Entziffert 04.05.2005, Bilanz
Als Avenir Suisse, der Think-Tank der Wirtschaft, seine Studie zur «Baustelle Föderalismus» vorlegte, war der Aufschrei gross - nicht in den «Metropolitanregionen», sondern in den «weissen Flecken» abseits: in Graubünden, Glarus, im Wallis und Jura. Als das Bundesamt für Raumentwicklung kurz danach seinen «Raumentwicklungsbericht 2005» vorlegte, war das Echo gering. Die Botschaft war dieselbe: Es gibt fünf Kernstädte (bereits St. Gallen ist keine Kernstadt mehr), umgeben von 50 Agglomerationen, und in dieser Zone sind 82 Prozent aller Arbeitsplätze angesiedelt. Die Kehrseite dieser «Verstädterung» sei in den «bevölkerungsarmen peripheren Gemeinden» zu besichtigen: «Insbe- sondere bei Gemeinden mit weniger als 500 Einwohnerinnen und Einwohnern und bereits lang anhaltendem Bevölkerungsrückgang stellt sich die Frage der langfristigen Überlebensfähigkeit.»Kürzer formuliert es der ETH-Agronom Peter Rieder: «Kleine Dörfer werden immer kleiner, und grössere Dörfer werden immer grösser.» Das gelte «für weite Teile des Alpenbogens», am Ende dieser Entwicklung würden «viele Dörfer so klein sein, dass sie ihre Funktionsfähigkeit verlieren».Ist das schlimm? Die Bevölkerung der Schweiz stieg seit den sechziger Jahren von 6 auf 7,4 Millionen, besonders im Mittelland wurde die Landschaft zersiedelt, jede Sekunde wurde ein Quadratmeter verbaut, etwa für «ausgedehnte Einfamilienhaussiedlungen, unstrukturierte Industrie- und Gewerbezonen, Einkaufszentren und Erlebnisparks mit riesigen Parkplätzen», wie im neuen Raumentwicklungsbericht kritisiert wird. Also ist es aus gesamtschweizerischer Sicht nur erfreulich, wenn einige Täler in den Alpen und im Jura sich entleeren, verwalden und sich ohne menschliches Dazutun in Naturparks zurückverwandeln.
Just das soll die Landwirtschaftspolitik verhindern, die gemäss Bundesverfassung einen «wesentlichen Beitrag zur dezentralen Besiedlung des Landes» leisten soll. Wird dieses Ziel noch realisiert? Das hat der ETH-Agronom Peter Rieder im Auftrag des Bundesamts für Landwirtschaft untersucht. Sein Fazit ist für die offizielle Politik wenig schmeichelhaft: «Die Landwirtschaft leistet nur in relativ wenigen Gemeinden der Schweiz einen wesentlichen Beitrag zur dezentralen Besiedlung.»
Trotz den heutigen Agrarsubventionen müssen 231 Gemeinden als «gefährdet» eingestuft werden. In all diesen Gemeinden nimmt die Zahl der aktiven Bevölkerung ab, und überdies sinkt die Zahl der 20- bis 40-Jährigen. Davon betroffen sind 22 Dörfer im Kanton Jura (in denen heute noch 8 Prozent der Jura-Bevölkerung leben), 8 Dörfer im Kanton Glarus (7 Prozent der heutigen kantonalen Bevölkerung), 5 Dörfer in Uri (6 Prozent der Bevölkerung) und 54 Dörfer in Graubünden (5 Prozent der Bevölkerung).
Letzte Frage: Wie viele Gemeinden müssten ohne die massiven Landwirtschaftssubventionen als «gefährdet» eingestuft werden? Es wären 471 statt 231, antwortet der ETH-Agronom Rieder, geboren in Vals GR, in seiner Studie. Die Differenz ist also nicht so dramatisch. Egal, wie viel Geld die Schweiz auch in Zukunft in ihre Berglandwirtschaft zu investieren bereit ist, die Abwanderung aus den abgelegenen Tälern ist damit kaum aufzuhalten.
Quelle: Peter Rieder et al.: Erfüllung des Verfassungsauftrags durch die Landwirtschaft unter besonderer Berücksichtigung ihres Beitrags zur dezentralen Besiedlung. 16. Februar 2005. Als PDF unter www.blw.admin.ch