Nicht gesellschaftsfähig Zur Vereinfachung der Mehrwertsteuer 17.02.2005, Weltwoche

Nicht gesellschaftsfähig
Zur Vereinfachung der Mehrwertsteuer 17.02.2005, Weltwoche
Hans-Rudolf Merz kam, sah, dass «unser Steuersystem einen Komplexitätsgrad» aufweist, «der in krassem Widerspruch zur angestrebten Bürgernähe steht», und kündigte neun Monate später keck an: «Ich will deshalb unser Steuersystem vereinfachen und entrümpeln.» Damit weckte er Hoffnungen. Auch wenn sich schon bald herausstellte, dass Hans-Rudolf Merz nur ein Politiker ist. Bei der Einkommenssteuer hat er die nötigen Reformen in eine Zukunft verschoben, in welcher Hans-Rudolf Merz längst abgetreten sein wird. Aber es gibt ja noch andere Steuern, bei denen er mutig anpacken könnte.Zum Beispiel bei der Mehrwertsteuer, die mittlerweile ebenfalls schrecklich kompliziert geworden ist. Dabei handelt es sich hier um eine Fiskalabgabe neueren Datums. Eingeführt wurde sie auf den 1. Januar 1995, sie ist also erst seit zehn Jahren in Kraft. Hier kann sich kein Politiker mit der Entschuldigung hinausstehlen, das System habe sich im Laufe der Jahrhunderte verkompliziert. Ein einziges Jahrzehnt genügt.Zur Mehrwertsteuer gehören dreitausend Seiten Verordnungen, Richtlinien und Ausführungsbestimmungen, jährlich werden es hundert bis zweihundert Seiten mehr. Das Gesetz selber ist inzwischen fünfzig Seiten stark. Besonders lang ist der Artikel 18 – viereinhalb Seiten. Es ist laut Urs Ursprung, Chef der Eidgenössischen Steuerverwaltung, «der am schnellsten wachsende Paragraf überhaupt». Denn es handelt sich um die «Liste der Steuerausnahmen», die inzwischen auf 25 Stück angewachsen ist.

Seit Beginn ausgenommen von der Mehrwertsteuer waren Kulturveranstaltungen oder Sportveranstaltungen, einschliesslich Startgeld. Doch einige der 25 Ausnahmen sind neu hinzugestossen. Und die gehen ins Detail. Zum Beispiel Ziffer 21: Sie sorgt dafür, dass «die Überlassung von Grundstücken und Grundstücksteilen zum Gebrauch oder zur Nutzung» von der Mehrwertsteuer ausgenommen ist. Dann folgt ein Strichpunkt, dahinter geht es weiter im Text: «steuerbar sind jedoch:». Was hinter diesem Doppelpunkt folgt, wird also wieder besteuert. Es handelt sich um die Ausnahme von der Ausnahme, und das ist wie bei einer doppelten Verneinung: Was nicht nicht besteuert wird, wird wieder besteuert, nämlich: «Die Vermietung von Schliessfächern» oder «die Vermietung von Campingplätzen». Unter dem Buchstaben d) wird nicht nicht besteuert: «die Vermietung und Verpachtung von fest eingebauten Vorrichtungen und Maschinen, die zu einer Betriebsanlage, nicht jedoch zu einer Sportanlage gehören». Dieses letzte Wörtchen «nicht» deutet an, dass jetzt die Ausnahme von der Ausnahme von der Ausnahme gemeint ist. Was nicht nicht nicht besteuert wird, wird nach mathematischer Logik nicht besteuert. Demnach ist die «Vermietung eines Grundstückes, das zu einer Sportanlage gehört», von der Mehrwertsteuer ausgenommen – wobei man sich in der Praxis nicht immer einig ist, wann eine fest eingebaute Vorrichtung eine Sportanlage ist und wann nicht.

Ausnahme Nr. 26 ist lanciert
Eine Steuer, die auf solchen Paragrafen fusst, ist eine komplizierte Steuer und damit eine Herausforderung für jeden modernen Politiker. Hans-Rudolf Merz ist nicht allein. Es gibt noch viele andere Politiker, die nicht nur unsere Einkommenssteuern, sondern auch die Mehrwertsteuer radikal vereinfachen möchten. Die CVP-Fraktion fordert das in einer Motion. Und auch Pierre Triponez, FDP-Nationalrat aus Bern und Gewerbepolitiker, ist nun auf diesen Zug aufgesprungen: «Der Bundesrat ist eingeladen, Massnahmen zu ergreifen, um die offiziellen Dokumente der Mehrwertsteuerhauptabteilung dahingehend zu verringern und zu vereinfachen, dass sie für die kleinen und mittleren Unternehmen lesbar und verständlich werden.»

