Lieber einen McJob als keinen Job 26.01.2005, Tages-Anzeiger

Lieber einen McJob als keinen Job
Die McSchweiz-Debatte mit einer Replik von Arbeitgeber-Direktor Peter Hasler und einer zweiten Replik von den Gewerkschaftern Christine Goll und Beat Ringger 26.01.2005, Tages-Anzeiger
Text von Markus SchneiderNach den «Scheininvaliden» wird der Sozialstaat von einer neuen Spezies «missbraucht»: von den «Sozialschmarotzern», die in der «Hängematte» liegen, statt dass sie arbeiten. Während deren Zahl auf den Fürsorgeämtern anschwillt, wird der Vorwurf immer lauter: Leute, die zum Leben zu wenig verdienen, könnten schon – wenn sie nur wollten.Diese Diskussion tönt etwas stark nach Moral, doch Moral ist in ökonomischen Fragen ein schlechter Ratgeber. In einer freien Gesellschaft gibt es zum Glück keinen Arbeitszwang. Noch entscheidet jede Person selber, wie viel sie arbeiten will – unabhängig davon, ob sie im Monat 1,75 Millionen Franken einstreicht wie der Chef der Novartis oder so wenig wie eine Kassiererin im Supermarkt. Beide Personen haben das Anrecht, mit dem gleichen Respekt behandelt zu werden, denn beide verhalten sich wie jeder andere Homo oeconomicus auch: Sie maximieren ihren persönlichen Nutzen, schön nach den jeweiligen Rahmenbedingungen.

Ein Daniel Vasella darf auf jene verweisen, die etwas weniger leisten als er. Hingegen muss eine Kassiererin im Supermarkt, die mit 100 Prozent Einsatz auf 3000 Franken im Monat kommt, zur Kenntnis nehmen, dass bei ihr Leute vorbeikommen, die null Prozent leisten, aber dank der Sozialhilfe mehr Geld im Sack haben als sie, die arbeitet.

Also wird die Höhe der Schweizer Sozialhilfe, wie es in der Sprache des Daniel Vasella heisst, zur «Benchmark». Eine Familie mit drei Kindern, die ein klein wenig selber verdient, 600 Franken, kommt von Staates wegen auf ein staatlich garantiertes Minimaleinkommen von 6031 Franken monatlich. Das ist keine Propaganda von rechts, sondern ein offizielles Rechenbeispiel aus einem Papier des Sozialamts Zürich.

Was lehren uns solche Angebote des Sozialstaats? Dass sich Arbeit nicht mehr lohnt. Wer bei der Sozialhilfe unterkommt, lebt zwar nicht gerade in Saus und Braus. Die Pauschale für eine Einzelperson liegt bei 960 Franken monatlich, sie ist auf Anfang dieses Jahres sogar leicht gesunken. Diese 960 Franken sind reserviert für die Einkäufe von Lebensmitteln und Kleidern. Lukrativ wird die Sozialhilfe erst durch die Zusatzleistungen: Die Wohnungsmiete wird bezahlt und sämtliche Krankheitskosten, während die Supermarktkassiererin nur einen Teil der Prämie subventioniert erhält, jedoch die Franchise und den Selbstbehalt und die Zahnarztrechnung selber bezahlen muss. Am Ende muss sie sogar Steuern zahlen: In der Stadt Zürich zahlen Ledige mit brutto 36 000 Franken Jahreslohn 2000 Franken.

Diese Ausgangslage zeigt, wie sich die Bedürftigen wehren würden, wenn sie nur besser gebildet wären. Ein Daniel Vasella würde vom «Grenzsteuersatz» reden und den Prozentsatz meinen, der ihm der Staat von jedem Franken, den er zusätzlich verdient, konfisziert. Steigt dieser Grenzsteuersatz auf über fünfzig Prozent, wie es ausserhalb von Zug, Schwyz oder Nidwalden der Fall ist, verlieren sie jede Motivation. «Das ist doch halbe Sklaverei», schimpft Nobelpreisträger Milton Friedman.

