«Ich war der Kühlschrank» Was der Steuerrechtler im deutschen Wahlkampf lernen musste 22.12.2005, Weltwoche

«Ich war der Kühlschrank»
Was der Steuerrechtler im deutschen Wahlkampf lernen musste 22.12.2005, Weltwoche
Interview von Ernst Kindhauser und Markus SchneiderHerr Kirchhof, Sie haben bei den Bundestagswahlen in Deutschland eine Schlüsselrolle gespielt. Wie würden Sie diese beschreiben?Frau Merkel, die jetzige Bundeskanzlerin, hat mich gebeten, in den Wahlkampf einzusteigen, um den Menschen in Deutschland ein gerechtes Steuerkonzept zu empfehlen. Keine Änderungen von einzelnen Vorschriften also, hier ein Anreiz, dort eine Sonderregelung, sondern weg vom Wust und der Wucherung deutscher Steuervorschriften, hin zu einem einfachen, in seinem Gerechtigkeitswert plausiblen, sozialen und familiären Steuerrecht. Ich hatte nur vier Wochen Zeit. Aber mein Vorschlag war den Bürgern so einsichtig, dass der kluge Herr Schröder gemerkt hat, das wird für mich gefährlich. Deswegen hat er sie zugeschüttet mit Fehlinformationen.

Am Ende hat Frau Merkel die Wahl nur knapp gewonnen. Wegen Ihnen oder Ihres Konzepts?

Weder noch. Im Wahlkampf stand ­ zu meiner grossen Überraschung ­ das Steuerkonzept im Mittelpunkt. Aber es hat nicht die Rolle gespielt, die man damals vermutet hat. Als die Menschen nach den Wahlen gefragt wurden, wen sie gewählt hatten, sind die gleichen Ergebnisse herausgekommen wie bei den Befragungen vor der Wahl.

Entscheidend ist doch die Zeit vor der Wahl: Angela Merkels CDU lag klar vorn, erst nachdem Sie mit Ihrem Steuerkonzept eingegriffen hatten, sanken die Werte.

Ich kenne keine solchen Untersuchungen. Wenn das so gewesen wäre, wäre wiederum weder meine Person noch mein Programm dafür verantwortlich gewesen, sondern die Karikatur dessen.

Karikatur?

Ich war 28 Tage unterwegs, bin täglich zwei-, drei-, viermal aufgetreten, und bei jeder einzelnen Wahlveranstaltung ist der Funke übergesprungen. Es gab ein paar kritische Einwendungen, aber nach meinen Erklärungen hiess es: «Jawohl, dies Steuerrecht wollen wir.» Ein Steuerrecht, das die Krankenschwester und den Schichtarbeiter deutlich besser stellt…

…heute weiss man, dass genau diese Leute die CDU nicht gewählt haben.

Wenn das so gewesen wäre, dann wegen der Verzerrungen unseres Vorschlags und auch der Verfremdung meiner Person. Schröder war der liebevolle Ehemann ­ das bestreite ich gar nicht, das meine ich auch nicht ironisch ­, und ich mit meiner Frau, mit der ich seit 37 Jahren verheiratet bin, meinen vier Kindern, sieben Enkelkindern, ich war der Kühlschrank des 19. Jahrhunderts. So wurde ich in der Öffentlichkeit dargestellt, obschon ich mich als Verfassungsrichter früher immer für Familien eingesetzt habe, für die kleinen Einkommen, für die sozial Bedürftigen, für die Arbeitslosen.

Sie hätten sich wehren können.

Richtig. Aber ich hatte nur das kleine Mikrofon, Gerhard Schröder das grosse…

…das kann man auch anders sehen.

Und ich hatte einen zweiten Nachteil: Wenn ein Wissenschaftler die Kühnheit hat, in den Wahlkampf einzusteigen, dann hat er alles, was er will, vorher aufgeschrieben. Ich habe in meinen Büchern dargelegt: Wir ersetzen die Fülle der Subventionen, mehr als vierhundert, alle Privilegien und Ausnahmetatbestände, all das ersetzen wir durch niedrige Steuersätze. Aus dieser Themenliste wurde eine Streichliste, dann eine Giftliste. In der Skandalisierung dieses Vorgangs war es nicht mehr möglich, darauf hinzuweisen, was ich in meinen Büchern geschrieben hatte. Als Wissenschaftler hatte man mir geglaubt, dem Politiker glaubte man nicht.