Freilich wurde derselbe Pierre Triponez auch mit andern Vorstössen aktiv. Mit einer parlamentarischen Initiative vom März 2000 war er sogar erfolgreich. Dank Pierre Triponez wurde der berühmte Artikel 18 im Mehrwertsteuergesetz um die 25. Ausnahme ergänzt. Befreit werden die Dienstleistungen der AHV- und Familienausgleichskassen. Dieser Erfolg hat Triponez Auftrieb gegeben. Er hat einen nächsten Vorstoss eingereicht, diesmal geht es um die 26. Ausnahme; der Nationalrat hat bereits ja gesagt, im Ständerat ist alles auf bestem Weg. Dank Pierre Triponez sollen künftig auch «Leistungen zur Verhütung von Berufsunfällen und Berufskrankheiten» von der Mehrwertsteuer ausgenommen sein.

Je höher die Steuersätze steigen, umso zahlreicher werden die Rufe nach einer Sonderbehandlung. Die Mehrwertsteuer hat vor zehn Jahren bei einem Normalsatz von 6,5 Prozent angefangen, inzwischen beträgt dieser 7,6 Prozent, doch ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Mehrwertsteuer zugunsten der IV und später der AHV weiter erhöht wird. Wie reagieren die Betroffenen darauf?

Sie suchen nach Argumenten, den «Normalsatz» zu umgehen. Entweder wollen sie von der Steuer befreit werden, dank den inzwischen 25, bald 26 Ausnahmen. In zweiter Linie verlangen sie nach einem Sondersatz, wie er der Hotellerie für Beherbergungen gewährt wird (3,6 statt 7,6 Prozent), oder nach einem reduzierten Satz, wie er für Lebensmittel, Medikamente, Zeitungen und Bücher gilt (2,4 statt 7,6 Prozent).

In der Konsequenz muss jeder Gastwirt heute drei Sätze für die Mehrwertsteuer anwenden: Für Übernachtungen gilt der Sondersatz von 3,6 Prozent. Verkauft er Essen und Getränke über die Gasse, gilt der reduzierte Satz für Ess- und Trinkwaren wie in jedem Laden von 2,4 Prozent. Bedient er die Gäste am Tisch, zahlt der Wirt die normale Mehrwertsteuer von 7,6 Prozent. Entsprechend kompliziert wird die Abrechnung mit der Steuerverwaltung, und davon betroffen sind nicht nur Hoteliers, sondern auch ganz gewöhnliche Bäcker, sobald sie in ihrer Konditorei ein Tischchen zur Konsumation vor Ort hinstellen.

Die Politiker in Bern haben auch für dieses Problem eine Lösung. Der Obwaldner Ständerat Hans Hess, in der freisinnigen Fraktion wie Triponez, verlangt in einer Motion, welche 23 von den 46 Ständeräten mit unterzeichnet haben, dass «der reduzierte Satz auch für Ess- und Trinkwaren im Rahmen von gastgewerblichen Lieferungen» gelten soll. Hans Hess sieht eigentlich ein, dass der Satz für Restaurants kaum von 7,6 auf 2,4 Prozent reduziert werden kann, sonst wären die Steuerausfälle zu hoch. Deswegen will er neu einen einheitlich reduzierten Satz einführen. Interne Berechnungen der Eidgenössischen Steuerverwaltung haben ergeben, dass dieser einheitlich reduzierte Satz bei etwa 3,6 Prozent zu liegen käme. Den Wirten wäre damit geholfen – die Lebensmittelhändler jedoch würden bestraft. Und die Buchhändler sehen auch nicht ein, warum sie aus Solidarität mit den Wirten ihren reduzierten Satz nach oben angleichen sollen. Deshalb geht die Rechnung von Hess (noch) nicht auf – während die Wirte ihr Lobbying hinter den Kulissen verstärken. Bereits habe der Bundesrat «Verständnis für ihre Lage signalisiert», sagt ein Jurist des Wirteverbands Gastrosuisse.

So ruft jede Ausnahme nach einer nächsten. Und jede Lobby findet ihren eigenen Politiker, der dafür sorgt, dass auch ihre Branche zu den Branchen mit den Sondersätzen hinzustösst. Aktiv ist wiederum Pierre Triponez. Mit der Begründung, dass es «in unserer Volkswirtschaft zahlreiche arbeitsintensive Dienstleistungen» gebe, «die eine sozial bedeutungsvolle Funktion erfüllen», wollte er dafür sorgen, dass «Coiffeure» und «Wäschereien» auch einen reduzierten Satz zu zahlen hätten; ausnahmsweise kam Triponez mit diesem Vorstoss nicht durch.

