaut haben. Ursprünglich war «Matter City» eine Antwort auf die bestehenden, zu Zweitwohnungsstätten ausfransenden Tourismus-Industrie-Zentren; während der kurzen Saisons voll, sonst leer. Nun aber wird «Matter City» auf die grüne Wiese gesetzt als Werbegag für die «Porta Alpina» bei Sedrun, zu sehen als Diashow auf www.visiun-porta-alpina.ch. Klick. Das nächste Dia schafft eine Assoziation zu Lille, dem nordfranzösischen Bahnverkehrsknotenpunkt zwischen Brüssel, Paris und London. Dort hat ein anderer holländischer Stararchitekt, Rem Koolhaas, möglichst billig in no time einen futuristischen Mittelpunkt konstruiert («Euralille»), was einen «Bauboom» samt «Arbeitsplätzen» ausgelöst habe. Nicht erwähnt wird, dass Lille eine Stadt ist mit 180000 Einwohnern, in der Ebene liegt, umkreist von einem Ballungsgebiet mit einer Million Einwohnern, während Sedrun ein Fleck ist mit 1584 Einwohnern, oben im Gebirge, weit weg von der nächsten weissen Arena (Flims/Laax/Falera). Klick. Die Promotoren zeigen ihre nächste «Visiun», eine Porta Alpina als «Stadtpark für Zürich und Mailand».
Noch ist Sedrun einfach Sedrun. «Gemütlich, authentisch, fernab des grossen Rummels.» So jedenfalls wirbt die Destination im Internet für sich selber. Man könnte auch sagen: Sedrun liege mitten drin mitten in der alpinen Brache. Das Wort «Brache» brüskiert, aber das ist Absicht. Der Begriff stammt aus der mittelalterlichen Landwirtschaft. Eine Anbaufläche wird stillgelegt, um sie nach dieser Ruhepause neu zu nutzen. Wofür, das weiss noch niemand. Genau wie bei der Porta Alpina. Was neu entstehen soll, steht in den Wolken. Selbst Moritz Leuenberger, der ranghöchste Raumplaner im Land, weiss erst, was er nicht will: «Wir wollen keine gerammelt vollen Züge mit Tagesausflüglern aus Mailand, die nur zum Pilzesammeln in die Surselva kommen.»
Erfunden wurde das Wort «alpine Brache» von den vier Architekten Marcel Meili, Jacques Herzog, Roger Diener und Pierre de Meuron. Unterstützt vom Geografen Christian Schmid haben sie das ETH-Studio Basel gegründet und nun während vier Jahren zusammen mit 141 Studenten das Land durchforscht, immer mit dem besonderen Blick auf die «urbanen Potenziale». Am kommenden Freitag, 4. November, präsentieren sie ihr grosses Werk, das über 1000 Seiten dick geworden ist: «Die Schweiz ein städtebauliches Portrait». Mit diesen drei Bänden wollen die vier Architekten, wie Marcel Meili gegenüber dem Tages-Anzeiger angekündigt hat, «die Karte im Kopf der Schweizer verändern» und mit einem Schweizbild aufräumen, das schon lange mehr einem Mythos gleiche als der urbanen Realität. Denn in Wirklichkeit ist das Land vollkommen verstädtert.
Im Büffelland
Es ist schon fast Mode geworden, mit neuen Landkarten die Leute wachzurütteln; allein dieses Jahr gab es drei prominente Anläufe. Den Reigen eröffnet hat Avenir Suisse. Nach ihrem Bildband «Stadtland Schweiz», in dem Winy Maas seine Extremvarianten des Verdichtens und Entleerens zeigte, wandte sich der Think-Tank dem Alltag zu: der «Baustelle Föderalismus», publiziert im Februar. Für Furore sorgte aber nicht etwa der Text, sondern die mitgelieferte Schweizer Karte. Was haben die Avenir-Suisse-Ökonomen getan? Sie nahmen die Statistiken der Pendlerströme als Indikator für die wirtschaftliche Aktivität. An jenen Orten, wo der Anteil der Pendler am höchsten ist, malten sie einen farbigen Klecks. Hierhin pendeln die Leute, um zu arbeiten. Um diese Kerne herum wurden Kreise gezogen. Das sind die Gemeinden, aus denen die Pendler herkommen. Entstanden sind sechs verschiedenfarbige Gebilde nämlich die sechs Metropolitanregionen um Genf, Lausanne, Bern, Basel, Zürich und im Tessin (als Anhängsel von Mailand). Hier leben und arbeiten fast 80 Prozent der Einwohner, die 84 Prozent der Wirtschaftsleistung erbringen.
