Gestern rot, heute rotgold 16.06.2005, Weltwoche

Gestern rot, heute rotgold
Über Nacht hat die Slowakei das getan, was der Westen als neoliberal geisselt: Steuersystem, Arbeitsmarkt, Sozial- und Gesundheitswesen gehorchen den strikten Regeln der freien Wirtschaft. 16.06.2005, Weltwoche
Ludovit Odor, der Chefökonom, sitzt in seinem Büro im Finanzministerium, zufrieden mit sich und der Slowakei. Endlich geht es aufwärts. «Sehen Sie sich doch diese Charts an.» Die Ledigen, die Verheirateten, die Familien mit Kindern, die Gutverdiener, inzwischen auch die Normalverdiener, allen gehe es besser. Er werde diese Kurvendiagramme demnächst in einem Buch publizieren, das gleichzeitig in slowakischer und in englischer Sprache herauskommt, denn das internationale Interesse sei gewaltig. Titel der amtlichen Publizistik: «Reform Book».Willkommen in einem Land, von dem viele Schweizer immer noch nicht wissen, wo es genau liegt. «Wir galten als ein Land des Balkans, wurden mit Slowenien verwechselt», weiss Ludovit Odor. «Heute sind wir bekannt als das Land mit der 19-Prozent-Steuer.» Nie hätte er geglaubt, dass eine so einfache Idee ein so grosses Echo in der ganzen Welt auslösen würde. «Wir waren ja nicht einmal die Ersten, die eine Flat Tax eingeführt haben. Estland war uns zehn Jahre voraus, Russland drei Jahre.» Überhaupt seien die Slowaken Spätzünder.Ruck, zuck, fertig
Erst 2002, ein gutes Jahrzehnt nach der samtenen Revolution, erfolgte der Big Bang: Altersrentenreform, Gesundheitsreform, Sozialreform, Arbeitsmarktreform, Steuerreform. «Alles gleichzeitig», wie im «Reform-Buch» nachzulesen sein wird. «So etwas gelingt vielleicht einmal in zwanzig Jahren», sagt Odor. Und denkt wohl: Was die neue Regierung der Slowakei, die noch keine drei Jahre im Amt ist, geschafft hat, ist historisch einmalig.

Es stimmen ein ins Lob: die Deutsche Angela Merkel, der Italiener Silvio Berlusconi, der Amerikaner George W. Bush, der Japaner Junichiro Koizumi, Journalisten von der Financial Times bis zum Economist, während der steinreiche Steve Forbes bei einem Besuch in Bratislava hoffnungsvoll verkündete: «Dank der Slowakei wird das Unternehmertum in Europa neu erblühen.» Und in Zürich will die Economiesuisse, der hiesige Dachverband der Wirtschaft, im Oktober ein internationales Steuer-Symposium abhalten. Als Teilnehmer gesetzt: Finanzminister Hans-Rudolf Merz (Schweiz). Als Stargast eingeladen: Finanzminister Ivan Miklos (Slowakei).

Die Slowakei, ein Modell für das alte Europa? «Viele Jahre waren wir das hässliche kleine Entlein Europas, jetzt arbeiten wir hart, damit aus uns ein schöner Schwan wird», sagte Pavol Rusko, der Wirtschaftsminister, zum Zürcher Tages-Anzeiger. «Die Länder der EU werden bald verstehen, dass sie die gleichen Reformen durchführen müssen. Manchmal ist es wirklich traurig, EU-Politikern zuzuhören: Sie wollen einen Laib Brot an viel mehr Menschen verteilen, als es die Grösse des Laibs zulässt.»