Noch schlimmer als den Daniel Vasellas ergeht es hier zu Lande allerdings den Kleinverdienern. Sobald Leute, die auf Neudeutsch Working Poors genannt werden, sich etwas anstrengen, müssen sie Steuern zahlen – und verlieren gleichzeitig Ansprüche auf staatliche Transfers, so dass sie zwar ihren Lohn steigern, aber am Ende kaum mehr Geld im Sack haben als zuvor.

Was unglaublich tönt, wird leider wahr. Verdienen Working Poors zusätzliches Geld, verlieren sie Krankenkassensubventionen. Oder sie zahlen höhere Tarife für die Kinderkrippen und Kinderhorte, die sehr schnell sehr hoch ansteigen. Im Normalfall steigt ihr Grenzsteuersatz auf 60 Prozent, im schlimmsten Fall sogar auf über 100 Prozent. Geschiedene Frauen etwa müssen höllisch aufpassen, ja nicht «zu viel» zu verdienen, sonst bekommen sie die Alimente nicht mehr bevorschusst. Und die Schweizer Politikerinnen und Politiker erfinden laufend neue Fallstricke: Die Kinderprämien der Krankenkassen sollen in Zukunft erlassen oder halbiert werden, aber nur für jene, die nicht «zu viel» verdienen.

Resultat: Die Fleissigen kommen auf keinen grünen Zweig. Statt nach oben, orientieren diese sich neuerdings nach unten – nämlich an jenen Mitmenschen, die etwas weniger arbeiten, aber dafür mehr vom Staat erhalten. Wenn das so weitergeht, landet bald der ganze untere Mittelstand bei der Sozialhilfe. «Die Motivation der Noch-Beschäftigten sinkt mit jeder neuen Sozialabgabe, die sie nun selbst in die Nähe derer befördert, die sie alimentieren», schreibt der «Spiegel»-Publizist Gabor Steingart und fährt bildhaft fort: «Der Katze wird die Maus aus den Krallen genommen und an fremde Kätzchen verfüttert. Das Ergebnis ist absehbar. Die Katze lässt das Mausen sein, und die Kätzchen werden auf diese Weise nicht stark, nur fett.»

Wie lösen wir den Knoten? Wohl kaum, indem der Staat einen neuen Arbeitszwang einführt. Aber wir sollten aufhören, das Nichtstun zu belohnen. Und es ist nicht klug, wenn unsere Politiker laufend neue einkommens- und vermögensabhängige Transfers erfinden, die untereinander nicht koordiniert sind und damit zu «falschen» Anreizen führen. Stattdessen könnten wir Steuergutschriften einführen, wie sie im ganzen angelsächsischem Raum üblich sind. Tun wir das einigermassen intelligent, bleibt das System sozial und gerecht für alle – aber Arbeiten lohnt sich trotzdem. Konkret:

Wer nichts arbeitet, bekommt nichts. Es sei denn, diese Person sei aus gesundheitlichen Gründen arbeitsunfähig (= invalid).

Erst wer selbst etwas leistet, wird vom Staat belohnt. Wer ein Minimum von 1200 Franken im Monat verdient, kriegt 1200 zusätzlich, hat 2400 Franken im Monat – und damit in etwa so viel wie heute ein allein stehender Fürsorgeempfänger, der nichts tut.

Wer 2000 Franken im Monat selber verdient, bekommt vom Staat 800, hat damit 2800 Franken, und so weiter. Eine Supermarktkassiererin, die 3000 Franken selber verdient, könnte noch 200 Franken erhalten. Ab 4000 Franken Monatslohn kehrt das System, und die Leute müssen wie heute Steuern zahlen.

Zusätzlich werden Kindergutschriften eingeführt, die unabhängig vom Einkommen ausbezahlt werden.

Klar, solche Ideen laufen auf eine Subventionierung der tiefsten Löhne hinaus. Das tönt unschön. Doch was ist die Alternative? Laut Pisa-Studien können 15 Prozent der 15-Jährigen kaum lesen, kaum rechnen und haben damit null Chance auf eine Lehrstelle. Ihnen bleibt im Zeitalter der Globalisierung in der Schweiz nur diese eine Wahl: entweder ein McJob – oder kein Job.