Diese Aussage ist nicht neu; warum der Lärm? Zunächst erkennen St. Gallerinnen oder Luzerner ungern, dass sie einem Gross-Zürich zugeschlagen werden. Die grösste Aufregung entstand aber nicht innerhalb der sechs Metropolitanregionen, sondern ausserhalb. Dort leben auch Menschen, die sich nun dargestellt sehen als weisse Flecken. «Für mich als Bergler ist das eine Provokation», meinte Hans-Jörg Hassler, SVP-Nationalrat und Berglandwirt aus Cultira GR. «Künftig wohnen alle nur noch in Städten, und der Rest ist Büffelland», höhnte CVP-Grossrat Franz Wüest aus Ettiswil LU. Und Gabi Huber, FDP-Nationalrätin aus Altdorf UR, schlüpfte in ihre Rolle als Anwältin: «Es müssen auch Gebiete gefördert werden, die strukturelle Nachteile haben.»
«Unsere Schweizer Karte ist keine technokratische Gebietseinteilung, kein Masterplan.» Thomas Held, Direktor von Avenir Suisse, zog landauf, landab und erklärte: «Die Karte bildet einfach nur die Realität der sechs grössten Pendlereinzugsgebiete ab, von denen Zürich und Basel rund vierzig Prozent des Bruttoinlandproduktes erwirtschaften. In den weissen Flecken dazwischen leben weniger Leute, sie pendeln nur in geringem Masse, und entsprechend tief fällt die Wertschöpfung in diesen Gegenden aus.» Das Auseinanderdriften dürfte sich sogar akzentuieren. Gemäss den neuen Prognosen von BAK Basel Economics findet bis 2010 in neun Kantonen ein Nullwachstum statt. Gerade noch in fünf Kantonen der Schweiz wächst die Wirtschaft richtig: in den beiden Basel, Zürich, Zug und Genf.
Wie sagt mans auf Beamtendeutsch?
Nur wenige Wochen nach dem Wirbel um die Avenir-Suisse-Karte legte das Bundesamt für Raumentwicklung seinen «Raumentwicklungsbericht 2005» nach. Das Echo war gering, die Botschaft dieselbe: «Die Kluft zwischen den Metropolitanregionen und den übrigen Landesteilen vergrössert sich.» Doch sogleich fügte Amtsdirektor Pierre-Alain Rumley an, dass er sich um eine «ausgewogene Raumentwicklung» bemühen wolle. Das sah man seiner mitgelieferten Schweizer Karte an: Zwar zeigt diese ebenfalls nur fünf Metropolitanräume (bereits St. Gallen ist keiner, während Genf und Lausanne in eine Einheit zusammengefasst werden). Auch solle die zukünftige Siedlungsentwicklung weitgehend im Innern dieser fünf Metropolitanräume stattfinden. Aber eben nicht ausschliesslich. Also ergänzten die Bundesplaner die Zwischenräume: zum Beispiel strategische Städtenetze. Im Wallis reicht eines vom Genfersee via Martigny bis Brig, das nun dank der Neat einen S-Bahn-Anschluss an Bern erhält (die Reisezeit BernVisp halbiert sich auf 55 Minuten).
Zusätzlich zu diesen neuen Städtenetzen zeichneten die amtlichen Raumplaner einige grüne, ländliche Zentren ein und sämtliche grösseren Tourismusdestinationen in den Bergen. Dennoch blieben einige weisse Flecken übrig, das liess sich nicht vermeiden, aber sie sind eben viel kleiner ausgefallen als bei Avenir Suisse.
