Knietief im Minus und trotzdem heiter Die Ökonomie der Zahlungsmoral 21.04.2005, Weltwoche

Knietief im Minus und trotzdem heiter
Die Ökonomie der Zahlungsmoral 21.04.2005, Weltwoche
Wer einen Zahlungsbefehl erhält, sollte zuerst auf die Uhr schauen. Morgens vor 7 Uhr und abends nach 20 Uhr darf man so etwas nicht zustellen; auch nicht sieben Tage vor oder nach Ostern, nicht sieben Tage vor oder nach Weihnachten. Wer ausgerechnet während dieser religiösen Schonzeit mit einem Zahlungsbefehl gestört wird, sollte freilich bedenken: Der Zettel kommt zwar zur falschen Zeit, ist deswegen aber «nicht nichtig», wie das Bundesgericht einmal festgehalten hat. Vielmehr entfaltet er seine Wirkung mit Ablauf der Schonfrist.Entscheidend ist, dass der Zahlungsbefehl ankommt. Dieser ist nämlich kein gewöhnlicher eingeschriebener Brief, der nach Ablauf der siebentägigen Abholfrist als empfangen gilt, selbst wenn niemand diesen Brief abholt. Man kann die Zustellung eines Zahlungsbefehls freilich nicht ewig durch Präsenzverweigerung verhindern. Der Zettel kann auch einem anderen Familienmitglied übergeben werden. Notfalls schaltet das Betreibungsamt die Polizei ein.Jedes Jahr werden in der Schweiz mehr Zahlungsbefehle zugestellt: 1980 waren es noch 1,16 Millionen, inzwischen sind es 2,39 Millionen. Rein statistisch kommt auf jeden Dritten ein Zahlungsbefehl pro Jahr. In der Praxis dürfte sich dieses Risiko ungleich verteilen, so dass, grob gesagt, jeder zwanzigste Einwohner etwa sechs Befehle erhält.

Leute, die zum ersten Mal einen Zahlungsbefehl in die Hand bekommen, erschrecken noch. Erst recht unangenehm wird die Sache, wenn sie erfahren, dass jeder einzelne Zahlungsbefehl im Betreibungsregister registriert wird. Dieser Eintrag bleibt dort stehen, bis der Gläubiger seine Forderung zurückzieht oder bis sie von einem Gericht aufgehoben wird.

Doch eigentlich tönt das Wort «Zahlungsbefehl» härter, als es ist. Genau genommen ist es nicht einmal ein «Befehl»; vielmehr wird man als Empfänger eines solchen Schreibens vor eine Alternative gestellt: a) Entweder man zahlt innert zwanzig Tagen. Oder: b) Man bestreitet die Forderung. Dann muss man innert zehn Tagen «Rechtsvorschlag» erklären.

Eine Begründung braucht es dafür nicht. Man teilt dem Betreibungsamt nur kurz und bündig mit: «Ich bestreite, dass diese Forderung zu Recht betrieben wird. Der Gläubiger soll sich bitte an ein Gericht wenden, wenn er in dieser Sache weiterkommen will.» Man kann diesen Rechtsvorschlag auch gleich dem Zustellbeamten mitteilen, wenn der mit dem Zahlungsbefehl vorbeikommt.

Selbst wenn man als Schuldner keine Aussicht auf einen Erfolg auf dem Gerichtsweg hat, so gewinnt man damit doch Zeit. Anschliessend kann man den Rechtsvorschlag jederzeit zurückziehen, schon nur um die damit fälligen Gerichtsgebühren zu sparen. Allerdings muss, wer seine Rechnungen nicht bezahlt, Verzugszinsen begleichen: 5 Prozent. Genau das macht die Sache natürlich attraktiv: 5 Prozent Verzugszins, das ist mit Abstand die billigste Form eines Kleinkredits, dessen Zinsen bis zu 15 Prozent betragen können.

Kleinkredit-Schuldner wiederum erweisen sich als eine verblüffende Klientel: als extrem «gute» Schuldner. Brav stottern sie ihre Ausstände regelmässig und rechtzeitig ab. Im Jahr 2003 mussten lediglich «0,17 Prozent der im Jahresmittel fälligen Raten auf dem Betreibungsweg eingefordert werden», meldet der Verband Schweizerischer Kreditbanken und Finanzierungsinstitute. Immerhin handelt es sich hier um ein jährliches Kreditvolumen von insgesamt über 6,2 Milliarden Franken.

Warum sind ausgerechnet Kleinkredit-Schuldner so seriös? Weil sie vermutlich genau wissen, dass ihr Fehlverhalten Folgen hätte. Die Banken müssen von Gesetzes wegen alle Kunden mit Minuspositionen an die Informationsstelle für Konsumkredite (IKO) melden. Bevor eine jede Bank einen Kleinkredit ausgibt, fragt sie bei der IKO nach.

Zuspätzahler vernachlässigen also mit Vorteil nicht Banken, sondern ganz gewöhnliche Gläubiger. Die beste Adresse fürs erste Nichtzahlen ist der Staat: Bei der direkten Bundessteuer beträgt der Verzugszins 3,5 Prozent, bei gewissen Kantonen und Gemeinden liegt er noch tiefer. Wer echte Zahlungsprobleme hat, sollte zudem ein Gesuch um Stundung der Steuerrechnung stellen. Der Verzugszins sonst beträgt, wie gesagt, 5 Prozent. Zusätzlich versuchen die Gläubiger natürlich, ihren Sonderaufwand in Rechnung zu stellen. Das beginnt mit der «Mahngebühr» und endet unter der Rubrik «Verzugsschaden». Sollte ein Gläubiger jedoch versuchen, das Honorar für ein Inkasso-Unternehmen auf den «Kunden» abzuwälzen, muss man sich als Schuldner dagegen wehren: indem man einen «Teil-Rechtsvoranschlag» just gegen diese Extraforderung erhebt – und damit auch durchkommt.

Das Fazit zur hiesigen Zahlungsmoral tönt nicht sonderlich dramatisch: «In der Schweiz werden Rechnungen im Durchschnitt 14 Tage zu spät bezahlt», haben die neuesten Erhebungen des Inkassounternehmens Intrum Justitia ergeben. Allerdings handelt es sich auch hier um einen unechten Durchschnitt: Die grosse Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer zahlt nach wie vor pünktlich; doch einige wenige regelmässig unpünktlich.

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