Die explodierenden Kosten unserer Sozialhilfe beunruhigen. Die Budgets vieler Gemeinden laufen aus dem Ruder, und Sparprogramme sind angesagt. Zwangsläufig kommen die drastisch steigenden Sozialhilfekosten ins Visier der Sparpolitik. Zur Untermauerung der These «Wir geben zu viel Geld aus» eignen sich trefflich Einzelfälle, wo für den Hotelaufenthalt einer Familie, für die Unterbringung abgewiesener Asyl Suchender oder Spezialmassnahmen für einzelne Betroffene unverständlich grosse Summen ausgegeben werden. Doch wenn die Volksseele kocht, bleibt die umfassende Problemanalyse auf der Strecke.

Eine radikale Abkehr vom bisherigen System, wie sie Markus Schneider im «Tages-Anzeiger» vom 26. 1. 2005 vorschlägt, greift zu kurz. Zwar ist seine Analyse richtig, dass es stossend ist, wenn sich Arbeit nicht mehr lohnt und dass unser Sozialsystem manch falschen Anreiz schafft. Die Sozialhilfe muss gemäss seiner zutreffenden Kritik reformiert werden. Dabei darf aber das Kind nicht mit dem Bade ausgeschüttet werden.

Bewährtes Grundgerüst der Sozialhilfe

Die Sozialhilfe muss einen starken Anreiz bieten, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen. Wenn das Erwerbseinkommen zu 100 Prozent von der Sozialhilfe abgezogen wird, lohnt sich das Arbeiten nicht. Bei steigendem Einkommen fallen gewisse Sozialvergünstigungen, Subventionen und Erleichterungen weg, sodass es immer unattraktiver wird, noch ein Zusatzeinkommen zu erzielen. In den Kantonen und Gemeinden haben sich derart viele staatliche Zuschüsse und Eingriffe aller Art summiert (Stipendien, Kinderzulagen, Familienvergünstigungen, Steuerabzüge, Rabatte bei Kinderkrippen etc.), dass kaum noch eine Übersicht besteht. Und so kann es vorkommen, dass letztlich weniger im Portemonnaie hat, wer mehr verdient. Dieser Dschungel muss aufgeräumt werden.

Hingegen wäre es völlig verfehlt, deswegen das bewährte Grundgerüst der Sozialhilfe einfach aufzugeben. Sozialhilfe ist wesentlich mehr als die blosse Auszahlung von Geldern. Sozialhilfe sichert die Existenz bedürftiger Personen, fördert ihre wirtschaftliche und persönliche Selbstständigkeit und gewährleistet die soziale und berufliche Integration. Das soziale Existenzminimum soll nicht nur das Überleben der Bedürftigen, sondern auch ihre Teilhabe am Sozial- und Arbeitsleben ermöglichen. Es fördert die Eigenverantwortung und die Hilfe zur Selbsthilfe. Ursprünglich war die Sozialhilfe nur subsidiär zum Sozialversicherungssystem, und ihre Angebote waren vorübergehend und meist nur kurzfristig. Dies hat sich geändert. Heute hat die Sozialhilfe eine komplementäre Funktion bei der materiellen Existenzsicherung, und sie muss dies oftmals dauerhaft übernehmen. Sie muss deshalb Angebote entwickeln, die über die finanzielle Absicherung hinausgehen. Sie muss kompensierende Angebote haben, um den sozialen Ausschlussprozess zu verhindern. Ein entscheidender Teil der modernen Sozialhilfe sind deshalb Integrationsprogramme. Diese müssen aber auf dem Prinzip von Leistung und Gegenleistung basieren und Anreize bieten, um aus der Abhängigkeit herauszukommen.

