Billig kann jeder Zur McSchweiz-Debatte 03.02.2005, Die Weltwoche

Billig kann jeder
Zur McSchweiz-Debatte 03.02.2005, Die Weltwoche

Bei McDonald’s in Malaysia kostet ein Big Mac 1.33 US-Dollar, in den USA 3.00 US-Dollar, in der EU 3.47 US-Dollar, in der Schweiz 5.46 US-Dollar. Warum? Weil in der Schweiz alles teurer ist. Nicht nur die Mieten, nicht nur die Preise für Fleisch und Getreide, sondern vor allem auch die Löhne. McDonald’s hält sich an den Gesamtarbeitsvertrag. Auf die Stunde umgerechnet Franken 17.31 brutto im Minimum. Das tönt nach wenig. Aber in Deutschland beträgt der unterste Tarif-Stundenlohn 5.98 Euro, in Frankreich der als «Smic» abgekürzte Mindestlohn 7.14 Euro. So gesehen ist das Niveau der untersten Löhne in der Schweiz hoch – um einen Drittel höher als bei unsern Nachbarn in der EU.Zu verdanken ist dieses schöne Resultat den Gewerkschaften. «Kein Lohn unter 3000» hiess das Motto ihrer Kampagne, die nicht etwa vage formuliert war, sondern exakt. Gemeint waren 3000 netto, nach allen Abzügen für AHV, Pensionskasse, Arbeitslosen- und Unfallversicherung. Fünf Jahre Kampagne und viel öffentlicher Druck haben ihre Wirkung getan. 3000 Franken bar auf die Hand, so viel braucht eine Person in einem Monat zum Leben, alles andere gilt als «unfair». 100000 Leute hätten von der Mindestlohnkampagne profitiert, schätzt Gewerkschaftsökonom Serge Gaillard, «darunter überdurchschnittlich viele Frauen».Tatsächlich haben die Chefs gespurt. Claude Hauser, Präsident über die Migros, setzte seine Prioritäten so: Erstens müssten die Löhne rauf, und damit das möglich war, schreckte der Detailhändler vor nichts zurück. «Wenn wir die Preise um ein Prozent erhöhen, könnten wir dem Verkaufspersonal fünf Prozent höhere Löhne bezahlen», dachte Claude Hauser in einem Interview mit dem Sonntagsblick laut nach. Nach kurzem Zögern ergänzte er: «Das reicht nicht, wir brauchten zehn Prozent mehr Lohn und folglich zwei Prozent höhere Preise.»

So läuft die Sozialpartnerschaft hierzulande ab. Damit die Löhne hoch bleiben, höher als im Ausland, wird das Land vor der billigeren Konkurrenz abgeschottet. So etwas nennt man verharmlosend eine flankierende Massnahme. Demnach wird ein sogenannter Ausländer, der aus der EU freiwillig seine eigene Arbeitskraft zu einem tieferen Lohn als dem landesüblichen anbietet, wegen «Lohndumpings» verurteilt – und von Amtes wegen verfolgt. De jure gibt es keinen gesetzlichen Minimallohn, de facto schon. Der moralische Druck ist inzwischen so gross, dass sich kein Arbeitgeber mehr traut, eine Stelle billiger zu besetzen. Zahlt eine Firma, wie kürzlich in Romanshorn publik geworden, Stundenlöhne, wie sie in Deutschland oder Frankreich üblich sind, nämlich Franken 12.50, kommt sie unter Beschuss. «Solche Löhne sind unanständig», erregte sich der Leiter der Sozialen Dienste in Romanshorn im St. Galler Tagblatt. Andere ergänzten: «unmenschlich», «inakzeptabel».

Die Botschaft ist klar: Wer hierzulande erwerbstätig ist, soll so viel verdienen, dass er davon in Würde leben kann. So weit, so politisch korrekt. Nur muss die Gesellschaft dann auch bereit sein, die Konsequenzen dieser Politik zu akzeptieren. 3000 Franken netto sind aus globaler Sicht ein beachtlicher Lohn. «Für so viel Geld darf, ja muss man von den Arbeitnehmern etwas verlangen», denken sich die Chefs. Und steigern den Druck. So dass alle andern, die etwas weniger leistungsfähig sind, raus-fallen. 15 Prozent der 15-Jährigen können laut Pisa-Studie kaum lesen, kaum rechnen und haben damit null Chance auf eine Lehrstelle. Und Ungelernte, die netto weniger als 3000 Franken im Monat «wert» sind, haben null Chance auf einen Job.

Wo landen diese Leute? In der Arbeitslosenversicherung, später in der IV oder in der Sozialhilfe, die die untere Grenze definiert. Eine Einzelperson kriegt im Monat 960 Franken im Monat. «Dieser Betrag soll zu hoch sein? Schon nur die Frage zu stellen, ist eine Beleidigung all jener, die mit so wenig Geld auskommen müssen», schreibt der grünalternative Politiker Urs Müller in der Basler Zeitung. Nicht vergessen darf man jedoch die Zusatzleistungen: Fürsorgeempfänger zahlen null für die Miete, null für die Gesundheitskosten, null für die Steuern. Erst dadurch wird die Sozialhilfe zum Massstab, an dem sich Billiglohnarbeiter orientieren.