Michèle Berger, eine Freisinnige wie Triponez und Hess, wollte, als sie noch im Ständerat war, dafür sorgen, dass der reduzierte Satz von 2,4 Prozent, der für Zeitungen und Bücher gilt, auch «auf elektronische Informationen im Bereich der Wissenschaft, der Forschung und der Bildung» ausgeweitet werde. Dieser Vorstoss von Michèle Berger hat beim damals zuständigen Bundesrat Kaspar Villiger etwas ausgelöst: einen kleinen Wutanfall. Am Ende seiner fast zehnjährigen Karriere als Finanzminister holte er aus zu einer Zwischenbilanz über fast zehn Jahre Mehrwertsteuer. Das tönte so:

«Ich stelle fest, dass, seit wir dieses Gesetz haben, Schritt für Schritt und Schlag auf Schlag Vorstösse zur Befreiung einzelner Tatbestände kommen. Wir haben eine wilde Kaskade von parlamentarischen Initiativen, die immer wieder neue Ausnahmen schaffen wollen – immer wieder neue Schnittstellen und immer wieder neue Ungerechtigkeiten.» Dann wechselte Villiger den Tonfall und verwandelte sich in einen Visionär: «Eigentlich müssten wir alle Sondersätze abschaffen, und wenn wir irgendwo etwas fördern wollen, dann sollten wir dies transparent tun, indem wir dann halt staatliches Geld hineingeben. Sonst sind das invisible Subventionen. Die Begünstigten sehen nicht, dass sie durch die Ausnahme von einer staatlichen Leistung begünstigt sind. Sie machen noch ein hohles Kreuz, denn sie bezahlen ja auch eine Steuer.»

Villigers Wutanfall kam nicht aus dem hohlen Bauch heraus. Die Ökonomen in der Eidgenössischen Steuerverwaltung arbeiteten damals bereits an einem Bericht, den Villigers Nachfolger, Hans-Rudolf Merz, neulich vorstellen durfte. Titel: «10 Jahre Mehrwertsteuer». Es ist eine analytisch saubere Arbeit, die jeder Universität und auch einem Think-Tank wohlanstehen würde und die schonungslos aufzeigt, wie es Bundesparlamentarier geschafft haben, innert kürzester Frist ein relativ einfaches Gesetz zu «verkomplizieren».

Ein Zwischenkapitel ist überschrieben mit: «Die ideale Mehrwertsteuer». Auf fünf Kriterien komme es an, von welchen die hiesige Mehrwertsteuer die ersten drei Kriterien mehr oder weniger erfülle. Aber eben nur die ersten drei. Eine ideale Mehrwertsteuer kenne viertens keine Ausnahmen und fünftens einen Einheitssatz. Hier weiche die schweizerische Lösung «stark von der Idealvorstellung» ab.

Die Folgen tönen etwas technisch, aber sie haben fatale Auswirkungen. Wegen der vielen Ausnahmen wird der Konsum nur unvollständig erfasst und damit die innere Logik der Mehrwertsteuer «unterhöhlt» (O-Ton Bericht). Viele Investitionsgüter und Zwischenprodukte bleiben damit belastet. Es kommt zu Verzerrungen, in der Fachsprache taxe occulte genannt. Diese taxe occulte sei «eine Folge der unechten Steuerbefreiungen». Im Ideal ist die Mehrwertsteuer eine reine Konsumsteuer, und zwar zu 100 Prozent. Die schweizerische Mehrwertsteuer hingegen belastet den Konsum nur zu etwa 59 Prozent, dafür zu 24 Prozent die Investitionen und zu 17 Prozent die Zwischenprodukte. Das schadet unserer Binnenwirtschaft.

Nicht vergessen darf man die Kosten der Bürokratie. Die Eidgenössische Steuerverwaltung ist noch relativ schlank, rund sechshundert Vollzeitstellen sind für die Mehrwertsteuer zuständig. «Stärker ins Gewicht fallen die Entrichtungskosten, welche den Steuerpflichtigen entstehen». In Grossbritannien wurde diese bürokratische Belastung, die bei den Firmen anfällt, auf 3,7 Prozent der Steuererträge geschätzt, wobei kleine Firmen bis zu zwanzigmal höhere Kosten haben als grosse. «Für die Schweiz liegen nur bruchstückhafte Informationen vor», heisst es im Bericht der Steuerverwaltung.