Dabei haben die Reformer der Slowakei keine neue Logik erfunden, sie gehorchen einer altbekannten: der Ökonomie. Weniger Steuern, weniger Sozialstaat, weniger Vorschriften, mehr Selbstverantwortung, mehr Markt, mehr Freiheit. All das, was man in Westeuropa als «neoliberal» verschimpft, wird hier realisiert. Nicht Schritt für Schritt, nein. Sondern ruck, zuck. Im Herbst 2002 wurde die Regierung gewählt – und sie machte sich sogleich an ein Programm, das in erster, zweiter und dritter Linie dem Diktat des wirtschaftlichen Denkens folgt.

«Zum Beispiel wollten wir einen Arbeitsmarkt, der wie ein Markt funktioniert», erzählt Martin Bruncko, der Berater des Finanzministers. Also hat die Slowakei gleich beide Schrauben gelockert: Das Hire wurde vereinfacht, das Fire wurde vereinfacht. Von nun an regiert in der Slowakei eine uramerikanische Hire-&-Fire-Mentalität. Man ist hier sehr schnell angestellt, aber steht genauso schnell auch wieder auf der Strasse. Martin Bruncko drückt das so aus: «Wir haben heute den freiesten Arbeitsmarkt der ganzen OECD.» Bruncko war es auch, der bei der Steuerreform den ambitiösen Satz geschrieben hat, der sich via Internet weltweit verbreitet: «Das ultimative Ziel ist es, das slowakische Steuersystem zum wettbewerbsfähigsten zu machen in der ganzen EU und im ganzen OECD-Raum.»

Die Frist, um solche Absichten in die Realität umzusetzen, war kurz. «Eine Regierung hat nur vier Jahre Zeit», erklärt «Reform-Buch»-Autor Ludovit Odor den Mechanismus einer westlichen Demokratie. «Also darf sie keine Zeit verlieren und beginnt am besten gleich am Tag nach der Wahl mit den unpopulärsten Massnahmen.»

Wer krank ist, nimmt Ferien
Wer in der Slowakei krank wird, kriegt in den ersten drei Tagen nur 25 Prozent des Lohns; vom vierten Tag an 55 Prozent. Für die ersten zehn Tage Krankheitsabwesenheit zahlte früher eine staatliche Versicherung; jetzt nicht mehr. Ab sofort muss der Arbeitgeber zahlen. Und der sieht es seither weniger gern, wenn sich jemand krankmeldet. – Schon diese Massnahmen würden in der Schweiz einen Massenprotest auslösen; in der Slowakei nicht. Warum nicht?

Peter Golias, ein junger Mitarbeiter im liberalen Think-Tank Ineko in einem Aussenquartier Bratislavas, zuckt mit den Schultern. «Klar, hier war das auch unpopulär, aber es wurde akzeptiert.» Dann fährt er fort: «Früher haben die Arbeitgeber, wenn ihre Geschäfte einmal nicht so gut liefen, ihre Leute regelrecht aufgefordert, sie sollen sich krankmelden.» Nüchtern verweist der Ökonom auf die Zahlen: Die Krankheitstage haben sich innert Jahresfrist fast halbiert, von 5,1 auf 3,7 Prozent. «Statt dass die Leute krankfeiern, nehmen sie heute, wenn sie eine Grippe einfangen, sogar Ferien.» Peter Golias findet das ganz gut so.

Die maximale Bezugsdauer fürs Arbeitslosengeld wurde von neun Monaten auf sechs Monate gekürzt. Unpopulär war vor allem die Gesundheitsreform. Neu kostet, was früher gratis war. Jeder Arztbesuch 20 Kronen (90 Rappen), jede Verschreibung in einer Apotheke ebenfalls 20 Kronen, jeder Tag im Spital 80 Kronen (Fr. 3.60); in Zukunft sollen diese Tarife weiter erhöht werden, nicht zuletzt, um die medizinische Qualität zu verbessern. «Wir sagen den Leuten einfach: Gehen Sie in ein Spital, schauen Sie sich das an. Der Service ist schlecht, alles sieht grässlich aus. Wer operiert werden will, muss den Arzt schmieren», sagt Martin Brun- cko, der Berater im Finanzministerium. Brun- cko spricht von «Überkonsum». Bis jetzt seien die Leute zum Arzt gelaufen, «nur um mit jemandem zu reden».

