Wie viel Zahnärzte an uns verdienen 04.04.2005, NZZ Folio
«Wer von der Hand in den Mund lebt, kann steinreich werden», spasst der Berner Gesundheitsökonom Gerhard Kocher. Das gilt vor allem in der Schweiz. Hier kostet eine zweiflächige direkte Composite-Füllung an Zahn 45 doppelt so viel wie in Deutschland, dreimal so viel wie in Holland, fünfmal so viel wie in Frankreich; das ergab ein Preisvergleich des Instituts deutscher Zahnärzte in Köln. Dasselbe bestätigen Erfahrungen im Grenzgebiet, etwa in Kreuzlingen, dem Ort mit der geringsten Zahnarztdichte im Kanton Thurgau. Direkt nebenan, im deutschen Konstanz, gibt es Zahnärzte genug, die gleich gut ausgebildet und halb so teuer sind. Ein Test des «St. Galler Tagblatts» ergab: Eine zweiflächige Kunststofffüllung kostet in Konstanz 41 Euro und in Kreuzlingen 161 Franken. Die zwei Betäubungsspritzen schlugen in Konstanz mit 15 Euro und in Kreuzlingen mit 68 Franken zu Buche.Laufen die Schweizer deswegen ihren Zahnärzten davon? Einige schon. Sie verbinden Ferien und Zahnarztbesuch, in Ungarn und anderen Dentaldestinationen im Osten, bis hin nach Thailand. Aber mindestens 90 Prozent der Leute, die in der Schweiz leben, bleiben ihrem Zahnarzt treu. Jenseits der Grenze ist zwar alles billiger, vom Gebäck bis zum Boulevardblatt, doch während die Qualität der Guetsli bei Migros und Aldi identisch und der «Blick» kaum gehaltvoller ist als die «Bild»-Zeitung, halten die Schweizer Zahnärzte einen Trumpf in der Hinterhand: die Qualität. Die sei in der Schweiz besser.Dazu gibt es eine Studie, die zwar nicht mehr ganz frisch ist, aber von Zahnärzten gern zitiert wird. Niklaus Lang von der Klinik für Parodontologie und Brückenprothetik der Universität Bern untersuchte 1999 in einem Blindtest Patienten, die sich auf einen Aufruf der TV-Sendung «Kassensturz» gemeldet hatten. 38 Patienten hatten eine festsitzende Zahnrekonstruktion aus der Schweiz, 46 eine aus Ungarn, 19 eine aus dem übrigen Ausland. Den höchsten Standard, «exzellent», erreichten 11 Prozent der Schweizer Arbeiten gegenüber 0 Prozent der ausländischen; den zweithöchsten, «gut», bekamen 26 Prozent der Schweizer gegen 0 Prozent der Ausländer zugesprochen; den dritthöchsten, «korrigierbare Mängel», 37 Prozent der Schweizer gegenüber 20 Prozent der Ausländer. Der tiefste Standard, «Mutilation» (Verstümmelung), traf auf 39 Prozent der Arbeiten aus Ungarn und auf 11 Prozent der Behandlungen aus dem übrigen Ausland zu. Von den Schweizer Arbeiten bekam keine die schlechteste Wertung.
So weit das Verdikt der Uni Bern, das wohl etwas gar krass ausgefallen ist. «Sie finden inzwischen auch in Ungarn gut ausgebildete Zahnärzte», sagt Peter Jäger von der Schweizerischen Zahnärztegesellschaft (SSO). «Das Problem liegt häufig nicht in der fachlichen Qualifikation, sondern in der beschränkten Zeit, die für die Behandlung zur Verfügung steht.»
Interessant ist die Berner Studie vor allem aus einem andern Grund: Sie zeigt, dass der fachmännische Befund über die Qualität einer Behandlung total kontrastieren kann zum subjektiven Gefühl der Patienten. Von den Patienten des Tests, die sich ferienhalber in Ungarn – «fast gratis» – behandeln liessen, fühlten sich 85 Prozent höchst zufrieden. Anders bei den Patienten, die sich in der Schweiz behandeln liessen: Sie meldeten sich auf den Aufruf zum Qualitätstest, weil einige von ihnen verunsichert waren.
Was der Berner Test beweist: Unter Zahnärzten gibt es erstens Scharlatane, aber das können die Patienten zweitens selber nicht beurteilen. Und wenn sie es merken, ist es drittens schon zu spät, unabhängig von der Nationalität des Doktors. Genau diese Erfahrung schilderte eine Leserbriefschreiberin kürzlich im «Tages-Anzeiger»: «Ein offenbar zu wenig beschäftigter Schweizer Zahnarzt hat mir Implantate verpasst, die ich gar nicht gebraucht hätte. Beim Setzen der Implantate sind gravierende Anfängerfehler passiert, und dies zu einem Honorar von über 20 000 Franken. Ich muss demnächst zum vierten Mal zu einer Operation ins Universitätsspital Zürich, und die deutschen Ärzte dort geben sich alle Mühe, die fürchterlichen Fehler des Zahnarztes aus Zürich zu korrigieren. Jedoch wird es nie mehr so sein, wie es einmal war. Mein Kinn und der Lippenbereich sind wegen beschädigter Nerven gefühllos.»
