24.11.2005, Weltwoche
Im Lauf des Jahres 2005 sei mit Schweizer Aktien nicht viel Geld zu gewinnen. Das haben alle gesagt. Oswald Grübel, der oberste Chef der Credit Suisse. Robert Shiller, der Dauerpessimist von der Yale University. Und selbstverständlich Dr. Doom, der Doktor des Untergangs, der mit vollem Namen Marc A. Faber heisst und der im Februar, also kurz nach dem Start zur grossen Hausse, dem Volk via Sonntagsblick empfahl, «den grösseren Teil des Vermögens auf einem sicheren Konto zu halten». Von einem Engagement bei Roche, UBS, Credit Suisse, Novartis, Zürich, ABB und andern Blue Chips riet er dringend ab: «Bei Schweizer Aktien ist die Chance, dass die Kurse sinken, etwa gleich hoch wie die Chance, dass sie steigen. Die interessanteste Börse in Europa ist für mich die türkische.» Tatsächlich hat Doktor Faber wieder Recht behalten. Die türkischen Aktien haben sich bestens entwickelt, sie sind in diesem Jahr bereits um durchschnittlich 40 Prozent nach oben geschnellt, egal, ob in neuer türkischer Lira gemessen oder in US-Dollars.Experten unter SchockDennoch wären die meisten Schweizerinnen und Schweizer schon froh, sie wären statt am türkischen wenigstens auf dem schweizerischen Markt mit dabei gewesen. Unser SMI stieg gemessen in US-Dollars zwar nur um 10 Prozent, aber in Schweizer Franken waren es immerhin 30 Prozent und damit Platz drei in Westeuropa, hinter Österreich und Dänemark. Eine mehr als nur anständige Performance.Warum hat uns das niemand vorausgesagt? Die Experten standen ganz offensichtlich da wie das übrige Publikum auch: noch unter Schock. Aktien, so lautete der Common Sense bis vor kurzem, würden sich für eine ziemlich lange Zeit seitwärts bewegen. Mal ein Ausschlag nach oben, mal ein Ausschlag nach unten, aber schön um den Trend herum, der eine klare, eindeutige Richtung habe: seitwärts. In einem solchen Markt könnten einige Profis oder gar Day-Trader viel Geld verdienen, nämlich indem sie die Ausschläge nach oben und unten ausnützen. Aber ein solcher Markt sei nichts für gewöhnliche Kleinanleger, die Aktien kaufen, um diese Titel zu halten. Hiess es.
Untermalt wurde diese Art Prognose von einer kollektiven Erinnerung an den grossen Crash. Genau genommen waren es sogar fünf Crashs, hintereinander erlitten in der langen Periode vom Sommer 2000 bis zum Frühling 2003. Im Nachhinein sprach man etwas schönfärberisch von einer «Korrektur», wobei dieses Wort reflexartig mit zwei Adjektiven geschmückt wurde: «heilsam» und «schmerzhaft». Genau so setze sich diese Korrektur dann im Bewusstsein der Leute fest, hiess es. Wer sich die Finger einmal, zweimal, dreimal, viermal, fünfmal verbrenne, werde für ein paar Jahre die Finger davon lassen. Seitwärts zeigte die Richtung des Trends, zumindest in den Köpfen der Experten. Zehn Jahre habe die Baisse nach dem Erdölschock in den siebziger Jahren gedauert, schrieben alle Zeitungen. Sechzehn Jahre dauerts inzwischen in Japan. Selbst wenn der Nikkei im Laufe des Jahres 2005 ebenfalls um 30 Prozent anstieg, ist das nur ein schwacher Trost. Nämlich ein Indikator dafür, wie tief die Kurse zuvor gefallen waren. Vom heutigen Niveau aus gesehen müsste der Nikkei-Index nochmals um 100 Prozent steigen, damit er wieder in jene Sphären gelangte, in denen er früher mal war.