Auch bei der Wortwahl nahmen die Bundesbeamten Rücksicht. Statt von «alpinen Brachen» reden sie von «bevölkerungsarmen peripheren Gemeinden». Sie würden auch nie sagen, dass sich ganze Talschaften «entleeren»; immerhin legen sie nüchtern dar, «die Gemeinden im zentralen Alpenraum» hätten Jahr für Jahr um bis zu drei Prozent Einwohner verloren, womit sich «insbesondere bei Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnerinnen und Einwohnern und bereits lang anhaltendem Bevölkerungsrückgang die Frage der langfristigen Überlebensfähigkeit» stelle.
Die dritte neue Schweizer Karte, gezeichnet von den vier Städtebau-Professoren Diener, Herzog, Meili und de Meuron, ist nochmals anders gestrickt. Sie ist keine statistische Darstellung wie bei Avenir Suisse und auch kein Wunschbild für eine «dynamische und solidarische Schweiz» wie beim Bundesamt für Raumplanung. Hinter dieser neuen Karte steckt die Art und Weise, wie namhafte Architekten die Schweiz wahrnehmen. Sie haben «Expeditionen ins Landesinnere» unternommen, die sie «Bohrungen» nennen, eine Methode, mit der sich unendlich viel entdecken lässt, aber etwas ganz sicher nicht: weisse Flecken.
Als diese neue Schweizer Karte vor einem Jahr in der Fachzeitschrift Werk, Bauen + Wohnen erstmals publiziert wurde, erzählte Marcel Meili im Interview: «Das Abbild des Alpenraums hat auch uns überrascht.» Im Westen gibt es einzelne Ski-Resorts (Grindelwald, Wengen, Adelboden, Gstaad im Berner Oberland, Leukerbad, Les Diablerets, Verbier, Haute-Nendaz, Crans-Montana, Evolène, Zermatt, Grächen, Saas Fee, Rieder- und Bettmeralp im Wallis). Auch im Osten gibt es einzelne Resorts (im Bündnerland Flims/Laax, Lenzerheide-Valbella, Arosa, Davos, Bergün, St. Moritz). Aber in der Mitte der Schweiz? Ist nichts. «Wir sind, als wir die Situation verbildlicht haben, staunend vor diesem riesigen, zusammenhängenden Loch in der Mitte der Schweiz gestanden.»
Dieses «Loch» nannten sie «alpine Brachen», die, schaut man genau hin, eigentlich auf eine einzige Brache hinauslaufen, die riesengross ist und sich vom «geografischen und mythologischen Zentrum rund um den Gotthard» in alle vier Himmelsrichtungen ausbreitet. Wörtlich handelt es sich hier um «Zonen des Niedergangs und der langsamen Auszehrung. Ihr gemeinsames Merkmal ist eine anhaltende Abwanderung.»
Es geistert in diesem Kontext ein Missverständnis herum, das von einigen Politikern im Berggebiet bewusst geschürt wird: Man dürfe nicht «von oben herab Leute umsiedeln», wiederholte die Urner FDP-Nationalrätin Gabi Huber stereotyp in einer Fernseh- und Radio-Diskussion auf der Rigi. Das ist absurd: In der Schweiz wird niemand zwangsumgesiedelt, im Gegenteil. Die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler der Metropolitanregionen geben laufend noch mehr Geld aus, um gegen den Prozess der Entleerung anzukämpfen. Dieses Ziel steht sogar in der Bundesverfassung: So soll die Landwirtschaftspolitik einen «wesentlichen Beitrag zur dezentralen Besiedlung des Landes» leisten.
