Mit einem Satz ins Paradies 03.02.2005, Die Weltwoche

Mit einem Satz ins Paradies
Wo wohnen die Reichen? Eine kleine Geografie 03.02.2005, Die Weltwoche
Otto Ineichen, Inhaber von «Otto’s», Europas grösstem Aufkäufer von Warenposten, weiss, was Schnäppchenjäger wollen. Die zeigen keine Sentimentalitäten, vor allem die Jungen nicht, die entscheiden schnell und zielgerichtet. Das hat Otto Ineichen, Surseer Urgestein, in seiner eigenen Familie beobachten können: Vor drei Jahren stieg Sohn Mark, damals 29, zum obersten Chef von Otto’s auf. Und weil er so erfolgreich ist – VR-Präsident Otto Ineichen zahlt leistungsabhängige Löhne–, verdient er auch viel.Sofort hat Mark Ineichen reagiert. Nichts wie weg von Sursee am Sempachersee, auf nach Küssnacht am Vierwaldstättersee. An der Nähe zum Wasser kann es also kaum gelegen haben. Das Motiv zur Züglete ist durchsichtig: Sursee, Kanton Luzern, ist eine Steuerhölle – Küssnacht, Kanton Schwyz, ein Steuerparadies. Und Mark Ineichen, heute 32, ist nicht der Einzige, welcher keine Sentimentalitäten mehr zeigt. «Die meisten seiner früheren Kollegen, mit denen er in St. Gallen studiert hat, wohnen auch nicht mehr in Luzern, sondern in Nidwalden, Zug, Schwyz», erzählt Vater Otto.Reiche schauen immer aufs Gleiche. Darauf, dass sie möglichst wenig ihres Lohns an den Staat abgeben müssen. Wie im Klischee zügeln sie dorthin, wo die Steuersätze etwas tiefer sind. Diese Abstimmung mit den Füssen findet statt, auch wenn sie ziemlich anonym abläuft, was bei dieser Klientel auch nicht weiter erstaunt. Aber sie ist statistisch messbar, und unverdächtige Quelle dafür ist die Eidgenössische Steuerverwaltung in Bern.

Natürlich interessieren sich Spitzenverdiener ausschliesslich für die Spitzensteuersätze. Eine Übersicht haben sie schnell gewonnen: In der Schweiz gibt es nur wenige Kantone, die für Spitzenverdiener interessant sind. Zug, der traditionelle Spitzenreiter, ist inzwischen von Schwyz abgelöst worden, dahinter folgen mit etwas Abstand Nidwalden, mit einem weiteren Abstand Appenzell Innerrhoden, dann Obwalden und Appenzell Ausserrhoden.

Konkret sieht die Rangliste so aus (durchschnittlicher Spitzensteuersatz für Verheiratete ohne Kinder, jeweils für die Kantons-, Gemeinde- und Kirchensteuer im Jahr 2003):

1. Schwyz11,16 Prozent2. Zug11,46 Prozent3. Nidwalden13,98 Prozent4. Appenzell I.15,52 Prozent5. Obwalden17,14 Prozent6. Appenzell A.18,59 Prozent

Alle weiteren Kantone folgen unter «ferner liefen». Sie verlangen mehr als zwanzig Prozent, allein für die Kantons-, die Gemeinde- und die Kirchensteuer – also gut das Doppelte von Zug oder Schwyz. Falls sich jemand trotzdem für das Ende dieser Rangliste interessieren sollte, hier die fünf Kantone mit den höchsten Spitzensteuersätzen:

22. Bern25,93 Prozent23. Waadt25,93 Prozent24. Solothurn26,10 Prozent25. Genf26,61 Prozent26. Jura27,79 Prozent

Wie schön die Gegend auch sein mag und wie unverbaut die Sicht auch ist, der Kanton Jura zum Beispiel bleibt ein Kanton, in dem sich ein linker Spitzenpolitiker wie alt SP-Präsident Helmut Hubacher zur Ruhe setzt. Aber kein echter Spitzenverdiener würde sich hier niederlassen.