Aufstand der Roma
Unpopulär war auch: die Sozialreform nach angelsächsischer Art. Wer Sozialhilfe beziehen will, muss neu aktiv werden und sich an einem Weiterbildungskurs beteiligen oder einfache Arbeiten für die Gemeinden ausführen; alle andern, die nicht mitmachen, kriegen noch die Hälfte von früher. «Das bisherige System wurde missbraucht von Leuten, die sich nicht anstrengen wollten», sagt Martin Bruncko.

Zumindest dieser Teil des Reformpakets provozierte Protest: Die Roma im Osten, oft «Zigeuner» genannt, in Baracken lebend, meist ohne Strom und Wasser, die zu 90 Prozent arbeitslos sind und deren Zahl auf mindestens 100000 geschätzt wird, probten den Aufstand.

Die Regierung in Bratislava schickte eine tausend Mann starke und brutale Sondereinheit. «Hungerrevolten in der Slowakei», titelte die internationale Presse mit den entsprechenden Bildern. «Die Roma verstehen kein Slowakisch», spielt der Think-Tanker Martin Golias die Angelegenheit herunter. «Die Behörden mussten den Roma zuerst erklären, dass sie selber etwas tun müssen, um gleich viel Sozialhilfe wie früher zu bekommen. Seither ist die Lage ruhig.»

Weiter wurde das Pensionsalter heraufgesetzt, bleibt mit 62 Jahren aber moderat. Unpopulär war hingegen, dass die Renten der Ersten Säule, im Umlageverfahren analog zur schwei- zerischen AHV ausbezahlt, «flexibilisiert» wurden. Aus Sicht der grossen Mehrheit bedeutete dies: Die Renten wurden gekürzt. Nur die wenigen, die ihr Leben lang höhere Beiträge eingezahlt haben, kriegen ab sofort höhere Altersrenten. Früher waren die höchsten Renten 1,8- mal höher als die tiefsten Renten, heute liegen sie 5,8-mal höher.

Glückszahl: 19
«In der Öffentlichkeit war das gar kein Thema, die Leute haben das kaum bemerkt», wundert sich Ludovit Odor, der Chefökonom im Finanzministerium. «Die Journalisten hier in der Slowakei haben uns sogar vorgeworfen, wir würden nicht radikal genug vorgehen.» Aus dieser verblüffenden Resonanz formuliert Odor gleich eine Theorie: «Je zahlreicher die unpopulären Massnahmen sind, welche eine Regierung auf einen Schlag einführt, umso weniger kann sich die Öffentlichkeit mit jedem einzelnen Aspekt auseinander setzen.»

Breit debattiert wurde die neue Pensionsreform, welche sich ausnahmsweise sogar als populär herausgestellt hat. «Unsere Zweite Säule ist stärker vom chilenischen als vom schweizerischen Modell inspiriert», sagte Finanzminister Ivan Miklos zur NZZ und tönte damit an, dass man die Hausaufgaben gemacht, die Alternativen geprüft habe. Aber am Ende haben die Arbeitnehmer in der Slowakei etwas erhalten, wovon wir in der Schweiz weiterhin nur träumen können: die freie Wahl der Pensionskasse. Konkret geht das so:

– Die ganz Jungen, die neu in den Arbeitsmarkt eintreten, müssen bei der Zweiten Säule mitmachen. Sie zahlen ab sofort die eine Hälfte (neun Lohnprozente) an eine private Pensionskasse der freien Wahl. Die andere Hälfte (ebenfalls neun Lohnprozente) geht an die staatliche Erste Säule, eine AHV wie in der Schweiz.

