Rezepte gegen hohe Sozialausgaben 27.04.2005, Tages-Anzeiger

Rezepte gegen hohe Sozialausgaben
Ein Streitgespräch zwischen Monika Stocker und Markus Schneider 27.04.2005, Tages-Anzeiger
Mit Monika Stocker und Markus Schneider sprachen Martin Huber und Edgar SchulerDas Sozialwesen steht unter Druck, die Ausgaben belasten die öffentlichen Haushalte immer stärker. Was lässt sich dagegen tun?Markus Schneider: Es wäre schon viel erreicht, wenn man die Kosten stabilisieren könnte. Es ist erschreckend: Wenn man die Zahl der Sozialhilfe- und IV-Bezüger zusammenzählt, ist man in grossen Schweizer Städten bei rund 15 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung angelangt.

Monika Stocker: Dieser Trend ist beunruhigend. Aber ich bin stolz, dass wir immer noch ein dynamisches System haben. In Zürich bringen wir immerhin 40 Prozent der Sozialhilfebezüger innerhalb eines Jahres wieder aus der Abhängigkeit heraus. Matchentscheidend ist, eine Verrentung über Sozialhilfe zu verhindern.

Schneider: Ich habe das ungute Gefühl, dass diese Verrentung bereits stattfindet. Es kann sein, dass 40 Prozent sich wieder von der Fürsorge lösen. Nur bleibt ein wachsender Stock von Leuten zurück, die länger auf Fürsorge angewiesen sind.

Stocker: Wenn ich bösartig wäre, was ich manchmal in Gedanken bin, würde ich gerne all die Psychisch- und Suchtkranken bei der IV anmelden. Die wäre nämlich gemäss Gesetz zuständig für die Integration von Personen, die nicht 100-prozentig leistungsfähig sind. Doch heute ist es faktisch so, dass diese Leute bei der Sozialhilfe landen und die Gemeinde zahlen muss. Die IV macht im Moment «den Laden dicht».

Welche Mittel gegen das Kostenwachstum hat denn der Wirtschaftsexperte?

Schneider: Das Kostenwachstum ist eine Folge davon, dass in der Schweiz das Existenzminimum relativ hoch definiert ist, vor allem im Vergleich zu den tiefsten Löhnen. Wenn noch Kinder dazukommen, ist die Sozialhilfe praktisch gleich hoch. Wenn der Staat das anbietet, muss man sich nicht wundern, dass die Leute zur Sozialhilfe gehen, das ist normales ökonomisches Verhalten.

Stocker: Mit 960 Franken im Monat durchzukommen, ist keine Hängematte. Sie bringen immer wieder das Beispiel der Familien, die angeblich mit Sozialhilfe besser fahren als mit kleinem Lohn. Dass die Schweiz keine Familienpolitik hat, die wirklich trägt, können Sie nicht den Fürsorgebezügern und der Sozialhilfe anlasten. Es ist richtig, dass der Grundbedarf mit Kindern höher ist. Die Kinder sollen ja nicht darunter leiden, dass die Eltern zur Sozialhilfe müssen.

Schneider: Rudolf Strahm und Simonetta Sommaruga nennen in ihrem Buch das Beispiel eines Iraners mit 12 Kindern, der auf 10 000 Franken Sozialhilfe kommt.

Stocker: Hören Sie doch auf, das ist dasselbe, wie wenn wir Linken ständig mit dem Lohn von Herrn Grübel oder Herrn Vasella kommen. Herr Grübel verdient auch vor dem Morgenessen so viel, wie ich als Stadträtin im Jahr. Oben und unten gibt es keine Einkommensgerechtigkeit.

Schneider: Solche Extrembeispiele zeigen eben eine Tendenz: Der Abstand zwischen Sozialhilfe und tiefen Löhnen stimmt nicht mehr, vor allem bei Familien mit mehreren Kindern.

Stellt man in den Zürcher Sozialzentren fest, dass für Leute im Tieflohnbereich Fürsorge attraktiver ist als Arbeit?

Stocker: Dass man deswegen in die Sozialhilfe wandert, ist nicht unsere Erfahrung. Der Gang aufs Sozialamt ist noch immer nicht einfach. Wer Arbeit hat, der will sie behalten. Wir von der Sozialhilfe sind nicht nur nett, wir sind streng. Fürsorgebezüger werden durchleuchtet, müssen über jeden Franken Rechenschaft geben.

