«Sagen wir es so» Interview mit Moritz Leuenberger, Bundespräsident 2006 22.12.2005, Weltwoche

«Sagen wir es so»
Interview mit Moritz Leuenberger, Bundespräsident 2006 22.12.2005, Weltwoche

Von Thomas Widmer und Markus Schneider

Herr Bundesrat Leuenberger, welche Fragen stellen Sie sich selber?Ich stelle mir viele Fragen, stelle mir vor jedem Entscheid Fragen und Gegenfragen, organisiere sogar, dass mir diese Fragen und Gegenfragen gestellt werden. Allerdings weiss ich jetzt nicht, ob Sie das hören wollten?

Wir erhofften uns etwas Persönliches. Fragen, die man sich in einer ruhigen Minute stellt.

Lassen wir’s bei folgender Aussage: Wenn ich mich jetzt gerade frage, was ich mich frage, dann heisst das nicht, dass ich mir selber keine Fragen stelle.

Okay. 2006 sind Sie zum zweiten Mal Bundespräsident. Keine Angst vor der Wiederholung?

Nein. Weil ich nicht abergläubisch bin. Sie spielen ja wohl auf all die Katastrophen meines ersten Präsidialjahres 2001 an: 9/11, das Massaker von Zug, den Zusammenbruch der Swissair, den Brand im Gotthardtunnel?

Wir meinten eher, es könnte Sie ängstigen, dass so ein Amt auch langweilig werden kann.

Dass ich vieles schon kenne, macht es mir eher leichter. Es gibt viele politische Rituale, die einen das erste Mal beschäftigen. Wie man eine Ehrengarde abmarschiert etwa. Dennoch gehe ich nicht mit blindem Jubel in mein zweites Präsidialjahr. Die Situation im Bundesrat ist eine andere, ich kann nicht mit dem Konsens auf Kollegialität rechnen wie vor fünf Jahren, als sich alle Bundesräte innerlich zur Kollegialität bekannten.

Wie viele Bundesräte bekennen sich denn heute nicht mehr innerlich zur Kollegialität?

Das wäre ja schon ein Bruch der Kollegialität, wenn ich das breit darlegen würde.

Gibt es zum Thema Kollegialität ansonsten etwas, was Sie noch nicht gesagt haben?

Sie wollen nicht schon wieder eine Kollegialitätsdiskussion. Verstehe ich. Nur so viel: Die Kollegialität ist zwar in der Verfassung vorgeschrieben, ist aber in der Praxis eher eine Frage des gemeinsamen Willens und des Tonfalles und kaum reglementierbar. Kollegialität heisst, gemeinsam gefällte Entscheide gemeinsam tragen und vertreten.

In einer Rede vor der SP haben Sie angesichts widersprüchlicher Haltungen von Bundesratsmitgliedern eingeworfen, gelegentlich wäre eine Blutprobe fällig. Konkret: Wer erscheint angetrunken zur Sitzung?

Nein, nein, nein, das habe ich nicht gesagt. Ich geisselte den Zickzackkurs des Parlamentes in der CO2-Politik und des Bundesrates bei den Partikelfiltern und dem Bonus-Malus-System. Da die Rede von Strassenverkehrsrecht handelte, sagte ich, bei solchen Zickzackfahrten wäre gelegentlich eine Blutprobe fällig. Daraus die Aussage zu konstruieren, meine Kollegen im Bundesrat seien betrunken, war eine mediale Zuspitzung.

Laut Text der Rede haben Sie zuerst einen Entscheid des Bundesrats kritisiert: Es ging um das Bonus-Malus-System zu Lasten schmutziger Autos, das der Bundesrat früher noch einführen wollte, neu aber ablehnt. Unmittelbar auf die Passage folgte Ihre Alkoholtest-Bemerkung. Das war doch eindeutig auf den Bundesrat gemünzt.

Den Vergleich Zickzackkurs und Atemtest erträgt es in dieser Form und bei dieser widersprüchlichen Politik. Kein Mensch im Publikum meinte, ich sage, der Bundesrat sei betrunken.

Ist Christoph Blocher der Hauptschuldige an der schlechten Atmosphäre im Bundesrat?

Derartige Interpretationen vorzunehmen, widerspricht meiner Auffassung, wie ein angehender Bundespräsident sich verhalten muss. Sagen wir es so: Seit den letzten Bundesratswahlen hat sich die Atmosphäre verändert.