Dabei ginge alles viel einfacher. Und unser neuer oberster Steuereintreiber, Hans-Rudolf Merz, weiss spätestens seit dem neuen Bericht auch, wie eine «ideale Mehrwertsteuer» aussieht: genau so, wie es Kaspar Villiger nach seinem Wutanfall skizziert hat. Merz müsste nur den Mut haben, das System zu vereinfachen, radikal. Keine einzige Ausnahme. Kein einziger Sondersatz.

Und das Gesetz würde schlank. Der Umgang mit den Ausnahmeparagrafen entfiele. Die Steuerbehörde in Bern brauchte ein paar Beamte weniger. Die Steuerpflichtigen, vor allem die kleinen Firmen, könnten einen Haufen Zeit sparen, die sie heute mit dem Ausfüllen von Mehrwertsteuerformularen verschwenden.

Aber der grösste Vorteil kommt erst: Die Steuertarife würden sinken – und zwar spürbar. Würde man einen neuen Einheitssatz einführen und ohne Ausnahme anwenden, käme es zu einer Steuersatzsenkung, wie sie die Schweiz noch nie erlebt hat. Der neue Einheitssatz würde, so steht es im offiziellen Bericht des Bundesrats, «erheblich unter dem heutigen Normalsatz von 7,6 Prozent» liegen: «Es wird geschätzt, dass dieser Einheitssatz zwischen 5 und 6 Prozent zu liegen käme.» Im Klartext: Man könnte die Mehrwertsteuer um bis zu einen Drittel senken.

Eine überaus erfreuliche Nachricht. Und das in einer Zeit, in der um «zusätzliche Mehrwertsteuerprozente» zugunsten der AHV und der IV hart gekämpft wird. Da kommt der Bundesrat und zeigt, wie man die Wirtschaft, anstatt immer zusätzlich zu belasten, per saldo entlasten könnte. Statt 7,6 Prozent Mehrwertsteuer nur noch 5 bis 6 Prozent.

Doch wie fiel die Reaktion in der Öffentlichkeit aus? Dieser Bericht des Bundesrats, offiziell abgegeben am 27. Januar 2005, wurde von der Presse kaum zur Kenntnis genommen. Die Journalisten haben es entweder nicht gemerkt, oder es schien ihnen zu wenig spektakulär. Die politischen Parteien und die Wirtschaftsverbände reagierten wie die Medien: gleichgültig.

Das merkwürdige Desinteresse des Publikums spiegelt sich im merkwürdigen Desinteresse des Finanzministers. Hans-Rudolf Merz spricht wohl laut davon, unser Steuersystem zu «entrümpeln», entpuppt sich in Wahrheit aber als so machtlos wie Kaspar Villiger zuvor. «Gegen eine solche radikale Reform sind grosse politische Widerstände zu erwarten», heisst es im Bericht. Also wirft der Bundesrat sogleich das Handtuch. Er wolle, so ist weiter nachzulesen, «das Schwergewicht vorerst auf Vereinfachungen innerhalb des heutigen Systems legen». Womit wohl alles so weiter gehen wird wie bisher. Auf dass die Mehrwertsteuer bald noch komplizierter wird, als sie heute schon ist.

Hinter dem fehlenden Mut des Hans-Rudolf Merz steckt wohl die Angst vor dem Volk. Wollte er die Mehrwertsteuer radikal vereinfachen, müsste das Volk dazu ja sagen. Eine solche Mehrheit war bereits nötig, damit die Schweiz überhaupt von der Warenumsatz- zur Mehrwertsteuer gewechselt hat. Doch diese Mehrheit wurde damals erst nach mehreren Anläufen geschafft, und nur deswegen, weil Merz’ Vorvorgänger Otto Stich das Volk mit den berühmten Ausnahmen und den berühmten Sondersätzen gelockt hat.

Dabei wäre es höchste Zeit, just die sozialen Wirkungen solcher Privilegien zu hinterfragen. Der Satz der Mehrwertsteuer für Medikamente oder Bücher ist in der Schweiz tief, die Preise für Medikamente und Bücher sind es nicht. Und profitieren die ärmeren Leute wenigstens von den tieferen Tarifen auf den Lebensmitteln?

In Irland wurde festgestellt, dass die reicheren Haushalte für Lebensmittel doppelt so viel aufwenden, weil sie teurere Artikel kaufen, öfter auswärts essen und mehr Essensreste fortwerfen. Also profitieren die höheren Einkommensschichten auch doppelt so stark von den reduzierten Sätzen. Auch das ist nachzulesen im Bericht des schweizerischen Bundesrats, ergänzt durch den Kommentar: «Ein sonderbarer Weg, die Notlage der Armen zu mildern.»

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