Lohnkosten nicht an den Staat delegieren

Wenn Ökonomen also vorschlagen, dass nur auf Grund des Steuerausweises Einkommenszuschüsse ausbezahlt werden, wird übersehen, dass fast immer eine individuelle Problemsituation hinter dem unzureichenden Einkommen steht. Die blosse Aushändigung eines Checks durch den Steuerbeamten ändert an dieser Situation nichts, sondern verlängert sie. Damit besteht eine grosse Wahrscheinlichkeit, dass das System der negativen Einkommenssteuer die Kosten und die Abhängigkeit der Personen erhöht. Es besteht weiter die Gefahr, dass die Arbeitgeber die Löhne tiefer festlegen, wenn ein garantiertes Mindesteinkommen zugesichert wird. Solche Tieflöhne sind aber für den Wirtschaftsstandort Schweiz unerwünscht, weil sie eine unliebsame strukturerhaltende Wirkung haben könnten. Der Staat darf nicht für die Betriebe Lohnkosten übernehmen. Die Steuererklärung taugt auch wenig als Bemessungsgrundlage. Zu vielfältig sind hier zu Lande die Abzugsmöglichkeiten und Besonderheiten. Da besteht die Gefahr, dass wir mit Zuschüssen ausgerechnet diejenigen belohnen, die ohnehin am meisten Abzüge machen können.

Die Sozialhilfe hat die Problematik erkannt. Die entscheidende Fragestellung ist, wie die Ansätze festgelegt werden, damit sie im Vergleich zum vollen Lohn unattraktiv sind, aber dennoch ein «anständiges» Existenzminimum garantieren und es sich lohnt zu arbeiten. Die SKOS (Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe) hat ihre Richtlinien angepasst. Erwerbstätige, die Sozialhilfe beziehen, haben ab diesem Jahr einen Einkommensfreibetrag zwischen 400 und 700 Franken zur Verfügung. Der so genannte Grundbedarf wird von 1030 auf 960 Franken für einen Einpersonenhaushalt gesenkt und damit neu den einkommensschwächsten 10 Prozent der Schweizer Haushaltungen angeglichen (bisher 20 Prozent). Damit wird der Handlungsspielraum für Integrationsangebote und den Einkommensfreibetrag erweitert.

Das Bundesgericht hat es als zulässig erklärt, dass bei Missbrauch die Leistungen bis zu 15 Prozent gekürzt werden und dass Bezüger, die sich weigern, eine Stelle anzunehmen und zu kooperieren, ihre Anspruchsberechtigung verlieren. Eine zu starke Absenkung der Sozialhilfe würde die Gefahr beinhalten, dass noch mehr Versuche unternommen würden, sich eine IV-Rente mit Ergänzungsleistungen zu holen, die regelmässig der Teuerung angepasst wird. Die Gefahr des Missbrauchs, der Kriminalität und Schwarzarbeit würde grösser.

Es bleibt die Frage, wieso die Kosten der Sozialhilfe derart zunehmen. Man geht kaum fehl in der Vermutung, dass die Entwicklung der Gesellschaft ebenso dafür verantwortlich ist wie die schleppende Konjunktur und die Wegrationalisierung einfacher Arbeitsplätze. Wenn in den grossen Städten bereits jeder zweite Haushalt eine Einzelperson ist, wenn die Vereinsamung zunimmt, die Hälfte aller Ehen geschieden wird, rund 40 Prozent der Schulkinder unbetreut sind, fehlt es zunehmend an Zusammenhalt in der Gesellschaft. Wenn diese Probleme an den Staat delegiert werden, muss dies Kosten verursachen.

Die Kosten der Sozialhilfe werden gesamtschweizerisch auf rund 4 Milliarden Franken geschätzt. Dies ist relativ bescheiden, wenn man sie nur schon mit den etwa gleich hohen Aufwendungen für Kinderzulagen vergleicht. Bei den Kinderzulagen wird ohne Berücksichtigung des Bedarfs einfach ausbezahlt, und dies zudem noch vollständig zu Lasten der Wirtschaft. Die sozialpolitische Zielsetzung wird deutlich verfehlt. Wenn schon, dann wäre hier eine grundlegende Reform angezeigt. Die noch bestehenden Mängel der Sozialhilfe können behoben werden. Ein Systemwechsel zu Steuergutschriften oder Lohnzuschüssen vernachlässigt die Integrations- und Betreuungsfunktion. Was wir brauchen, sind nicht amerikanische Rezepte, sondern eine modernisierte Sozialhilfe.