Schneider: Angesichts der hohen Fallzahlen zweifle ich, ob Sie fürs Strengsein genug Kapazität haben. Ich stelle fest: Das Angebot existiert, und es gibt Arbeitende, die sich vor den Kopf gestossen fühlen. Stocker: Sie kreieren ein Scheinproblem, so was kann man auch schüren. Ich sage nicht, das Lohnabstandsproblem gebe es nicht, aber das Hauptproblem ist es nicht.

Herr Schneider, in Ihrem Weissbuch haben Sie geschrieben, es brauche eine Stigmatisierung der Sozialhilfe.

Stocker: Genau das nehme ich Ihnen übel.

Schneider: Das würde ich heute nicht mehr schreiben. Aber ich frage Sie, soll ich propagieren: Jede Familie mit zwei Kindern, die nicht auf 4000 Franken Lohn kommt, soll sich bitte auf der Sozialhilfe melden?

Stocker: Das halte ich auch für falsch. Unser Konsens lautet: Jeder soll für sich selber sorgen, solange nur möglich. Aber wenn es nicht mehr geht, ist die Sozialhilfe als letztes Netz verlässlich.

Schneider: Aber schauen wir es doch mal konkret an: Eine Familie mit 4000 Franken Lohn, die 200 Franken Steuern bezahlt, meldet sich bei der Fürsorge. Dann erhält sie laut Skos-Richtlinien 4400 Franken. Die 200 Franken Steuern bezahlt sie nicht mehr, sie hat also schon 600 Franken mehr. Dann erhält sie noch situationsbedingte Leistungen: Krankenkassenfranchise, volle Krankenkassensubvention, die Zahnarztkosten werden übernommen. Laut den neuen Skos-Richtlinien kommt noch der Arbeitsanreiz dazu, womit die Familie dann weit über 5000 Franken erhält. Frage: Kommt so jemand wieder aus der Sozialhilfe heraus?

Ist das ein realistischer Fall, Frau Stocker?

Stocker: Ja, aber die Familie erhält nur Geld, wenn sie kein existenzsicherndes Einkommen mehr hat. Und die Sozialhilfe ist an eine Gegenleistung geknüpft. Das ist existenziell wichtig für die Glaubwürdigkeit der Sozialhilfe. Wir sagen nicht: «Was darfs denn sein?», wir sind sehr streng.

Schneider: Aber die Zahl der Fälle nimmt trotzdem zu.

Stocker: Die Zahlen steigen nicht, weil es jemand lässig findet, bei der Sozialhilfe herumzuhängen, sondern weil er oder sie keinen Job und kein Einkommen hat.

Herr Schneider, Sie schlagen die Einführung von Steuergutschriften für Niedrigverdiener vor. Wie soll das funktionieren?

Schneider: Das Problem heute besteht darin, dass sich Arbeiten nicht lohnt. Das von der Fürsorge garantierte Existenzminimum ist so hoch, dass es nicht darauf ankommt, ob jemand 1000 oder 3000 Franken oder nichts verdient. Alle erhalten etwa gleich viel. Darum wäre ein Systemwechsel angezeigt. Wer nicht arbeitet, bekommt auch vom Staat nichts. Wer hingegen einen minimalen Betrag selber verdient, sagen wir 1000 Franken im Monat, wird mit einem Lohnzuschuss von ebenfalls 1000 Franken belohnt. Bei 1500 Franken Lohn gibt es 800 Zuschuss, bei 2000 werden 600 fällig. Die Grenze wäre bei 3500 Franken, darüber müsste man Steuern zahlen, wie heute.

Ist das ein Weg, Frau Stocker?

Stocker: Ich bin sofort dafür, dass man diese Vision prüft. Aber Sie können nicht an den heutigen Armen das Steuersystem der Schweiz reformieren, das ist nicht fair. Und damit die Sozialhilfe auszuhebeln, finde ich nicht okay. Sozialhilfe und Armutsproblematik sind die eine Schiene, das Steuersystem eine andere.

Schneider: Stimmt, mein Vorschlag tangiert das Steuersystem. Mir ist auch klar, dass das Ganze nicht sofort umsetzbar ist, aber ich versuche, Anstösse zu geben und zu zeigen, wo das heutige System nicht mehr aufgeht.