Wird dieses Ziel erreicht? Dies untersucht hat der ETH-Agronom Peter Rieder, und zwar im Auftrag des Bundesamts für Landwirtschaft. Sein Fazit: «Die Landwirtschaft leistet nur in relativ wenigen Gemeinden der Schweiz einen wesentlichen Beitrag zur dezentralen Besiedlung.» Trotz den Subventionen und Direktzahlungen, die nirgends so hoch sind wie in der Schweiz, bleibt das Mass der Abwanderung so gross, dass am Ende «viele Dörfer so klein sein werden, dass sie ihre Funktionsfähigkeit verlieren». Rein statistisch müsse heute jede zwölfte Gemeinde der Schweiz als «gefährdet» eingestuft werden. Das ergibt insgesamt 231 «gefährdete» Gemeinden, die sich wie folgt übers Land verteilen: 22 Dörfer im Jura (in denen noch acht Prozent der Kantonsbevölkerung leben), 8 Dörfer in Glarus (sieben Prozent der Bevölkerung), 5 Dörfer in Uri (sechs Prozent der Bevölkerung), 54 Dörfer in Graubünden (fünf Prozent der Bevölkerung) und 46 Dörfer im Tessin (in denen sich nicht einmal mehr drei Prozent der Bevölkerung aufhalten).
Damit belegt Peter Rieder, der in Vals GR aufgewachsen ist: Das böse Wort von der «alpinen Brache» ist kein Hirngespinst von Urbanisten. Es ist Realität. Insgesamt ist die Bevölkerung zwar stark gewachsen, um eine Million Menschen in den letzten 30 Jahren. Aber bezogen auf die einzelnen Gemeinden kam es zu einer scharfen Zweiteilung: «Grössere Dörfer werden immer grösser, kleine Dörfer immer kleiner.»
Dörfliche Städte, städtische Dörfer
Ob in steilen oder in flachen Lagen, alle räumlichen Prozesse laufen hierzulande ähnlich ab: unspektakulär, fast automatisch. Es gab und gibt keine zentrale Instanz, die von oben herab diktieren würde: Da ziehen wir eine richtige Stadt hoch, dort lassen wir ein ganzes Tal verganden. Darum ist ein Downtown Switzerland so wenig vorstellbar wie eine grossflächige reine Wildnis. In der Schweiz entsteht immer Verschiedenes an jedem Ort. Dies entschieden wird grundsätzlich auf der tiefstmöglichen Ebene also bei den Gemeinden, von denen es bis vor kurzem noch 3000 gab. «Es war nie die Idee der Schweiz, etwas Grösseres zu schaffen, sondern dreitausend Mal dasselbe Kleine grösser», heisst es irgendwo in den drei Bänden der vier Architekten (zitiert nach einer Zusammenfassung in der Zeitschrift Hochparterre).
Ganz ähnlich tönte es schon in einem Buch, das 1954 erschienen ist. «Wir bauen im dörflichen Massstab, bis das Dorf eben eine Stadt ist, aber eine Stadt mit dörflicher Bauweise ohne dass wir fragen, wie denn eigentlich unsere Städte aussähen, wenn wir sie als Städte bauen würden.» Das schrieben ein Schriftsteller und Architekt, Max Frisch, ein Städteplaner und Professor, Lucius Burckhardt, ein Werber und späterer Politiker, Markus Kutter. «Achtung: die Schweiz», hiess der Titel ihrer Broschüre, die als Warnung konzipiert war. «Zwar haben wir bald kein Land mehr, um in dieser Art weiterzudörfeln, aber ein bisschen haben wir schon noch.» Um aus diesem Kreislauf auszubrechen, schlug das Trio vor, anstelle der Landesausstellung Expo 1964 eine neue Stadt zu bauen. Denn «was wir nicht wollen, ist das unselige Durcheinander, wie es rings um unsere jetzigen Städte zu finden ist, halb verstädtertes Dorf und halb dörflerische Stadt».