Die Ärzte wissen sehr wohl, dass ihre Patienten keine Ahnung davon haben, wie gut oder schlecht ein Zahnarzt ist. Das geben sie in ihren SSO-Standesregeln offen zu: «Das Vertrauen der Patienten in ihren Zahnarzt basiert nachgewiesenermassen mehr auf subjektiven Faktoren denn auf tatsächlichen Qualitätskriterien, die der Patient kaum beurteilen kann. Aus diesen Gründen scheint es geboten, werbliche Anpreisungen auf das für den Patienten tatsächlich Nützliche zu beschränken.»
Welche Informationen «tatsächlich nützlich» sein könnten, wird offengelassen. Der Preis gehört offenbar nicht dazu, im Gegenteil. Bis jetzt haben die Zahnärzte alles unternommen, damit Transparenz auf dem Dentalmarkt ein Fremdwort bleibt und die Höhe der Honorare untereinander nicht vergleichbar wird. Als der «Kassensturz» eine Tarifliste ins Internet setzte, protestierte die Standesorganisation SSO heftig.
Doch der Druck der Konsumentenschützer und der Medien war stärker. Im Sommer 2004 verpflichtete das Staatssekretariat für Wirtschaft die Zahnärzte zu einer Preisbekanntgabe, die viele Betroffene bis heute nicht verstehen. «In meiner zwanzigjährigen Berufspraxis ist noch nie ein Patient in meine Sprechstunde gekommen und hat mich nach dem Taxpunktwert zur Berechnung meiner Honorare gefragt», schreibt Bernard Filletaz im Editorial der «Schweizer Monatsschrift für Zahnmedizin».
Inzwischen sollte in jeder Praxis irgendwo sichtbar der Taxpunktwert angeschrieben sein. Die billigsten Zahnärzte arbeiten für Fr. 2.80, die Schallgrenze liegt gemäss den SSO-Regeln bei Fr. 4.95. Geht die Rechnung an eine Sozialversicherung, etwa an die Suva, gilt ein Taxpunktwert von Fr. 3.10. Diese Zahl wird multipliziert mit rund 500 definierten Leistungen, doch hat der Zahnarzt dann einen gewissen Auslegungsspielraum. Zum Beispiel kann er die «einfache Untersuchung über den Zustand der Zähne bei einem neuen Patienten» mit dem Faktor 18 bis 24 multiplizieren, womit diese ersten zehn Minuten beim teuersten Zahnarzt zwischen Fr. 89.10 und Fr. 118.80 kosten. Der Taxpunktwert allein sagt also nicht alles.
Entscheidend ist, welche Massnahme ein Arzt empfiehlt. Es gibt teurere und günstigere Varianten, und nicht jeder Zahnarzt informiert gleich offen über Vor- und Nachteile. In der Praxis ist der Patient dem Fachmann ausgeliefert, der desto mehr Geld verdient, je mehr Zeit er für ihn aufwendet. Ökonomisch gesehen ist es ein klassischer Anbietermarkt: Der Arzt sagt, was zu tun ist, und der Kunde zahlt, was der Arzt verlangt. Feilschen ist nicht üblich, jeder Zahnarzt setzt seinen Tarif jederzeit durch. Verlangt ein Kunde einen niedrigeren Preis, offeriert der Zahnarzt eine andere, kostengünstigere Therapie. Selbstverständlich darf der Patient eine Konkurrenzofferte einholen, nur kostet die – anders als bei einem Handwerker – etwas, mindestens 150 Franken.
Welches die beste Behandlung zum tiefsten Preis ist, dafür gibt es keine objektiven Kriterien. Im Kanton Schwyz überprüft der Kantonszahnarzt seit einiger Zeit bei den Bezügern von Ergänzungsleistungen der AHV/IV sämtliche Kostenvoranschläge für Zahnbehandlungen über 3000 Franken. Grund: Bei allen Leuten, die in der Schweiz eine Sozialhilfe beziehen, zahlt der Staat den Zahnarzt – sofern der Eingriff «einfach, wirtschaftlich und zweckmässig» ist. Doch was heisst das schon? Im Kanton Schwyz kam man zum Schluss, dass von 75 vorgesehenen Behandlungen 13 «nicht notwendig», 16 «nicht zweckmässig» und 20 «nicht wirtschaftlich» waren. Dank dieser Kontrolle hat der kleine Kanton die Hälfte der Kosten gespart, rund 175 000 Franken im Jahr 2004.