Genau diesen Sachverhalt weisen die Statistiker der Eidgenössischen Steuerverwaltung nach. Sie messen den Anteil der Steuerzahler, die zur obersten «Kategorie 6» gehören, welche als jene Elite definiert ist, die im Jahr auf ein steuerbares Einkommen von «mehr als 548000 Franken» kommt. Basis für diese Berechnungen ist die Deklaration der direkten Bundessteuer, die den Vorteil hat, dass die Daten über die ganze Schweiz vergleichbar sind. Einziger Nachteil: Die Zahlen sind nicht ganz aktuell; die neusten beziehen sich auf die Jahre 1999/2000.

Wo hat es gemäss diesen Statistiken fast keine Spitzenverdiener? Überall dort, wo die Steuersätze eben hoch sind. Im Aargau, in Glarus, Freiburg und im Wallis beträgt der Anteil 0,7 Promille. Auf dem letzten Platz steht, wen wundert’s, der Kanton Jura. Hier ist der Anteil der «Kategorie 6» kaum mehr messbar, er bewegt sich bei 0,2 Promille der Steuerzahler.

Konkret sieht es am Tabellenende folgendermassen aus (Anteil der Steuerpflichtigen mit mehr als 548000 Franken Einkommen):

23. Luzern0,6 Promille23. Schaffhausen0,6 Promille25. Uri0,4 Promille26. Jura0,2 Promille

Ganz andere Dimensionen in Gegenden, in denen sich die Reichen wohl fühlen. Hier bewegt sich der Anteil der «Kategorie 6» – also jener Personen, die mehr als eine halbe Million im Jahr als Einkommen versteuern – zwar ebenfalls im Promille-Bereich. Aber es sind doch Werte, die sich zeigen lassen. Zuvorderst stehen selbstverständlich die drei Steuerparadiese:

1. Zug5,1 Promille2. Nidwalden4,5 Promille3. Schwyz3,8 Promille4. Zürich3,6 Promille5. Appenzell A.2,9 Promille5. Appenzell I.2,9 Promille7. Basel-Stadt2,7 Promille8. Genf2,2 Promille

Die Überraschung folgt hier auf den Plätzen 4, 7 und 8: Offenbar bleiben Zürich, Basel und Genf selbst für eine noble Einwohnerschaft attraktiv. «In den letzten Jahren kam es zu einer Renaissance des urbanen Raums», beobachtet Christoph Koellreuter von BAK Basel Economics. «Viele junge, kinderlose und doppelverdienende Paare finden es attraktiv, in der Stadt zu wohnen, ungeachtet der hohen Steuersätze.» Daneben gibt es auch Grossverdiener, die im Pensionsalter die City neu entdecken und neu schätzen lernen – wie etwa Henri B. Meier, der langjährige Finanzchef der Roche, der in den Kanton Zug ausgewandert ist, nun aber auf dem Basler Münsterplatz 1 an bester Lage Luxusappartements gebaut hat, für Dritte und sich selber. An anderen Orten wird die Luft dünn. Ausserhalb der urbanen Zentren und fernab der Steueroasen ist der Anteil der Spitzenverdiener – «Kategorie 6» – gering. In Baselland sind es noch 1,5 Promille, in St. Gallen und im Tessin noch 1,4 Promille.

So weit der Zustand um das Jahr 2000. Dramatisch wird die Sache, wenn man Otto Ineichen zuhört: «Wir laufen an die Wand», sagt er. Mit «wir» meint er ganz sentimental: Sursee, Kanton Luzern. «Die Firmen kommen noch, aber deren oberste Chefs wohnen lieber ausserhalb.» Wie eine Umfrage kürzlich gezeigt habe, wohnen 11 Geschäftsleiter von 15 zugezogenen Unternehmen in Zug, Schwyz, Nidwalden oder sogar im Aargau. «Die Mieten wären günstig hier, das Bauland auch, aber die Steuern sind zu hoch», hadert Ineichen mit seiner Heimat.