Publiziert in: Tages-Anzeiger 31. Januar 2005

Was läuft falsch in der Schweiz? Zunächst einmal dies: Behinderte, Arbeitslose und Arme werden zunehmend als «Sozialschmarotzer» verunglimpft. Zehntausende, so wird unterstellt, beziehen lieber Sozialleistungen als zu arbeiten. Einzelfälle werden aufgebauscht, um ganze Bevölkerungsschichten in Verruf zu bringen. Das ist schlimm, weil es die Menschenwürde der Betroffenen verletzt. Das gehört aber auch zu den Rezepten neoliberaler Politiker, um die sozialen Errungenschaften in der Schweiz zu demontieren.

Tatsache ist: Wir haben zu wenig anständig bezahlte Jobs und damit zu viele Working Poor. Weil die Zeit, in der Arbeitslosengeld gezahlt wird, verkürzt wurde, werden Menschen auf Stellensuche schneller ausgesteuert und an die Sozialhilfe abgeschoben. Steuergeschenke an Reiche und Grosskonzerne führen zu einer «Politik der leeren Kassen». Damit werden dem Service public die Mittel abgegraben. Tausende von Stellen im öffentlichen Dienst, im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialbereich gehen deswegen verloren. Das verschlimmert die Lage auf dem Arbeitsmarkt: Statt den zaghaften Wirtschaftsaufschwung zu nutzen, bleibt die Zahl der Arbeitslosen hoch. Doch genau diese anhaltende Erwerbslosigkeit verursacht die heutigen sozialen Probleme.

Schuld an dieser Entwicklung ist eine Politik, die vor lauter Ideologie die offenkundigsten Fakten nicht mehr sieht. Die Ideologie sagt: Je tiefer die Steuern und je geringer die Sozialausgaben, desto mehr verdienen die Unternehmen, die dann in neue Arbeitsplätze investieren.

Die Fakten sagen: Die Schweizer Grossfirmen erzielen exorbitante Gewinne. Laut «Cash» vom 13. 1. 2005 heimsten die acht grössten Konzerne und Banken (UBS, Novartis, CS, Zürich FS, Nestlé, Roche, Swiss Re und Swisscom) im Jahr 2004 zusammen rund 40 Milliarden Franken ein (die Boni für das Management in der Gesamthöhe von mehreren Hundert Millionen Franken sind dabei nicht mitgezählt).

Die Bank Vontobel prognostiziert für 2005 einen nochmaligen Gewinnsprung von 20 Prozent. Freimütig gesteht der Finanzchef von Novartis nach der Verkündung des letztjährigen Rekordgewinnes ein: «Wir verfügen über zu viele liquide Mittel» («Tages-Anzeiger», 21. 1. 2005). Doch investieren tun sie nicht, die Grossfirmen, jedenfalls nicht in Arbeitsplätze. Weshalb nicht? Weil sich das Big Business nur noch für Vorhaben interessiert, bei denen die Gewinnmarge bei 15 oder mehr Prozent liegt.

Nichts ist deshalb falscher, als die Konzerne und die Reichen noch mehr zu hätscheln und mit weiteren Steuergeschenken zu bedienen. Wir müssen im Gegenteil dafür sorgen, dass diese blockierten Mittel der gesamten Bevölkerung zugute kommen und damit wieder in den Wirtschaftskreislauf einfliessen.

Was ist also zu tun?

Ein sozialer Staat sorgt für eine Umverteilung der Mittel von den Reichen zu den Ärmeren. Das ist in der Schweiz auf Grund eines ungerechten Steuersystems nicht der Fall. Nur in der Schweiz gibt es einen derart ausgeprägten Steuerföderalismus, der es den Reichen erlaubt, sich nach Freienbach oder nach Zug abzusetzen. Und nur in der Schweiz bezahlen alle die gleich hohen Krankenkassenprämien, ob sie nun Direktor Vaiselle oder Eva Grdjic heissen. In allen andern Ländern wird bei der Krankenversicherung die wirtschaftliche Lage der Menschen berücksichtigt.