Gefahr der «Frühverrentung»

Eine alleinstehende Kassiererin im Supermarkt, die mit 100 Prozent Einsatz auf 3000 Franken netto kommt, zahlt ihren Lebensunterhalt von 960 Franken im Monat selber. Hinzu kommt die Miete, sagen wir 850 Franken. Für die Krankenkasse erhält sie in Basel-Stadt eine Subvention von 50 Franken; ist sie wie die meisten Basler bei der ÖKK, bleiben 310 Franken, die sie selber zahlen muss. Wird sie krank, muss sie Franchise und Selbstbehalt berappen, bis zu 80 Franken im Monat. Für Zahnarzt und Dentalhygiene, bei Sozialhilfebezügern ebenfalls gratis, nochmals 20 Franken. Dann muss die Kassiererin Steuern zahlen: Als Ledige ohne Kind zahlt sie in Basel 330 Franken pro Monat. Fassen wir zusammen: 960 + 850 + 310 + 80 + 20 + 330 = 2550 Franken. Damit bleiben der Kassiererin, die voll arbeitet, gerade 450 Franken übrig, von denen sie etwa die Haftpflicht und Hausratsversicherung zahlen muss, was Fürsorgeempfänger ebenfalls geschenkt erhalten. – Aus der Sicht von Familien mit Kindern sieht der Vergleich noch unvorteilhafter aus: Ein Paar mit zwei Kindern erhält von der Sozialhilfe, was einem Lohn von 5000 Franken entspricht. Solche Rechnungen zeigen, dass sich ein offizieller Billigjob noch knapp lohnt, aber nur noch knapp. An noch billigeren Jobs hingegen hat niemand Interesse. Die Chefs verzichten auf das Angebot (wäre «unanständig»), die Arbeitnehmer auf die Nachfrage (wäre «unwürdig»). Also muss man sich nicht wundern, wenn immer mehr Leute, die etwas weniger leistungsfähig sind, zu Frührentnern werden. Nimmt man die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter, sind in Basel-Stadt gut neun Prozent invalid und gut acht Prozent bei der Sozialhilfe. Trend: steigend.

Wie lässt sich eine weitere «Frühverrentung» stoppen? Bill Clinton in den USA oder Tony Blair in Grossbritannien empfehlen uns ein anderes Sozialsystem. Die Betroffenen sollen unter Druck gesetzt werden, einen Billigjob anzunehmen. Wer etwas vom Staat will, muss zuerst selber eine Leistung erbringen. Auf die Schweiz übertragen hiesse das: Wer null leistet, bekommt nichts. Wer aber 1200 im Monat selber verdient, wird vom Staat dafür belohnt, bekommt nochmals 1200, hat also 2400. Wer 2000 verdient, bekommt noch 800, hat also 2800, und so weiter. Noch sind solche Ideen tabu. «Was wir brauchen, sind nicht amerikanische Rezepte, sondern eine modernisierte Sozialhilfe»: Das schreibt kein Sozialarbeiter, sondern Peter Hasler, der Direktor des Arbeitsgeberverbands; er fordert via Tages-Anzeiger mehr fachliche Betreuung und «Integrationsprogramme». Vor einer Subventionierung tiefer Löhne hingegen warnt er, als wäre er ein Gewerkschafter: «Es besteht die Gefahr, dass die Arbeitgeber die Löhne tiefer festlegen, wenn ein garantiertes Mindesteinkommen zugesichert wird.»

In den USA sagt der politisch unverdächtige Starökonom Paul Krugman: «Schlechte Jobs sind besser als keine Jobs.» Bei uns ist es genau umgekehrt. Hier will von schlechtbezahlter Arbeit niemand etwas wissen, nicht einmal die Arbeitgeber. Obschon es sowohl Angebot wie Nachfrage danach gäbe. Bestes Indiz dafür ist ein florierender Schwarzmarkt fürs Putzen, Einkaufen, Rasenmähen, Kinderhüten, Hundespazierenführen, Waschen, Glätten, Kochen. Für Gewerkschafter, Arbeitgeber und Politiker eine Art «Lohndumping», das hierzulande den «illegalen Immigranten» vorbehalten ist. Vermutlich gibt es auch einige offizielle Rentenbezüger, die «schwarz» etwas dazuverdienen. Doch darauf stolz sein, das dürfen sie nicht.

Statt der Hoffnung auf einen billigen Job bleibt den Unterprivilegierten der Schweiz nur die Wahl zwischen zwei Sackgassen: IV oder Sozialhilfe.

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