Das Durcheinander hat überlebt, auf dem Berg, im Tal, am See. «Verglichen mit München ist Zürich ein Dorf», meinte Jacques Herzog anlässlich eines Round-Table-Gesprächs mit Avenir Suisse vor zwei Jahren. Doch wenn Zürich keine Stadt ist, gibt es dann überhaupt eine urbane Realität? Das ist ein Widerspruch in sich, den die Architekten aufzulösen versuchen, indem sie in ihrem neuen Buch eine spezifisch schweizerische Form der Urbanität definieren. «In unsern Augen wohnen die Leute selbst dann in der Stadt, wenn sie glauben, auf dem Land zu leben. Uzwiler und Ostermundiger sind Städter», sagten Marcel Meili und Jacques Herzog bereits vor drei Jahren in einem gemeinsamen grossen Interview mit der Weltwoche. «Vielleicht hat es in Ostermundigen mehr Apfelbäume und Wiesen. Aber die Lebensform ist städtisch.»
Im Flachland wurde und wird jede Sekunde fast ein Quadratmeter verbaut, meistens für «ausgedehnte Einfamilienhaussiedlungen, unstrukturierte Industrie- und Gewerbezonen, Einkaufszentren und Erlebnisparks mit riesigen Parkplätzen», wie sogar der offizielle Raumentwicklungsbericht des Bundes kritisiert. All das ist tausendmal beschrieben, Millionen Mal beklagt worden, am originellsten vom Stadtwanderer Benedikt Loderer («Hüsli-Schweiz»).
Von London lernen
Etwas weniger geläufig ist der Prozess, wie er sich in den steilen Lagen abspielt. Mal wird hier eine Wiese nicht mehr gemäht, mal dort eine Alp nicht mehr beweidet. Aus dem Gras wachsen Büsche, aus den Büschen Bäume. Jede Sekunde wächst in der Schweiz auf 1,5 Quadratmetern neuer Wald nach. Das ergibt pro Tag eine Fläche von fünf Fussballfeldern, pro Jahr die Fläche des Thunersees. Nur wächst dieser neue Wald nicht etwa an einem zusammenhängenden Stück, sondern unauffällig an allen Ecken und Enden und Rändern. Genauso unauffällig findet die fortschreitende Urbanisierung im Flachland statt: Die neuen Bauten ragen nicht in den Himmel, sie wuchern hinaus auf die Felder. «Zürichs erstes Hochhaus seit 20 Jahren»: Dieser Titel der NZZ, erschienen am 16. Oktober 2003, spricht Bände.
Dabei müsste eine Schweizer Stadt gar nicht so hoch hinaus wie New York; Zürich darf sich auch an London orientieren, einem Grossraum, der nur wenige ganz hohe Gebäude zählt und der eigentlich klein ist, kleiner jedenfalls als der Kanton Zürich. Gleichwohl wohnen dort 7,3 Millionen Menschen, alle mit Zugang zu einem Park in nächster Nähe, und genügend Raum gibt es dort für 4,5 Millionen Arbeitsplätze. Das zeigt: Rein theoretisch bietet allein der Kanton Zürich genug Platz für alle Schweizerinnen und Schweizer, sowohl fürs Wohnen wie fürs Arbeiten.
Interessant ist nun, wie London seine Zukunft plant. Das gesamte Stadtgebiet, inklusive Vororte, soll nochmals verdichtet werden. Das geht natürlich nur, wenn die Gebäude stellenweise markant in die Höhe wachsen. «Learning from London», so schliessen die Avenir-Suisse-Autoren ihr Buch «Baustelle Föderalismus» ab und meinen das im doppelten Sinn: städtebaulich wie politisch-institutionell. Gross-London steht unter der Hoheit einer einzigen Behörde, die 33 Bezirke koordiniert.
Im Gegensatz dazu erstreckt sich die Metropolitanregion Zürich über elf Kantone und zerfällt in Hunderte von Gemeinden. Jacques Herzog analysiert das ähnlich: «Städte wie Zürich, aber auch Basel und Genf, werden vom Föderalismus blockiert.»