Die Daten der Eidgenössischen Steuerverwaltung in Bern belegen, wie stark der Sog ist, den die Steueroasen entwickeln. In der Phase zwischen 1990 und 2000 kam es zu einer massiven Binnenwanderung der Elite, die man als beängstigend bezeichnen kann. Beängstigend ist dieser Trend natürlich nur aus Sicht der Verlierer. Schlecht steht schon wieder der Kanton Jura da. Hier ist der Anteil der Spitzenverdiener innert zehn Jahren von 0,6 auf 0,2 Promille abgesackt. Noch massiver die Abwanderung in Uri: Dort nahm die Quote der «Kategorie 6» von 1,3 auf 0,4 Promille ab. Die drittstärkste Abwanderung erlebte – unter den Blicken Otto Ineichens – der Kanton Luzern. 1990 wohnten 1,7 Promille Spitzenverdiener hier, 2000 noch 0,6 Promille, neuere Zahlen gibt es nicht.

Dies ist nur die Spitze des Eisbergs. Flächendeckend entfalten die hohen Spitzensteuersätze, wie sie in weiten Teilen der Schweiz Wirklichkeit sind, ihre abschreckende Wirkung. In acht weiteren Kantonen hat sich der Anteil der Spitzenverdiener binnen zehn Jahren glatt halbiert: in Bern, Aargau, Solothurn, Glarus, Freiburg, Schaffhausen, Wallis, Neuenburg. Etwas weniger, aber ebenfalls spürbar verloren haben die Kantone Basel-Landschaft, St. Gallen, Graubünden, Tessin, Waadt und Genf.

Wandern die Reichsten ab, handelt es sich oft nur um eine Vorhut. Andere, die etwas weniger reich sind, folgen nach. Der Kanton Bern schrumpfte in den neunziger Jahren um 17000 Einwohner. Drastisch auch in Otto Ineichens Heimat: Der Kanton Luzern verlor zwischen 1995 und 2000 fast 4000 Einwohner, und unter diesen gab es, wie die Kantonsregierung inzwischen zähneknirschend zugibt, «rund 440 Personen mit einem jährlichen Einkommen von Franken 150000 und mehr».

Und wer sind die Gewinner? In erster Linie jene beiden Kantone, welche die Steuern am meisten gesenkt haben: Schwyz und auch Appenzell Innerrhoden, ein Halbkanton, dem es gelang, den Anteil an Spitzenverdienern gar zu verdreifachen, innert zehn Jahren nur. Selbst Zürich und Basel-Stadt konnten zulegen, sie haben ganz offensichtlich von der «Renaissance des Urbanen» profitiert. Zug hat seinen Anteil der Spitzenverdiener immerhin konstant gehalten, was auch eine Leistung ist. Denn hier hat die Zahl der Bevölkerung stark zugenommen, so stark wie sonst nur noch im Kanton Schwyz.

Gehen diese Wanderungsbewegungen ungestört weiter, wird die Besiedlung der Schweiz bald völlig anders aussehen. Das Bundesamt für Statistik prognostiziert: Die Bevölkerung der Kantone Schwyz und Zug wird gemäss dem Szenario «Trend» zwischen 2001 und 2040 um über 20 Prozent steigen. Mit solchen Zuwachsraten mithalten kann nur der Kanton Freiburg, welcher nicht etwa wegen der Steuern attraktiv ist, sondern wegen der Baulandreserven. Die umgekehrten Vorzeichen in den Hochsteuerkantonen: Bern wird gemäss Bundesamt für Statistik bis 2040 weitere 10 Prozent seiner Bevölkerung verlieren, Uri gar 15 und Glarus 17 Prozent.