Tatsache ist: Sie haben die Leute mit Ihrem Konzept nicht erreicht.

Auf meinen Versammlungen habe ich immer lebhafte Zustimmung gefunden. Ich habe die Menschen erreicht, aber nicht die Masse der Millionen.

Sie wussten doch, wie der Wahlbetrieb läuft.

Ja, ich wusste, dass ich in eine andere Arena ging. Aber ich ahnte nicht, dass dort planmässige Fehlinformationen stattfinden.

Das ist doch einfach naiv.

Nein. Ich konnte nicht ahnen, dass Schröder aus unserem sozialen Steuersystem eine «Kopfsteuer» macht, obschon die Kopfsteuer ein Phänomen aus dem Mittelalter ist: Der Haushaltsvorstand, ob reich oder arm, musste hundert Taler zahlen, in der Schweiz wie in Deutschland. Ich kenne viele Menschen, die haben einen Kopf, aber kein Einkommen, die hätten nach meinem Konzept gar keine Steuern mehr zahlen müssen.

Trotzdem wollte man Ihr Konzept nicht.

Als ich mit meiner Frau am Wahltag im Taxi nach Hause fuhr, fragte mich der Taxifahrer: «Wollten Sie wirklich, dass die Sekretärin und der Chef den gleichen Betrag bezahlen?» Ich habe ihm erklärt, was Steuersatz ist, was Steuerbetrag, dass 25 Prozent auf eine Million 250000 sind, und 25 Prozent auf 20000 rechnerisch 5000, aber eigentlich null, denn es gibt Freibeträge. Er sagte zu mir: «Ich verdiene 1700 Euro im Monat.» In meinem System wäre dieser Taxifahrer von der Einkommenssteuer befreit worden, aber Schröder ist es durch das Stichwort «Kopfsteuer» gelungen, Menschen zu verängstigen.

Würden Sie nochmals antreten?

Nein, das wäre für mich kein Thema mehr.

Was würden Sie anders machen, wenn Sie nochmals von vorn anfangen könnten?

Ich würde die 28 Tage anders nutzen. Ich würde mich in den ersten acht Tagen zuerst in meiner Gruppe – ich bin ja parteilos, aber ich habe mit der CDU gefochten – vorbereiten auf potenzielle Angriffe. Ich persönlich hatte gemeint: Diese Übertreibungen von Schröder sind so hanebüchen, die fallen auf denjenigen zurück, der übertreibt. Das war verkehrt. Die CDU hat gemeint: Wir gehen einem sicheren Wahlsieg entgegen, jetzt keine Aufregung mehr, nur keine Fehler mehr ­ und genau das war der Fehler.

War das Coaching der CDU falsch?

Nein, es gab keines, und ich brauche auch keines. Die Pointe meines Wahlkampfes war ja, dass ich bewusst als Professor aus Heidelberg aufgetreten bin, der die Probleme benennt. Ein Politiker zeigt nur das Licht, den Schatten verbirgt er; ich als Wissenschaftler habe Licht und Schatten diskutiert. Weil ich meine, ein argumentierender Wahlkampf müsse möglich sein in einer Demokratie, sonst haben wir die falsche Staatsform.

Also hat Deutschland die falsche Staatsform?

Nein. Ich werde darüber ein Buch schreiben, in dem ich das darlege. Aber das Manuskript bleibt noch ein halbes Jahr liegen, weil mir im Moment noch der Zorn in die Feder läuft, und Zorn ist kein guter Ratgeber.

Was steht im Buch?

Dass der Wahlwettbewerb ein harter Wettbewerb ist wie in der Wirtschaft. Nur gibt es in der Wirtschaft ein Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb: Wer unlauter ist, hat einen Nachteil, muss seinem Konkurrenten Schadenersatz zahlen. In der Politik habe ich den Eindruck gewonnen: Wer unlauter ist, hat einen Vorteil. Nehmen wir an, es wäre wie beim Fussball: Beim ersten groben Foul gibt’s die gelbe Karte, beim zweiten die rote. Wer bewusst und gewollt etwas Falsches über den Konkurrenten sagt, kriegt die rote Karte, darf sich fünf Tage am Wahlkampf nicht mehr beteiligen.

Wer ist der Schiedsrichter?

Nicht das Verfassungsgericht, nicht der Bundespräsident. Wir müssen hier völlig neue Wege gehen.

Das führt zu einer Verrechtlichung der Politik.