In der Privatwirtschaft würde man, wenn es in einem Gremium nicht mehr geigt, extern psychologische Hilfe suchen.

Dann bin ich froh, bin ich nicht in der Privatwirtschaft. Legt man sich dort in solchen Fällen wirklich auf die Couch?

Die Couch ist out. Man analysiert das Gesprächsverhalten, begibt sich in Rollenspiele…

…in der Privatwirtschaft hat eine Firma das klare Ziel, Geld zu verdienen. Aber wir sind in einer Regierung mit vier Parteien, die nicht notwendigerweise dasselbe Ziel anvisieren. Unsere Konflikte müssen politisch ausgetragen werden, nicht mit einer Psychologin oder einem Psychologen.

Wenn es ganz trostlos wird, hat der Mensch die Religion. Beten Sie?

Man bezeichnet mich ja immer wieder als Pfarrerssohn. Meine Erziehung war christlich, aber weniger gottesfürchtig als eher liberal-theologisch. Ich habe also meine Wurzeln. Ich bin Mitglied der protestantischen Kirche und werde immer wieder für gesellschaftliche, religiöse, ja theologische Fragen als Redner geholt.

Gehen Sie auch einmal privat in eine Kirche?

Leider vor allem zu Beerdigungen.

Haben Sie einen Christbaum zu Hause?

Ein Kunsthandwerk, behängt mit Figuren aus dem Roman «Alice im Wunderland».

Damit zum Zustand des Landes. Können Sie für uns den Optimisten mimen und sagen, was Ihnen Freude macht?

Halt schon das Zusammengehörigkeitsgefühl. Als Bundesrat kann ich das gesteigert erleben, als Bundespräsident noch intensiver. Die Solidarität der Schweizerinnen und Schweizer untereinander ist sehr gross. Beispielsweise war die Reaktion auf die Unwetterkatastrophe im Spätsommer eindrücklich. Und all die Solidarität in der Freiwilligenarbeit, im kulturellen Engagement, im Sozialen, in der Feuerwehr.

Unser Gefühl sagt uns eher, die Stimmung im Land sei griesgrämig. Was ist Ihr Aktionsprogramm gegen den helvetischen Katzenjammer?

Willi Ritschard sagte schon, er habe manchmal, wenn er die Leute auf der Strasse sehe, das Gefühl, sie tränken zum Morgenessen einen Liter Essig. Aber ist das nicht auch so eine Masche, dass man die Schweizer als griesgrämig hinstellt? Wenn schon Volkspsychologie, würde ich eher sagen, ich empfinde die Stimmung als gereizt. Aber nehmen wir an, die Schweizer seien griesgrämig. Dann wäre meine Gegenstrategie die folgende: sich zur Hoffnung bekennen. Auf etwas hinarbeiten, woran man glaubt.

Welches ist Ihr Fernziel?

Ich glaube an die Ziele der Aufklärung, an Gleichheit, Gerechtigkeit, Solidarität. Auch wenn die drei sich widersprechen. Würden wir sie dennoch unter einen Hut bringen, könnte es gelingen, eine Gesellschaft ohne Krieg zu schaffen.

Nächstes Jahr dürfen wir mit Euphorie im Kleinstaat rechnen. Gehen Sie auch ins Stadion, wenn die Schweizer Fussball-Nati an der Weltmeisterschaft spielt?

Ich habe mir die Tage in der Agenda markiert, habe aber an einigen Tagen auch noch andere Termine zur Auswahl.

Gehen Sie überhaupt zu Fussballspielen?

Ich weiss zumindest Bescheid, was läuft. Ich wuchs ja ganz nah beim St.-Jakob-Stadion in Basel auf und hatte immer eine emotionale Beziehung zum FC Basel. Auch als es ihm ganz schlecht ging – meinen Sie ja nicht, ich sei ein Opportunist, der nur die Sieger unterstützt. Wie der FC Thun eben in der Champions League ungerecht behandelt wurde, das tat mir schaurig weh.

Und Ihre Prognose für die WM?

Innerhalb ihrer Gruppe werden die Schweizer mindestens Zweite.

Sie selber wirken sportlich und sind schlank. Wie halten Sie sich fit?

Leider gar nicht.

