Weises Papier Zehn Jahre «Mut zum Aufbruch» 24.02.2005, Weltwoche

Weises Papier
Zehn Jahre «Mut zum Aufbruch» 24.02.2005, Weltwoche
Es schlug ein wie der Blitz. Oder sagen wir: wie kein Buch über die Wirtschaftspolitik zuvor und keines danach. Es nannte sich Weissbuch, obschon es dieses Wort weder im Titel trug noch im Untertitel oder im Klappentext und obschon es eine Broschüre war, achtzig Seiten dünn, 28 Franken teuer, vermarktet unter dem etwas antiquierten Titel «Mut zum Aufbruch». Aber lieferbar ist es bis zum heutigen Tag.Als wäre es die Bibel, bringt der Verlag nun zum Jubiläum eine Apologie. «Mut zum Aufbruch – 10 Jahre danach» heisst das Büchlein diesmal, das sprachlich noch lockerer geschrieben ist und inhaltlich etwas fundierter argumentiert als das Original. Trotzdem wird das Echo geringer sein, der Verkaufserfolg ebenfalls. Das weiss auch sein Autor, Ernst Baltensperger, Ökonomieprofessor an der Universität Bern, der bisher noch nie als Autor populärer Bücher aufgefallen ist. Doch wenn das Weissbuch eingeschlagen hat wie der Blitz, zumal es um die trockene Materie der Wirtschaftspolitik ging, so lag das kaum am Inhalt allein, sondern «in erster Linie an der Autorschaft», so Baltensperger. Den Namen zur Autorschaft gab das Dutzend der damals prominentesten Unternehmer her, angeführt von David de Pury, Josef Ackermann, Helmuth Maucher, Stephan Schmidheiny. Für den Mann, der das Buch eigentlich geschrieben hat – Heinz Hauser, Professor der Hochschule St. Gallen –, hat sich schon damals niemand interessiert.Als dieser Heinz Hauser in der Fernseh-«Arena» stand und kein Einziger aus dem Dutzend de Purys, war der Skandal perfekt. Demonstrativ verliess die Linke, angeführt vom Strategen Peter Bodenmann, den Saal, so dass Filippo Leutenegger die Diskussion abbrechen musste.

Selbst die damals führende bürgerliche Politikerklasse schlug auf die Autorschaft ein: FDP-Präsident Franz Steinegger sprach von einer «Befehlsausgabe der Wirtschaftsführer», FDP-Bundesrat Kaspar Villiger empörte sich: «Das Weissbuch ist unsensibel», und der zweite FDP-Bundesrat, Jean-Pascal Delamuraz, staunte über «Schwarzweiss-Lösungen», die «in einem kultivierten und entwickelten Staat» nicht umzusetzen seien. In eigener Sache muss ich anfügen: Wir Journalisten stimmten ein in den Chor.

Warum dieser geballte Protest? Tatsächlich waren einige Passagen, wie Baltensperger heute urteilt, «skizzenhaft und pauschal», «nicht hinreichend untermauert», «recht radikal, vielleicht überzogen». Manches kam daher wie ein Pamphlet, was eine Form der Freiheit ist, die man einer Autorschaft aus Unternehmern eben nicht zubilligt. Aber sonst? Warum die Aufregung? Das wollte auch Baltensperger wissen, also fragt er rückblickend: «Waren die Vorschläge des Weissbuchs zur Zeit der Veröffentlichung tatsächlich so radikal, wie dies von den damaligen Kritikern behauptet wurde?» Seine Antwort: «In Wirklichkeit über grosse Strecken wohl kaum.»

Genau genommen war das Weissbuch nicht einmal der erste Weckruf. Der kam schon 1990 heraus unter dem Buchtitel: «Schweiz AG, vom Sonderfall zum Sanierungsfall», verfasst von Silvio Borner mit Aymo Brunetti und Thomas Straubhaar. Diesen Alarm aber wollte niemand hören, und in eigener Sache muss ich anfügen: auch wir Journalisten nicht.

Damals, 1990, galt die Schweiz noch als eine stolze Wirtschaftsmacht. Auch 1995, als das Weissbuch einschlug, fühlten sich die meisten Schweizerinnen und Schweizer noch so, als wären sie etwas Besseres. Das wenigstens hat geändert. Die USA haben uns abgehängt, die Österreicher praktisch eingeholt, einstige Armenhäuser wie Irland haben uns überholt. Längst ist der Sonderfall Sanierungsfall.