Wenn man im Wahlwettbewerb nicht mehr argumentieren kann, geht es zu wie in der Waschmittelwerbung. Das Volk ist gescheiter, der Bürger mündiger, als man denkt.

Haben Sie Kanzler Schröder je gesprochen?

Nie. Nicht einmal am Telefon.

Wünschen Sie ein Gespräch?

Im Moment nicht. Aber während des Wahlkampfs hätte ich mir das sehr gewünscht.

Um ihm was zu sagen?

Ich hätte ihn fragen wollen: Warum er in der Öffentlichkeit über einen Menschen spricht und diesen persönlich charakterisiert, obschon er ihn gar nicht kennt? Warum er in der Öffentlichkeit über ein Konzept spricht, das er entweder nicht kennt oder, wenn er es kennt, verfälscht?

Da klingen Verletzungen an. Sie wurden dargestellt als die Personifizierung «vom Nestor zum Polonius zum Professor Unrat».

Es gab nicht nur diese Niedertracht. Gleichzeitig habe ich noch nie so viel Anfeuerung, Bestätigung, Ermutigung, Dank erfahren.

Schröder ist ein guter Politiker. Er hat gesehen, dass er die Stimmung kippen kann, wenn er den «Professor aus Heidelberg» scharf attackiert.

Er hat nicht scharf attackiert, sondern er hat verfälscht, desinformiert, und das ist unlauter. Wenn der Zweck die Mittel heiligt, dann hat Herr Schröder bedingten Erfolg gehabt.

Wie hätte ein Schiedsrichter eingreifen sollen?

In der vergleichenden Werbung darf man den Konkurrenten nicht schlechter machen, als er ist. Wenn ein Autohändler sagt, das Konkurrenzauto beschleunige zu wenig, obschon es vorzüglich ist, dann muss dieser Autohändler den Erfolg der Unlauterkeit an den Konkurrenten zahlen. «Lauter» zu sein, heisst ja nicht, weltfremd zu sein, das ist kein moralisierendes ethisches Postulat.

Aber die Politik läuft anders.

Ja. Und deswegen möchte ich eine freiwillige Vereinbarung unter den Parteien anregen. Darin einigen sich die Politiker zuerst über die Grundsätze, dann über die Sanktionen.

Sie hatten doch Ihre eigenen Leute gegen sich. Christian Wulff, CDU-Ministerpräsident in Niedersachsen, meinte, ein einheitlicher Steuersatz verstosse gegen das Gerechtigkeitsgefühl der Deutschen.

Die europäische Tradition begann mit dem biblischen Zehnten: Jeder gibt einen Zehntel seines Einkommens ab – die erste Flat Tax unserer Kulturgeschichte. Vor allem aber haben wir im deutschen Recht eine Flat Tax, heute schon: 25 Prozent für die thesaurierten Gewinne der Kapitalgesellschaften. Das ist mein Ausgangspunkt. Warum soll jemand, der sein Geld mit Arbeit verdient, bis zu 42 Prozent Steuern zahlen, während die Kapitalgesellschaften nur 25 Prozent abgeben müssen? Wenn man solch einfache Fragen stellt, praktisch und lebensnah, geht den Wählern ein Licht auf. Zudem entlastet mein Reformvorschlag die kleinen Einkommen.

Die Flat Tax ist vielleicht eine einleuchtende Idee. Aber die Mehrheit der Deutschen will davon nichts wissen.

Alle Menschen, mit denen ich gesprochen habe, wollten durch dieses Tor in die Freiheit gehen.

Das waren zu wenige.

Richtig.

Sogar der erfolgreiche Finanzminister der Slowakei sagt, er habe zum Glück den Wahlkampf nicht mit der Flat Tax führen müssen, sondern habe nur von «Vereinfachung» gesprochen. Ist die Flat Tax in der Demokratie nicht zu vermitteln?

In Deutschland ist eine Flat Tax üblich, leider nur für die Kapitalgesellschaften. Wenn es möglich ist, eine fehlerhafte, ungerechte Flat Tax einzuführen, sollte auch das vollständige, gerechte Konzept eine Chance haben. Nicht in vier Wochen Wahlkampf, das haben wir jetzt erlebt.

Nirgends werden die Steuergesetze vereinfacht, sondern überall werden sie noch komplizierter.