Keine Fitnessgeräte zu Hause?

Ich war früher sehr sportlich, war sehr gut im Laufen über 100, 200, 400, 800, 1500 Meter und war fast überzeugt von meiner Karriere. Dann wurde ich schwer krank, lag fast ein Jahr im Spital, bewegte mich kaum. Danach durfte ich keinen Sport mehr treiben.

Kürzlich zeigte ein Bericht, dass viele Schweizer Übergewicht haben. Sie selber haben das Problem eindeutig nicht.

Obwohl ich mich saudumm verhalte. Ich esse nichts zu Morgen, esse nichts zu Mittag, esse unendlich viel zu Abend und trinke dazu gern Rotwein. Jeder Ernährungsberater sagt, vollkommen falsch. Aber so verhalte ich mich seit Jahrzehnten, und es ist mir wohl dabei.

Wie geht es, dass man als Bundesrat an offiziellen Anlässen mittags nichts isst?

Man kann das üben. Man muss das Essen auf dem Teller so gut zerschneiden und neu aufhäufen, dass alle meinen, man habe die Hälfte gegessen.

Welches sind die Grundirrtümer der Neoliberalen?

Das Wort «neoliberal» brauche ich nicht. Das vorausgeschickt. Ein Grundirrtum ist es zu meinen, der freie Wettbewerb entbinde den Staat von Regeln. Wir haben an vielen Orten liberalisiert, und überall mussten wir regelnde Instanzen einführen, die ComCom und die Eisenbahnkommission beispielsweise, und auch beim Stromversorgungsgesetz müssen wir ein solches Gremium einsetzen. Ich bin durchaus für Wettbewerb, jedoch muss er fair sein und überwacht werden. Der schrankenlose Wettbewerb als Lebensprinzip bringt auch Verlierer mit sich, und die Gesellschaft braucht die Solidarität mit den Schwachen.

Einer Ihrer langjährigen Freunde ist Thomas Held. Er gilt als Neoliberaler. Wenn Sie das Wort nicht mögen ­ wie bezeichnen Sie ihn?

Jedenfalls ist mir die Liberalisierung als solche kein Wert. Mein Wert ist der Zusammenhalt der Gesellschaft und also auch die Grundversorgung. In einigen Bereichen muss liberalisiert werden, weil die Liberalisierung zu Innovation und günstigeren Angeboten führt, in anderen Bereichen aber glaube ich an das Monopol. Auf keinen Fall wird die Methode, wie man eine Gesellschaft organisiert, für mich zum Glauben.

In den Medien schneiden Sie immer schlechter ab. Kürzlich titelte etwa der Tages-Anzeiger: «Vom Hoffnungsträger zum Buhmann».

Die haben eine andere Realität als ich. Ich habe gar nicht realisiert, dass ich der Buhmann sein soll. Ausser bei den Südanflügen, wo man mich dazu machte. Aber so allgemein?

Sehen Sie sich als Medienopfer?

Nein! Wieso sagen Sie das? Ich sehe mich überhaupt nicht als Opfer.

Jeder Politiker achtet darauf, wie er in den Medien dargestellt wird.

Wichtiger ist, wie die Sachgeschäfte in den Medien wegkommen. Das Parlament entscheidet über sie, und natürlich wird auch das Parlament ­ und später die Stimmbürger ­ von den Medien beeinflusst.

Was schreiben Sie uns Journalisten fürs neue Jahr ins Stammbuch?

Ach. Das habe ich aufgegeben. Ich war letzthin an einer Diskussion über Medienfragen. Alle um mich herum überboten sich in pauschaler Kritik. Ich war der Einzige, der darauf hinwies, dass es um gesamtgesellschaftliche Trends gehe, und ich distanzierte mich ausdrücklich von Medienschelte. Danach wurde geschrieben, ich hätte an der Veranstaltung Medienschelte betrieben, obwohl das Gegenteil stimmt. Aber was will man machen? Wenn ich meine Reden zu Medienfragen über die Jahre vergleiche, stelle ich fest, dass ich die Medien heute kaum mehr kritisiere.

Sie haben resigniert?

So zu tun, als seien nur die Medien am aggressiveren Stil unserer Zeit schuld – ich weiss nicht. Sarkozy und Schwarzenegger und dieser ganze Männlichkeits- und Siegerkult, das wird zwar durch die Medien vermittelt, aber sie setzen den Trend doch nicht allein.