Leseprobe: «Warum ist die Biotech-Industrie in Kalifornien und nicht in der Schweiz entstanden? Weshalb hat sich die Schweiz nicht zu einem europäischen Medienzentrum entwi-ckelt? Worauf ist es zurückzuführen, dass die schweizerische Telekommunikationsindustrie ihre einst führende Position eingebüsst hat?» Und nun die Preisfrage: Unter welchem Buchtitel steht dieses Zitat? Unter «Dartfish, Logitech, Swissquote und Co.», dem neuen Werk von Xavier Comtesse, dem Directeur romand von Avenir Suisse? Es stand bereits im Weissbuch, wobei sich die damalige Autorschaft allerdings weit über die Diagnose hinauslehnte. Sie wollte nicht nur warnen vor der «Abschottung» und der «Strukturerhaltung», und darum hat sie ihre Broschüre als eine Rezeptsammlung verstanden, diese geliefert – und sich damit eine Art Monopol für Rezeptsammlungen geschaffen, das nun zehn Jahre lang andauert.

Ob Strom, Post, Deregulierung, Binnenmarkt, wachsende Staatsquote – längst dreht sich die Debatte im Kreis. Die Schweiz muss ihre Märkte öffnen, staatliche Monopole privatisieren, die Steuern senken und vereinfachen, die Kartelle endlich wirkungsvoll bekämpfen, gar verbieten, der Staat muss mehr in die Primarschule investieren, die Privaten mehr in die Hochschule und vieles andere mehr. Seit «Mut zum Aufbruch» wurden und werden laufend neue Bücher und Aufrufe zu Reformen publiziert, die inhaltlich immer etwa das Gleiche breitschlagen – nämlich das, was schon in «Mut zum Aufbruch» nicht mehr ganz frisch war, dort aber von einer breiten Öffentlichkeit erstmals wahrgenommen wurde.

In die Realität umsetzen liessen sich die «längst bekannten Ideen» allerdings bis heute nicht, was Ernst Baltensperger ausdrücklich bedauert. «Hätte die Schweiz die ihr vom Weissbuch aufgezeigten Chancen 1995 entschieden genutzt, so wäre dies heute zweifellos ein grosser Vorteil.» In der Zwischenzeit sind sich zwar die meisten Ökonomen sogar erstaunlich einig, welche grundsätzlichen Reformen die Schweiz dringend nötig hätte. Trotzdem passiert nichts. Dieser Stillstand führt unter den heutigen Reformern zu «Frustrationen» und «Verirrungen», schreibt Baltensperger.

An diesem Punkt wird sein Buch sogar spannend. Nachdem er jeden Vorschlag des Weissbuchs einzeln analysiert hat, wechselt Baltensperger die Perspektive und mokiert sich auf den letzten Seiten über einige auserwählte heutige Reformautoren, die etwas tun, was die forschen Unternehmer mit dem Weissbuch noch nicht wagten: Sie greifen die politischen Institutionen an, indem sie eine «Verwesentlichung der direkten Demokratie und des Föderalismus» fordern. «Prominente Vertreter dieser Sichtweise in der jüngsten Zeit sind etwa Avenir Suisse mit einer Reihe von Publikationen.» Gemeint sind die Schriften unter den Buchtiteln «Ökonomik der Reform», «Wohlstand ohne Wachstum» und wohl auch die aktuellste Publikation, «Baustelle Föderalismus».

Pikant ist dieser Seitenhieb aufgrund einer Personalie: Ernst Baltensperger amtete als erster Präsident des wissenschaftlichen Beirats des Think-Tanks Avenir Suisse, ist dann aber nach kurzer Zeit still und vornehm ausgetreten. In seinem Buch nun wird Baltensperger energisch: Er will kein Ein-Kammer-System, keinen Zentralismus, keinen Majorz mit Mehrheitsregierung, keine neuen überkantonalen Einheiten, keinen Verzicht auf Volksabstimmungen. «Ich halte diese These für nicht überzeugend und die mit ihr verbundene Fixierung auf die politische Ebene für potenziell gefährlich. Überdies: Selbst wenn die These richtig wäre, bringt sie uns nicht viel weiter, denn eine Reform der politischen Institutionen dürfte unter diesen Umständen noch schwieriger durchführbar sein als ökonomische Reformen innerhalb der gegebenen Institutionen.»