Die Macht der Gemeinden
Thomas Held, Direktor von Avenir Suisse, der zuvor beim Kultur- und Kongresszentrum Luzern (KKL) als Projektleiter eng mit dem französischen Stararchitekten Jean Nouvel zusammengearbeitet hat, freut sich auf das neue «Städtebauliche Portrait»: «Im Grundsatz sind wir uns einig.» Bildet sich eine neue bunte Koalition, bestehend aus namhaften Architekten und radikalen Ökonomen? Wäre der Basler Jacques Herzog in Basel so frei wie in China, würde er «am Rheinhafen bis zu zehntausend Menschen an sensationeller Wohnlage ansiedeln», wie er einmal zur Weltwoche sagte. «Man müsste in grösseren Zusammenhängen denken: Wo ist es sinnvoll, Ballungszentren zu schaffen? Wo sollen Freiräume bleiben?», ergänzte Marcel Meili im Streit ums Hardturm-Stadion.
Also geht die nötige Diskussion weit über die erlaubten Ausnützungsziffern in den verschiedenen Bauzonen hinaus. Landesweit gibt es rund 200 Spitäler, wovon die meisten viel zu klein sind, damit sie effizient geführt werden könnten. Im Prinzip würden vierzig Spitäler vollends genügen: Trotzdem wäre jeder Mann, jede Frau, jedes Kind in weniger als einer Stunde im nächsten Spital, wie der Lausanner ETH-Architekt und Gesundheitsökonom François de Wolff gezeigt hat. Sparpotenzial: bis zu zwei Milliarden Franken pro Jahr. «Es stimmt, vierzig Spitäler würden theoretisch genügen, wenn sie am richtigen Ort stünden und die richtige Grösse hätten», bestätigt der Luzerner Markus Dürr, Präsident der 26 kantonalen Sanitätsdirektoren. «Doch wenn ein Regierungsrat nach rein rationalen Kriterien Spitäler schliesst, wird er frühpensioniert.»
Ganz ähnlich bei den Universitäten. Das Fach Theologie wird heute an acht Universitäten zur freien Wahl für nicht ganz 300 Studienanfänger angeboten, obschon die einzelnen Bildungsstätten in Pendlerdistanz erreichbar sind. Gemäss Jacques Herzog wäre es zwar falsch, wenn man Szenarien für nur noch drei Universitätszentren entwerfen würde. «Unserer Meinung nach sollten stattdessen die bestehenden Universitäten Schwerpunkte entwickeln.» Genau das hat die Uni Basel versucht und vor zwei Jahren beschlossen, die Bereiche Astronomie, Slawistik und Geologie vollständig aufzuheben. Es kam dann allerdings zu derart heftigem Widerstand, dass dieser Plan fallen gelassen werden musste.
Das ist der Stoff, an dem ein Thomas Held verzweifelt. Anders die vier Architekten: Sie zeigen in ihrem neuen Buch seitenlang die Bedeutung der einzelnen Gemeinden, kritisieren deren Macht um just vor dieser Macht zu kapitulieren, weil sie unveränderbar ist. Es sei zwar denkbar, dass gewisse Gemeinden unter Druck zusammengelegt werden oder dass sie sich zumindest entschliessen, gemeinsam nur noch ein Freibad oder ein Spital zu betreiben. «Das ist aber wohl das Äusserste, wozu Gemeinden fähig sind», meint Jacques Herzog heute.
Gleichwohl steckt politischer Zündstoff im «Städtebaulichen Portrait», nämlich in der Debatte um die alpinen Brachen. «Denn die bedeutendste kollektive Übereinkunft zur territorialen Ordnung der Schweiz gründet darauf, dass der Alpenraum über dieselben Rechte, Möglichkeiten, Sicherheiten, Versorgungen und Perspektiven verfügt wie jedes Dorf, jede Stadt, jede Sprachregion und jeder Landstrich», heisst es (zitiert nach Hochparterre). Marcel Meili prophezeit gar den «räumlichen Klassenkampf».
Es ist auf alle Fälle nicht gelungen, die Abwanderung aus den hintersten Chrächen aufzuhalten. Und dies, obschon die urbane Schweiz sehr viel Geld spendet. Via Landwirtschaft, Strassenbau, Eisenbahn- und Busverkehr, Postdienste, Armee, Tourismusförderung werden alljährlich Milliarden umverteilt von den Metropolitanregionen hinauf in die alpinen Brachen. Trotzdem kann die Abwanderung nicht aufgehalten werden, im Gegenteil, die hintersten Täler entleeren sich weiter.