Mein Kernanliegen war die Vereinfachung. Aber es gibt graduelle Unterschiede in der Komplexität der Komplizierung. Ich war kürzlich in Genf, am Institut des Weltwirtschaftsforums, das 117 Industriestaaten vergleicht. Da ist Deutschland nur in einer Position auf dem zweitletzten Platz: beim Steuerrecht. Andere Staaten haben auch ein kompliziertes System, wir haben es auf die Spitze getrieben.

Der Umgang mit dem Staat wird auch sonst immer komplizierter. Eine Art Naturgesetz?

Erstens: Die Lebensverhältnisse werden immer komplizierter, also muss das Recht einfacher werden. Zweitens: Die gute und richtige Idee konnte in vier Wochen nicht vermittelt werden. Aber das heisst nicht, dass diese Idee nicht vermittelbar wäre. Als die allgemeinen Menschenrechte 1776 in den USA verkündet wurden, war ein Grossteil der Verkünder Sklavenhalter. Die sagten: Die Abschaffung der Sklaverei ist unmöglich. Jahrzehnte später, leider mit einem Bürgerkrieg verbunden, hat sich die Idee durchgesetzt. Als 1789 in der Französischen Revolution die allgemeinen Menschenrechte durchgesetzt wurden, gab es eine Fussnote, die vermerkte: Diese Menschenrechte gelten nicht für Scharfrichter, Gaukler und Protestanten. Wenige Zeit später war die Fussnote weg. Die Idee war stärker als die Beharrungselemente.

Muss das heutige System noch komplizierter werden, damit es sich selber pervertiert?

In Deutschland haben wir diesen Punkt erreicht. Aber man sagt, eine gute wissenschaftliche Idee in der Ökonomie und im Recht brauche zwanzig Jahre, um sich durchzusetzen. Ich bin im achtzehnten Jahr, fast am Ziel.

Das jetzige Kabinett von Angela Merkel hat andere Ziele. Taugt eine grosse Koalition zu einer guten Regierung?

Die Demokratie lebt vom Verhältnis zwischen Regierung und Opposition. Für einen Flächenstaat wie Deutschland ist eine grosse Koalition die Ausnahme in Sonderlagen.

Und für ein kleines Land wie die Schweiz?

Sie haben eine andere Demokratie als wir, die Kantone sind viel wichtiger, darum haben die Parteien auch nicht dieselbe polarisierende Funktion wie in Deutschland.

In der föderalistischen Schweiz herrscht, anders als in Deutschland, harter Steuerwettbewerb.

Die Kategorie des Wettbewerbs ist hier verfehlt. Wettbewerb sucht Gewinnmaximierung. Wenn ich dieses Prinzip auf das Steuerrecht übertrage, muss ein Staat herausholen, was herauszuholen ist. Nun sagen Sie mir sicher, das Ziel sei umgekehrt, der Staat solle dank dem Steuerwettbewerb möglichst wenig Geld holen. Auch diese Form des Wettbewerbs ist illegitim. Das Ziel wäre erreicht bei null Steuereinnahmen, das tötet den Staat. Ein Wettbewerb, der planmässig auf ein illegitimes Ziel hinausläuft, ist rechtlich nicht tolerabel. Das führt letztlich dazu, dass wir einander gegenseitig abwerben. Ich will doch keine Schweizer abwerben, damit sie in Deutschland Steuern zahlen.

In der Schweiz sieht man es gern, wenn reiche Deutsche da Steuern zahlen.

Das weiss ich, ich habe einen guten Freund in Zug. Aber das ist nicht mein Konzept.

Im Schweizer Steuerwettbewerb gibt es neu sogar degressive Sätze. Hätten Sie diese als Verfassungsrichter akzeptiert?

Auf keinen Fall. Jeder muss nach seiner Leistungsfähigkeit beitragen. Das wäre in unserem Steuerrecht nicht möglich, weil es gleichheitswidrig ist.

Pflegen Sie mit Angela Merkel noch Kontakt?

Am Montag nach der Wahl wurde ich als Gast im CDU-Vorstand in Ehren verabschiedet. Als Angela Merkel dann zur Kanzlerin erkoren wurde, habe ich ihr einen Gratulationsbrief geschrieben, und ich habe jetzt einen Brief von ihr zurückerhalten.

Paul Kirchhof, 62, war zwischen 1987 und 1999 Bundesverfassungsrichter. Seit 1981 ist er Direktor des Instituts für Finanz- und Steuerrecht der Universität Heidelberg.

Übersicht