Zahnmedizin ist keine exakte Wissenschaft. Die Grenzen verfliessen zwischen zwingendem Eingriff und reiner Kosmetik. Dabei erobern die Ärzte laufend neue Märkte: Kieferorthopäden etwa passen neuerdings nicht mehr nur Kindern Spangen an, sondern auch Erwachsenen (Martina-Hingis-Effekt). Ein weiterer Wachstumsmarkt ist die Altersversorgung: Heutige Senioren wollen keine «dritten Zähne» mehr. Die herausnehmbare Totalprothese wäre zwar schon für 4000 Franken im Angebot, Unterkiefer plus Oberkiefer. Doch wer es sich irgendwie leisten kann, unternimmt alles, um im Mund zu behalten, was sich wie die «Zweiten» anfühlt. Technisch ist das heute machbar, dank je zwei Implantaten im Ober- und im Unterkiefer, ergänzt durch dreigliedrige Brücken, was aber Kosten zur Folge hat auf einer Skala, die bei 15 000 Franken beginnt.
Der Schweizer Dentalmarkt funktioniert nach dem Prinzip, dass halt teuer ist, was einem lieb ist. Klar versuchen wir, unnötige Kosten zu umgehen, und so gesehen haben die hohen Kosten auch eine präventive Wirkung: Wir gehen fleissig zur Kontrolle und zur Dentalhygienikerin, die uns lobt, dass wir so brav unsere Zähne putzen (87 Prozent der Schweizer putzen sie mindestens zweimal täglich), und uns die Vorzüge der Zahnseide erklärt, die wir immerhin zu 44 Prozent täglich benutzen. Vorsorge spart Geld.
Eine private Zusatzversicherung lohnt sich für die Zahnspangen der Kinder, kaum aber für allgemeine Zahnarztkosten der Erwachsenen. Beispiel: Die Krankenkasse Visana verlangt bei Kleinkindern eine Prämie von 15 Franken im Monat, bei Fünfzigjährigen jedoch bereits 84 im Monat oder gut 1000 im Jahr. Damit sind 75 Prozent der Kosten bis zu einer Schadenssumme von maximal 1200 Franken im Jahr gedeckt. Wird die Limite auf 5000 Franken im Jahr erhöht, steigt die Prämie für Fünfzigjährige auf 3225 Franken im Jahr; wer älter ist, zahlt noch mehr. Auf derart unattraktive Angebote gehen höchstens Leute mit ganz schlechten Zähnen ein.
So hat der freie Markt bewirkt, dass die Schweizerinnen und Schweizer Weltmeister in Prophylaxe geworden sind und es daher weniger Zahnärzte braucht als anderswo; einer auf 2000 Einwohner genügt. In Frankreich ist es einer auf 1500 Einwohner, in Deutschland einer auf 1300. Wegen der hohen Preise und der hohen Qualitätsansprüche zahlen die Schweizer dennoch pro Kopf doppelt so viel wie die Franzosen und auch mehr als die Deutschen. Für die Zahnärzte heisst das: sie haben nicht unbeschränkt Gelegenheit, ihre Tarife anzuwenden. Die Schweiz sei zahnmedizinisch überversorgt, stellt die Standesorganisation SSO offiziell fest. Das ist vermutlich als Warnung an die Adresse der neuen Konkurrenten aus Deutschland, Frankreich, Schweden und Holland gedacht, die seit neuem in der Schweiz praktizieren dürfen – und das Niveau der Honorare nach unten drücken könnten. Heute sind hier etwa 3600 in der Schweiz ausgebildete Zahnärzte tätig, nun hat das Bundesamt für Gesundheit fast 1000 zusätzliche Zahnarztdiplome aus der EU anerkannt, doch von denen hätten sich erst etwa 300 niedergelassen, schätzt Peter Jäger von der SSO.
Denn es wird für die Neuen nicht überall einfach sein, zu Kunden zu kommen. Wir haben alle schon «unseren» Zahnarzt, das Verhältnis zu ihm ist Vertrauenssache. Hierzulande herrscht eine Kundentreue, die wohl weltweit einzigartig ist. Die SSO wollte in einer Umfrage wissen: «Welche Strecke würden Sie noch zurücklegen, wenn Sie von einem neuen Wohnort aus Ihren bisherigen Zahnarzt aufsuchen möchten?» Antwort: Drei von vier Schweizerinnen und Schweizern würden «weiter als 15 Kilometer» gehen, einer von fünf sogar «weiter als 50 Kilometer».
Wird ein Zahnarzt in der Schweiz tatsächlich steinreich? Der normale Stundenlohn bewegt sich zwischen 400 und 600 Franken, woraus sich abzüglich der Investitionen und aller Unkosten ein effektiver Jahreslohn von 180 000 bis 350 000 ergibt. Daneben gibt es wie in jeder Disziplin ein paar wenige Stars, die besser Schönheitschirurgen genannt werden sollten. Die verdienen sich am Weiss der Zähne eine goldene Nase.