Zusatzeinkommen lohnen sich für viele Familien und allein Erziehende nicht, wie die jüngste Studie der Skos zeigt. Sie reichen vielleicht gerade einmal, um die Kosten für Kinderbetreuung zu decken. Oder sie führen dazu, dass kantonale und kommunale Unterstützung für Einkommensschwache wegfällt, beispielsweise verbilligte Krankenkassenprämien.

So erstaunt es nicht, dass in den letzten 15 Jahren nur die reichsten 10 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer ihr Einkommen haben steigern können – der Grossteil der Bevölkerung tritt an Ort oder muss Einbussen in Kauf nehmen.

Das muss sich ändern. Die Schweiz braucht endlich eine nationale Strategie zur Bekämpfung der Armut, und diese Strategie muss für eine echte Umverteilung von oben nach unten sorgen.

Wir brauchen einkommens- und vermögensabhängige Krankenkassenprämien statt der heute bestehenden unsozialen Kopfsteuer. Dank dieser Reform werden jährlich rund 3 Milliarden Franken frei, die Bund und Kantone zurzeit für die Prämienverbilligung aufwenden, ohne einkommensschwache Versicherte und Familien mit Kindern wirksam entlasten zu können. Der Bund übernimmt deshalb neu die Finanzierung der Krankenkassenprämien von Kindern und Jugendlichen in Ausbildung.

Die Kantone investieren ihren Anteil, um neue Krippen und Horte zu schaffen, die sich auch ärmere Leute leisten können. Dadurch können Väter und Mütter Beruf und Familie verbinden. Gleichzeitig entstehen rund 10 000 neue Arbeitsplätze in der ausserhäuslichen Kinderbetreuung – eine höchst willkommene Entlastung auf dem Arbeitsmarkt.

Familienzulagen und Alimentenbevorschussung werden gesamtschweizerisch vereinheitlicht. Das Existenzminimum wird von den Steuern befreit. Die Armutsfalle «Kinderhaben» kann so weit gehend aus der Welt geschafft werden. Zudem brauchen wir eine schweizweit harmonisierte Sozialhilfe. Die Koordination mit den Sozialversicherungen wird verbessert, Aus- und Weiterbildung und die berufliche Integration werden gefördert. Die Sozialdienste der Gemeinden können so professionalisiert und das heutige föderalistische Willkürsystem abgeschafft werden.

Was ist auf keinen Fall zu tun?

Wenn es nach den Rezepten neoliberaler Politiker geht, dann sollen Tiefstlöhne vom Staat via Steuergutschriften subventioniert werden, ein Vorschlag, den auch Markus Schneider im TA vom 26. 1. 05 aufnimmt («Lieber einen McJob als keinen Job»). Das würde jedoch umgehend dazu führen, dass die Löhne auf breiter Front einbrechen. Welcher Arbeitgeber wäre denn noch bereit, einem 55-jährigen Lageristen 4500 Franken Lohn zu bezahlen, wenn er Leute für 1200 Franken anstellen kann? In die Folge müsste der Staat enorme Summen für die Steuergutschriften an die TiefstlohnempfängerInnen aufwenden. Nach kürzester Zeit wäre die Belastung für die Staatskasse so hoch, dass die Steuergutschriften drastisch gesenkt würden. Übrig bleiben dann nur die tiefen Löhne – und eine weitere Zunahme der Armut in der Schweiz.

Wir wollen keine vom Staat subventionierten McJobs, weil diese im Schnellzugstempo zu einer McSchweiz führen: Ein amerikanisiertes Land mit schwindendem sozialem Zusammenhalt, mit zunehmenden Ungerechtigkeiten, Hass, Neid und Gewalt. Wer es sich leisten kann, schickt seine Kinder dann in Privatschulen, lässt sich im Privatspital pflegen, bietet zum Schutz des Privateigentums die Privatpolizei auf und hält sich Dienstpersonal. Dienstpersonal? Logisch: Das wären dann die McJobs.

McSchweiz? Nein danke!

Publiziert in: Tages-Anzeiger, 2. Februar 2005

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