So wirkt der Steuerwettbewerb wie im Lehrbuch. Politiker, die von Spitzenverdienern zu viel verlangen, müssen damit rechnen, dass diese wegzügeln. Und wo das die Politiker nicht begreifen, möchte ihnen Kollege Otto Ineichen auf die Sprünge helfen. «Der Kanton Luzern muss seine Steuern senken», verlangt er. Dabei denkt er weniger an die unteren Einkommen, die in Luzern auf Anfang 2005 tatsächlich etwas entlastet werden. Ein Otto Ineichen sorgt sich in erster Linie um die hohen Saläre: «Ich bin heute sogar der Ansicht, wir sollten ein Defizit in Kauf nehmen von 100 Millionen Franken, um damit die Abwanderung zu stoppen. Eine solche Steuersenkung rechnet sich, da bin ich überzeugt», meint Ineichen. «Denn wenn wir das nicht tun, verlieren wir noch mehr gute Steuerzahler.»

So schmal die Elite der «Kategorie 6» auch ist, umso wichtiger wird sie, wenn es darum geht, Steuereinnahmen zu generieren. Auch dazu gibt es Statistiken der Eidgenössischen Steuerverwaltung. Bester Beleg dafür ist der Kanton Jura. Hier erbringen die 0,2 Promille Spitzenverdiener volle 3 Prozent des Steuerertrags. Damit steht der Jura indes schon wieder auf dem letzten Platz.

Konkret präsentiert sich das Ende dieser Rangliste wie folgt (Anteil des Steuerertrags bei der direkten Bundessteuer in Prozent, den die Kategorie 6 abliefert):

23. Aargau6,73 Prozent24. Uri5,61 Prozent25. Schaffhausen5,16 Prozent26. Jura3,04 Prozent

Ist der Anteil der Reichen freilich nur etwas höher, steigt ihre Bedeutung exponentiell. An der Spitze sieht dieselbe Rangliste nämlich wie folgt aus:

1. Schwyz55,89 Prozent2. Appenzell I.38,86 Prozent3. Nidwalden35,39 Prozent4. Zug27,07 Prozent

Und weil die direkte Bundessteuer überall in der Schweiz mit den gleichen Tarifen angewendet wird, zeigt sich hier die wahre Spannweite zwischen den «reichen» und den «armen» Kantonen. Dividiert man die Einnahmen der direkten Bundessteuer pro Kopf der Bevölkerung, liegen Welten zwischen dem Kanton Zug und dem Jura oder dem Wallis. In Zug zahlt eine Person im Durchschnitt 2141 Franken an die direkte Bundessteuer, im Jura dagegen nur 221 Franken und im Wallis 220 Franken.

Das Resultat ist ein klassischer Kreislauf. Sind einmal genug Spitzenverdiener da, können die Tarife der Kantons- und der Gemeindesteuern gesenkt werden, was noch mehr Spitzenverdiener anzieht. Musterbeispiel dafür sind die Gemeinden Wollerau SZ und Freienbach SZ, beide am Ufer des oberen Zürichsees gelegen. Es handelt sich hier um die zwei Ortschaften mit den eindeutig günstigsten Spitzensteuersätzen in der ganzen Schweiz (weniger als 7 Prozent für die Kantons-, Gemeinde- und Kirchensteuern). Die Ursache für dieses Steuerwunder kann man nachschlagen in der Steuerstatistik des Kantons Schwyz. Denn in Freienbach und Wollerau bewegt sich der Anteil der Spitzenverdiener nicht wie überall sonst im Bereich der Promille, sondern im Bereich der Prozente: In Wollerau versteuern 1,9 Prozent der Steuerzahler mehr als eine halbe Million Franken Jahreseinkommen.

Noch eindrücklicher die Statistik der Vermögen: In Wollerau deklarieren 8,3 Prozent eine Summe von mehr als 1000000 Franken. Oder plastisch gesagt: Jeder zwölfte Steuerzahler ist hier Millionär. Eine solche Dichte ist wohl Weltrekord.

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