Stur gegen den Strom
Der beste Kenner für spekulative Blasen in der Schweiz heisst Thorsten Hens, ein Professor der Universität Zürich. «Jeder liegt mit seinen Prognosen daneben, und am Ende haben es immer alle vorher schon gewusst.» Er selber war zu Beginn des Jahres 2005 überzeugt wie alle andern auch: der Trend gehe seitwärts, während die Kurse mal nach oben, mal nach unten ausschlagen. Fundamental sah er den Schweizer Aktienindex SMI bei 5500 bis 5700 Punkten, was zu Jahresbeginn auch tatsächlich der aktuelle Stand war. Also legte er 50 Prozent seines Geldes in ein SMI-Indexzertifikat, 50 Prozent hielt er in Obligationen. Im März schoss der SMI über die Marke von 6000 hinaus, was seiner Ansicht nach bereits «übertrieben» war. Also verkaufte er 10 Prozent und reduzierte seinen Aktienanteil. Als die Kurse noch weiter stiegen, verkaufte er die nächsten 10 Prozent. Dasselbe hätte Thorsten Hens übrigens getan, wenn die Kurse gefallen wären, freilich mit umgekehrten Vorzeichen. Dann hätte er Aktien zugekauft. Mit anderen Worten: Hens investierte stur gegen den Strom. Und heute? Hätte Professor Hens an seiner ursprünglichen Strategie festgehalten, hätte er bei einem SMI von 6800 seine letzten Aktien verkauft und er sässe bei einem aktuellen SMI-Stand von nahezu 7500 auf einem Aktienanteil von null. Er hätte zwar ein klein wenig Geld verdient, aber eben nie so viel, wie er dieses Jahr mit Aktien eigentlich verdienen konnte.
Die Strategie war falsch und inzwischen hat Thorsten Hens seine Strategie auch angepasst. Spätestens zu Beginn des Sommers sah er, dass sich etwas Fundamentales geändert hatte: Die Gewinne der Unternehmen haben sich verbessert, und zwar gehörig. «Im Schnitt sind die Gewinne der grossen Schweizer Unternehmen, die an der Börse kotiert sind, um 30 Prozent gestiegen», sagt Thorsten Hens. «Wir Ökonomen haben das ganz klar unterschätzt.» So gesehen ist es nur logisch, dass sich die Kurse an den Märkten parallel dazu um ebenfalls 30 Prozent erhöht haben. Professor Hens, wie gesagt ein Spezialist für «spekulative Übertreibungen», will diesmal also nicht von «irrationalem Herdentrieb» sprechen. Er ist sogar der Meinung, dass der SMI bis Februar/März noch etwas zulegen könnte.
Dasselbe Muster beim obersten Chef der Credit Suisse. Oswald Grübel, noch im Frühjahr skeptisch, ist nach seinen eigenen Worten «umgeschwenkt» und sieht nun einen «längerfristigen Aufwärtstrend», wie er gegenüber der Handelszeitung voraussagt. Auch er argumentiert ganz ähnlich: mit einem fundamental besseren Umfeld, vor allem den erhöhten Gewinnen, welche die Unternehmen erzielen, was nicht unbedingt zu allgemein höheren Löhnen führt, aber zu höheren Bonifikationen der Manager.
Dramatisch nur für Spätzünder
Wollen die gewöhnlichen Leute an den Gewinnen der Unternehmen partizipieren, müssen sie etwas tun: Aktien kaufen. Das taten einige, darunter wohl Krankenschwestern und Taxichauffeure. Je höher die Kurse steigen, umso mehr Leute kaufen Aktien, das ist in jeder Hausse so, das ist der altbekannte Herdentrieb: La hausse amène la hausse. Immer weiter, immer höher, bis zum nächsten Crash.
