Entziffert 23.02.2005, Bilanz
Wer alt und bedürftig ist, muss sich schriftlich beim Amt melden und den Geldmangel nachweisen. Dann zahlt die AHV eine Ergänzungsleistung. Dieses Verfahren ist nicht kleinlich, sondern grosszügig: Die Ergänzungsleistung der AHV ist höher als die Unterstützung der Sozialhilfe. Folglich ist die Altersarmut in der ganzen Schweiz beseitigt zumindest in der Theorie.In der Praxis zeigt sich indes, dass nicht alle, die Anspruch auf eine Ergänzungsleistung hätten, sich melden: «Jeder Dritte verzichtet auf die Ergänzungsleistung», ergab eine Nationalfondsstudie in den neunziger Jahren. «Ich kann selber für mich sorgen, ich möchte dem Staat nicht zur Last fallen», sagen Betroffene.Der Bezug dieser Gelder ist ungleich übers Land verteilt. Im Wallis beziehen weniger als 6 Prozent der AHV-Rentner eine Ergänzungsleistung, im Aargau und in Zug weniger als 7 Prozent, in Baselland weniger als 8 Prozent. Der gesamtschweizerische Durchschnitt liegt bei knapp 12 Prozent. In der ganzen lateinischen Schweiz hingegen liegt die Bezugsquote durchwegs höher. In Genf übersteigt sie 15 Prozent, in Freiburg und der Waadt sind es mehr als 16, im Jura mehr als 17 Prozent und im Tessin fast 21 Prozent.
Diese Zahlen lassen einen tiefen Armutsgraben in der Schweiz entlang den Sprachgrenzen vermuten. Nur: Das ist eine vorschnelle Interpretation. Zwar sind die Einkommen der Pensionierten in der lateinischen Schweiz tatsächlich etwas geringer als in der Deutschschweiz. Auch gibt es in der Romandie und im Tessin unter den Senioren mehr Ausländer. Diese Tatsachen allein erklären nicht, warum am Genfersee doppelt so viele AHV-Rentner eine Ergänzungsleistung benötigen als am Hallwilersee. An den rechtlichen Rahmenbedingungen kann es auch nicht liegen, denn die sind in der ganzen Schweiz identisch. Und der Kanton mit den wenigsten «armen» Alten, das Wallis, ist sicher kein Hort der Reichen.
Woher kommt diese seltsame Zweiteilung der sozialen Schweiz? Da Sozialforscher diese nicht mit harten Zahlen erklären können, behelfen sie sich mit weichen Faktoren. In offiziellen Quellen des Bundesamts für Sozialversicherung werden «Mentalitätsunterschiede» aufgeführt, «die sich zum Beispiel ausdrücken in einer Anspruchshaltung dem Staat gegenüber, im bewussten Verzicht auf Leistungen, in der Genügsamkeit mit der eigenen finanziellen Situation.»
Solche Unterschiede zeigen sich bereits, bevor die Leute 65 sind und eine Ergänzungsleistung zur AHV beantragen. Auffällig viele von ihnen beziehen nämlich schon zu diesem Zeitpunkt eine Invalidenrente samt Ergänzungsleistung. Auch diese Fälle sind regional ungleich verteilt. In der Stadt Basel ist die Wahrscheinlichkeit, eine IV-Rente zugesprochen zu erhalten, doppelt so hoch wie im Kanton Zürich offenbar gehört Basel mentalitätsmässig zur lateinischen Schweiz. Gleich dahinter folgen das Tessin sowie die Westschweizer Stände Neuenburg, Jura und Genf. Am tiefsten ist die IV-Quote in der Innerschweiz, in Uri, Schwyz, Nidwalden, Zug.
Auch der IV-Graben ist seit Jahren erkannt, seit Jahren stabil, aber bis auf weiteres unerklärbar. Und dies, obschon sehr viele Sozialforscher sehr viele Studien verfasst haben. Aber am Ende blieb immer ein einziger weicher Faktor hängen: die Mentalität.
Quelle: Statistik der Ergänzungsleistungen zur AHV und IV. Bundesamt für Sozialversicherung, Bern 2004.