Was uns Baltensperger unter dem Titel «Mut zum Aufbruch – 10 Jahre danach» liefert, ist ein Plädoyer gegen den «grossen Wurf», gegen die Reform «aus einem Guss». Damit wird der Apologet zum Ketzer, der sich der Absicht der ursprünglichen Botschaft diametral entgegenstellt. Das Weissbuch wurde unter dem Untertitel «Eine wirtschaftspolitische Agenda für die Schweiz» präsentiert – ein Anspruch, an dem die Autorschaft zwar gescheitert ist, aber es war eben doch ihr Anspruch. Heute wiegelt Baltensperger ab: «Tatsache ist, dass Big-Bang-Lösungen historisch gesehen nur in extremen Krisensituationen Erfolgschancen besitzen. Davon sind wir heute in der Schweiz, jedenfalls in der Empfindung des Grossteils der Bevölkerung, noch meilenweit entfernt. Man sollte deshalb die Chancen des schrittweisen Vorgehens, des ‹Marginalismus› nicht unterschätzen und unnötig schlecht reden. Realistischerweise ist dies im Gegenteil die einzige Strategie, welche Erfolgschancen besitzt.» So weit Baltenspergers versöhnliches Schlusswort zur Erinnerung an ein zehn Jahre altes Buch, das alles andere als versöhnlich gewirkt hat. Dieses Schlusswort ist weise, realpolitisch richtig und wichtig.

Nur: Taugt dieses Lob des «Marginalismus» als eine Bilanz für zehn Jahre «Mut zum Aufbruch»? Das ist dann doch etwas wenig für ein Buch, das ohne jeden Zweifel neue Massstäbe gesetzt hat im Wettbewerb der Ideen. Es gibt Passagen, die heute so weltfremd klingen wie damals; aber just diese Passagen sind es wert, dass sie von heutigen Reformautoren neu entdeckt werden. In der Verkehrspolitik etwa fordert heute der Freiburger Reiner Eichenberger, analog zum damaligen Weissbuch, höhere Preise – und zwar unserer Umwelt zuliebe. Das Autofahren müsste verteuert werden, das Bahnfahren aber auch. Solche Gedanken, einst von links als «Kostenwahrheit im Verkehr» aufs Tapet gebracht, liegen heute völlig quer in der Landschaft; aber sind sie deswegen falsch?

Dasselbe in der Sozialpolitik. Hier hat das Weissbuch am meisten Widerstand provoziert, hier war es auch inhaltlich dürftig. «Ziemlich kühn» waren die Vorschläge laut Baltensperger und leider auch «nicht hinreichend analysiert». Aber der Grundgedanke war richtig: «Längerfristig wird die nachhaltige Unterstützung der wirklich Bedürftigen nur bei sparsamem Umgang mit den öffentlichen Mitteln finanzierbar sein. Das leitende Kriterium muss die erwiesene Unfähigkeit sein, einer existenzsichernden Erwerbstätigkeit nachzugehen. Die bestehenden Umverteilungssysteme der staatlichen Sozialversicherung, die häufig Leistungen unabhängig von Einkommen und Vermögen ausschütten, sind entsprechend viel stärker auf Bedarfskriterien auszurichten und im Umfang zu reduzieren.» Diese Sätze wurden als Aufruf zum Sozialabbau verstanden. Aber man könnte sie auch als Appell für eine gezielte und wirksame Sozialpolitik lesen.

Wie viel Ideen wert sind, darüber entscheidet nicht allein die Umsetzbarkeit in der Politik. Gerade Marktwirtschaftler sollten die Kräfte des Marktes ernst nehmen. «Mut zum Aufbruch» verkaufte sich 35000-mal, so viel Mal wie kein Buch über die Wirtschaftspolitik zuvor und keines danach. So gesehen, kam die Botschaft an. Selbst Erfolgsautor Walter Wittmann kommt nicht annähernd auf solche Werte, und in eigener Sache muss ich ergänzen: Das «Weissbuch 2004» verkaufte sich auch nur 7200-mal. Von Silvio Borners und Frank Bodmers «Wohlstand ohne Wachstum», dem erfolgreichsten Buch von Avenir Suisse, gingen bisher gegen 3000 Exemplare über den Ladentisch. Das ist ein schönes Resultat für eine Publikation mit wissenschaftlichem Anspruch, aber kein Frühindikator für eine anstehende Hochkonjunktur marktwirtschaftlicher Reformen.

Ernst Baltensperger: Mut zum Aufbruch – 10 Jahre danach.
Orell Füssli, 2005. 138 S., Fr. 29.80

Silvio Borner, Frank Bodmer: Wohlstand ohne Wachstum.
Orell Füssli, 2004. 240 S., Fr. 44.–

David de Pury, Heinz Hauser: Mut zum Aufbruch.
Orell Füssli, 1995. 80 S., Fr. 28.–

Hans Rentsch, Stefan Flückiger, Thomas Held: Ökonomik der Reform.
Orell Füssli, 2004. 160 S., Fr. 39.80

Markus Schneider: Weissbuch 2004.
Weltwoche-Verlag, 2003. 135 S., Fr. 39.–

Übersicht