Zurück zu Ihrer Weigerung, das Wort «neoliberal» zu brauchen. Sie reden stattdessen gelegentlich von der «neuen Rechten».

Ich vermeide damit den Ausdruck SVP. Denn es gibt für mich, insbesondere in der SVP, insbesondere im Kanton Bern, eine wertkonservative Rechte, die immer zu unserem Land gehört hat und mit der ich gern zusammenarbeite. Und es gibt anderseits eine neue Rechte, die den politischen Feind unflätig, aggressiv und unfair zu erschlagen versucht. Wenn ich da nur an die Mörgeli-Kolumnen denke.

Christoph Mörgeli griff Sie zwei Tage vor der Wahl zum Bundespräsidenten auch im SVP-Pressedienst frontal an, unter dem Titel: «Moritz Leuenbergers milliardenteure Unfähigkeit».

Habe ich nicht gelesen. So etwas ist Krawallantentum.

Was sagen Sie einem Jugendlichen: Welchen Preis zahlen Sie für Ihr Amt, und welches ist der Lohn?

So darf man nicht fragen! Was der Lohn ist und was der Preis, das darf nicht die Lebensperspektive sein. In diesem Sinn sage ich den Jugendlichen: Hört doch auf, Englisch zu lernen, damit ihr Manager werdet! Lernt Englisch, weil es Spass macht.

Ist das Ihr Credo: gern machen, was man macht?

Mein politisches Engagement kam immer aus dem Bauch. Nie hätte ich gesagt: Ich will einmal Bundesrat werden. Ich engagierte mich immer. Ganz am Anfang für den Zivildienst für Militärdienstverweigerer. Das Engagement trägt einen weiter. Und es bringt nichts zu überlegen: Verdiene ich als Zahnarzt mehr oder als Manager?

Wie werden Sie eigentlich die Aggressionen los, die die Politik erzeugt?

Da gibt es in der Politik selber genügend Möglichkeiten. Das kann auch das Wort sein. Wobei ich damit keine brutalen Beschimpfungen meine, sondern eher feine Andeutungen, in denen die Aggression ihre Befriedigung findet.

Sie pendeln im Zug von Zürich nach Bern. Werden Sie nicht angepöbelt, weil man Sie als Politiker fürs Rauchverbot der SBB verantwortlich macht?

Bis jetzt nicht. Das Rauchverbot wird ja offenbar gut akzeptiert. Wenn es Schwierigkeiten geben sollte, könnten die SBB ja bei den längeren Zügen ganz hinten einen Raucherwagen anhängen. Dieser Wagen würde dann immer dunkler, wäre am Schluss eventuell eine Attraktion wie die «Öpfelchammer» [ein historisches Restaurant im Zürcher Niederdorf, die Red.].

Werden Sie in diesem Sinne tätig werden?

Nein. Wissen Sie, wenn die SBB sagen, sie machten mit der Abschaffung der Raucherabteile das bessere Geschäftsergebnis, dann ist das als operativer Entscheid ihre Sache. Und es ist ja offensichtlich: Die Passagiere haben dieses Verbot gewollt.

Neulich prägten Sie anlässlich der Eröffnung der Autobrücke vor Klosters in Anwesenheit von Prinz Charles die Zeile: «Eine Prättigauer Prücke praucht einen Prinzen.» Wir fragen uns, ob wir die Zeile genial oder schwach finden sollen.

Sie ist kein Meisterwerk, aber von mir. Und die Leute hatten ihren hellen Plausch. Prinz Charles war gar begeistert. «Your alliterations are so great», hat er mir gesagt.

Also ein Lob Ihrer literarischen Technik. Welches Buch hat Sie am meisten geprägt?

Die «Einführung in die Rechtswissenschaft» von Gustav Radbruch.

Und welches Buch prägte Sie im letzten Jahr?

Das war ein Roman. «Schiffbruch mit Tiger» von Yann Martel. In dem Buch finden Sie auch die Antwort auf Ihre vorherige Frage zu meinem Glauben.

Moritz Leuenberger wurde 1946 in Biel geboren. Seit der Wahl in den Bundesrat 1995 steht er dem Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation vor. 2006 wird er zum zweiten Mal nach 2001 Bundespräsident.

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