«Die gleichmässige, dezentrale Besiedelung des Landes ist nicht realisierbar, alle Trends sprechen dagegen», predigt der Ökonom Walter Wittmann seit Jahren. «Im Extremfall müsste der Bund dafür bezahlen, dass genügend Personen in entlegenen Tälern wohnen, in denen es keine Beschäftigung gibt.»
Tabuzone: Abwanderung
Der Basler Regionalökonom René L. Frey fragt in seinem neuen Buch dasselbe: «Warum nicht gewisse Täler verwildern lassen?» Wenn sich der Mensch aus Problemregionen zurückziehe, ergäben sich neue individuelle Chancen. «Es geht nicht um Zwangsumsiedlungen, sondern darum, die Rahmenbedingungen so zu ändern, dass Binnenwanderungen gefördert statt gebremst werden.»
Das sind keine weltfremden Gedanken. Bis ins Jahr 1970 wurde die Abwanderung innerhalb der Schweiz toleriert; seither wird sie bekämpft, wenn auch erfolglos, neuerdings sogar tabuisiert allerdings nur innerhalb der Landesgrenzen. Überall sonst auf der Welt tut die Schweizer Entwicklungshilfe alles, um ausgerechnet die Abwanderung aus den Bergen zu fördern. «Ob in Asien, Afrika oder Lateinamerika, wir helfen den Bauern wo immer möglich, von den Hanglagen wieder herunterzukommen und in den Ebenen anzubauen», sagt Remo Gesu von der Organisation Helvetas. «Ziel ist es, die Hänge möglichst bewaldet zu lassen, um die Erosion einzudämmen.»
Ökologisch und ökonomisch spricht vieles dafür, die alpinen Brachen sich selbst zu überlassen. Wo sich die Bauern zurückziehen, wächst Wald nach. Ist das schlimm? «Aus gesamtschweizerischer Sicht ist das Überhandnehmen der Natur und die Entvölkerung keine Katastrophe», antwortete Marcel Meili vor einem Jahr. «Es ist ja noch nicht völlig beunruhigend, dass irgend-etwas in diesem Land mal nicht überbaut wird.»
Diese letzte Aussage muss inzwischen relativiert werden. Wie im «Städtebaulichen Portrait» nachzulesen ist, wurde (noch) nicht das ganze Mittelland vom Lac Léman bis zum Bodensee verbaut und zersiedelt. Dazwischen blieben wenigstens drei grössere Inseln verschont, die nun «stille Zonen» genannt werden: Appenzell-Toggenburg, das Napfgebiet und die Freiburger Voralpen.
Literatur:
Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili, Pierre de Meuron, Christian Schmid:
Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait.
Birkhäuser. Fr. 68. Erscheint am 4. November
Angelus Eisinger, Michel Schneider: Stadtland Schweiz. Zweite, erweiterte Auflage.
Avenir Suisse und Birkhäuser, 2005. 423 S., Fr. 78.
Hansjörg Blöchliger, Michel Schneider: Baustelle Föderalismus.
Avenir Suisse und Verlag NZZ, 2005. Fr. 58.
Bundesamt für Raumentwicklung: Raumentwicklungsbericht 2005.
Als PDF auf www.are.admin.ch
René L. Frey: Föderalismus zukunftstauglich?!
Verlag NZZ, 2005. 158 S., Fr. 42.
Peter Rieder u.a. Erfüllung des Verfassungsauftrags
durch die Landwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung
ihres Beitrags zur dezentralen Besiedlung.
16. Februar 2005. Als PDF auf www.blw.admin.ch
Nicole Bauer: Für und wider Wildnis.
Haupt-Verlag, 2005. 185 Seiten, Fr. 36.
Markus Schneider: Idée suisse.
Weltwoche-Verlag, 2004. 160 Seiten, Fr. 39.