Noch ist es nicht so weit. Zwar werden bereits die ersten prominenten Crash-Propheten laut. Felix W. Zulauf, der in Zug sehr erfolgreich Hedge-Funds managt, lässt sich im New Yorker Finanzblatt Barrons so zitieren: «Das Risiko eines potenziellen Massakers wächst.» Während Zulauf für längere Zeit landesabwesend ist und nichts weiter sagen will, trat sein Partner Daniel Köppel am Freitag im Tages-Anzeiger als Warner in Aktion: «Die Investoren sind zu optimistisch.» Ein paar Tage danach fühlt sich Köppel bereits falsch interpretiert: «Ich prognostiziere keinen Crash.» Er sei einfach überzeugt, dass die Kurse «in den nächsten sechs bis zwölf Monaten um 15 bis 20 Prozent sinken werden». Also nichts Dramatisches oder höchstens für jene Leute, die erst jetzt neu Aktien kaufen; aber die Letzten beissen bekanntlich die Hunde.
Und Robert Shiller, der wohl berühmteste Crash-Prophet der Neuzeit? Er hat im Frühling 2000 gerade noch rechtzeitig vor den fünf folgenden Crashs sein Buch «Irrationaler Überschwang» veröffentlicht. Bereits die Unterzeile des Buchtitels bringt Shillers hauptsächliche Prognose, die über den heutigen Tag hinausreicht: «Warum eine lange Baisse an der Börse unvermeidlich ist.» Nachdem die «Aktienblase» fast so schnell zerplatzt ist, wie sich das Buch verkauft hat, warnt nun sein Autor Robert Shiller seit vielen Monaten vor der «Immobilienblase», die, ginge es nach ihm, ebenfalls schon längst zerplatzt sein müsste. Genau dasselbe prophezeit die Zeitschrift Economist mit mehreren umfangreichen Analysen: Ein Immobilien-Crash drohe nicht nur den USA, sondern auch mehreren europäischen Ländern, allen voran Spanien und Grossbritannien (nur der schweizerische Häusermarkt scheint gegenüber diesem Trend bisher resistent gewesen zu sein). Zerplatzt die Immobilien-Bubble tatsächlich, hätte das ganz gewiss Folgen auf alle andern Anlagemärkte, besonders auf Aktien.
Das Beste kommt unverhofft
Ein Plus von 30 Prozent innert elf Monaten: Was der Schweizer Aktienmarkt ganz zu schweigen vom türkischen im Jahr 2005 an den Tag legt, ist weder normal noch aussergewöhnlich. «Stocks for the Long Run», so titelt Jeremy Siegel, Professor an der Wharton School der University of Pennsylvania, sein Buch, in dem er zeigt, dass der US-amerikanische Aktienmarkt von 1802 bis 2001 real 6,9 Prozent Rendite im Jahr brachte; selbstverständlich nur im langfristigen Durchschnitt. Auf ähnliche Werte für die Schweiz kommt Erwin W. Heri, Buchautor, Professor, Investor, Mehrfachverwaltungsrat. «Diese langfristigen Durchschnitte müssen erlitten werden.» Denn das Risiko ist schier unbegrenzt, gegen unten wie oben. Im Jahr 1985 legte die Schweizer Börse um über 60 Prozent zu, 1993 und 1997 um über 50 Prozent.
Selbstverständlich kamen diese besten Jahre immer dann, wenn sie niemand erwartet hatte. So war es dieses Mal, so wird es auch nächstes Mal sein. Man kann den richtigen Zeitpunkt nicht erwischen, weil es den richtigen Zeitpunkt erst im Nachhinein gibt. Sicher ist: Wer erst jetzt kauft, kauft spät. «Als Ökonom kann ich mir nur schwer vorstellen, dass die Gewinne nochmals um 30 Prozent in die Höhe schnellen», warnt Professor Thorsten Hens. Aber als Anleger hat er schon oft gesehen, dass die Aktienkurse trotzdem nochmals massiv in die Höhe gingen. Bevor es dann zur Korrektur kommt, die gerade deswegen so «schmerzhaft» wie «heilsam» sein wird.