Stocker: Der Sozialstaat, da gebe ich Ihnen Recht, ist ein Stück weit überfordert, wenn er den Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft samt Migration auffangen muss. Aber Sie machen bei Ihrem Modell zwei Denkfehler. Erstens glauben Sie, Geld allein reguliere menschliches Verhalten. Zweitens unterstellen Sie, eigentlich finde jeder einen Job oder gleich zwei, wenn er nur will.

Schneider: Schauen Sie die Entwicklungshilfe an. Die Schweiz stellt seit Jahrzehnten nichts mehr gratis zur Verfügung. Immer müssen die begünstigten Leute selber eine kleine Gegenleistung erbringen. Das ist ein Signal, das die Leute verstehen müssen – überall auf der Welt.

Stocker: Bei einer Zielgruppe gebe ich Ihnen Recht. Bei den jungen Sozialhilfebezügern mag es einige geben, die sagen: «Okay, geh ich halt zur Sozialhilfe.» Dort haben wir die Beiträge markant gekürzt.

Der Ökonom Beat Kappeler hat kürzlich vorgeschlagen, die Sozialhilfe für Leute unter 25 Jahren prinzipiell zu streichen.

Stocker: Möglichst wenig Sozialhilfe, dafür viel Ausbildung und Begleitung.

Schneider: Keine Sozialhilfe ohne Gegenleistung – für Jung und Alt.

Stocker: Sie riskieren damit, dass Mittellose in die Kriminalität abrutschen.

Was bringen die neuen Skos-Richtlinien, die ab diesem Herbst obligatorisch werden?

Stocker: Ich bin ein grosser Fan dieser neuen Richtlinien. Sie verstärken das Prinzip «Keine Leistung ohne Gegenleistung». Neu wird der Grundbedarf den einkommensschwächsten 10 Prozent der Schweizer Bevölkerung angeglichen, bisher wurden die untersten 20 Prozent herangezogen. Dadurch wird der Grundbedarf um 7 Prozent gekürzt, was auch das Lohnabstandsproblem ein Stück weit entschärft.

Schneider: Man sollte nicht zu viel erwarten. Die Skos führt nur das ein, was Zürich seit Jahren macht. Und eine Senkung des Grundbedarfs um 7 Prozent ist relativ bescheiden. Das Lohnabstandsproblem wird sich eher noch verschärfen, wegen der steigenden Krankenkassenprämien.

Was bringen die neuen Skos-Richtlinien an Einsparungen?

Stocker: Es wird sicher nicht teurer für die Stadt Zürich. Ich will nicht sagen, billiger, da bin ich vorsichtig, aber es wird abhängen vom Engagement der Firmen und unserer Kreativität, Jobs zu schaffen.

Schneider: Ich glaube nicht, dass die Kosten gesenkt werden können. Und ich bezweifle, dass die neuen Richtlinien die Verrentung stoppen können.

Frau Stocker, wie weiter in der Sozialhilfe?

Stocker: Wir müssen immer wieder versuchen, die Leute zu integrieren. Das hat uns geholfen, die Probleme der 90er-Jahre zu überstehen. Statt zu sparen, müssen wir investieren: In niederschwellige Jobs, in die Ausbildung der Jungen. Nur wer Arbeit hat, ist sozial gesichert. Daneben braucht es eine bessere Vernetzung von IV, Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfe, sonst werden die Leute nur weitergereicht.

Wer soll die Jobs schaffen?

Stocker: In erster Linie die Wirtschaft, aber Jobs zu schaffen, ist auch in unserer Verantwortung. Ich kann nicht warten, bis die Wirtschaft wieder Jobs schafft. Die Sozialhilfe sollte selber unternehmerisch werden.

Sie haben angekündigt (TA vom 22. 4.), selber neue Plätze zu schaffen.

Stocker: Für Menschen ohne Job müssen wir noch mehr Beschäftigungsmöglichkeiten mit mindestens einem Teillohn bieten können. Ja, wir werden soziale Betriebe schaffen, die am Markt auftreten.

Was hält der Ökonom davon, dass der Staat noch mehr Arbeitsplätze schafft?

Schneider: Das ist leider so. Laut Pisa können 20 Prozent unserer Schulabgänger kaum lesen, kaum rechnen. Diese Leute finden in der Wirtschaft keine Perspektive. Da muss der Staat versuchen, das nachzuholen, was die Schule vorher verpasst hat.

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