– Die 20- bis 50-Jährigen dürfen bei der Zweiten Säule mitmachen. Wollen sie das nicht, können sie wie bisher ihre 18 Lohnprozente voll und ganz in die staatliche Erste Säule einzahlen.

– Die über 50-Jährigen haben keine Wahl und damit nur die Erste Säule. Um bei einer privaten Pensionskasse unterzukommen, müssten sie mindestens zehn Jahre lang Beiträge einzahlen.

In der Schweiz wäre so ein System nie mehrheitsfähig: Hier müssen sich die Sozialpolitiker immer zuerst um die Wünsche der heutigen Alten kümmern. In der Slowakei setzen die Reformer auf die Jungen, die Aktiven, die Erfolgreichen. Ihnen wollen sie eine freie Wahl bieten – mit durchschlagendem Erfolg. Bereits jede zweite Person in der Gruppe der 20- bis 50-Jährigen hat sich neu für eine private zweite Säule entschieden – frei wählbar aus einem Dutzend zugelassener Anbieter. Ganz vorn in diesem Wettbewerb mischt auch eine Schweizer Grossbank mit, die buchstäblich mit «Schweizer Renten» geworben hatte; das ging zu weit, Credit Suisse Life&Pensions Slovensko musste diese Kampagne zurückziehen.

«Ich bin auch bei der Credit Suisse», sagt Richard Sulik, Jahrgang 1968. Seine Eltern flohen 1980 nach Deutschland, er studierte dort Physik, doch es war ihm im Westen «zu langweilig». Er kam zurück nach Bratislava, hängte ein Ökonomiestudium an, machte eine Abschlussarbeit über Steuerreformen, sprach an einer Veranstaltung im Herbst 2002 Finanzminister Ivan Miklos an und wurde auf der Stelle in dessen Stab berufen. «Es ist verrückt, wie schnell hier alles geht.»

Heute arbeitet Sulik als Chef der städtischen Müllabfuhr in Bratislava. Und hat nebenbei ein Buch geschrieben mit einem konkreten Plan, wie die Slowakei nach dem Steuerstaat auch ihren Sozialstaat vereinfachen könnte. Radikal, versteht sich. Sulik will die unzähligen und unübersichtlichen Sozialzuschüsse, 56 an der Zahl, abschaffen – und durch einen einzigen Transfer ersetzen, der das soziale Minimum garantiert. Wolle sich eine Person zusätzlich versichern, dürfe sie das tun, aber privat, ohne staatlichen Zwang, ohne staatliche Garantien. «Wenn es auf der ganzen Welt ein Land gibt, wo man ein solches System installieren kann, dann in der Slowakei.»

Zuoberst steht das Prinzip Vereinfachung. Neu dauert es nur noch halb so viele Tage, bis ein neues Unternehmen gegründet ist. Gemäss «Doing Business in 2005», einer offiziellen Studie der Weltbank, ist die Slowakei auf Platz 18 vorgerückt (die Schweiz steht auf Platz 11, Neuseeland auf Platz 1). Man will hier noch weiter zulegen, schön nach dem Vorbild der Steuerreform. «Ursprünglich wollten wir gar keine Flat Tax einführen», erinnert sich Berater Bruncko. «Die Unternehmer beklagten sich vor allem, wie kompliziert das vorherige System war. Also wollten wir dieses vereinfachen – und kamen zum Schluss, dass die Flat Tax dafür die einfachste Lösung ist.»

90 Ausnahmen gab es, 19 Arten von unversteuertem Einkommen, 66 Steuerbefreiungen und 37 spezifische Steuersätze. «Allein bei der Einkommenssteuer wurde der Umfang des Gesetzes von 50000 Wörter auf 30000 reduziert», hat Peter Golias vom Think-Tank Ineko nachgemessen. Und Professor Stéphane Garelli, Leiter des IMD in Lausanne und ein Spezialist für Länderranglisten, bestätigt: «Mit Blick auf die Wettbewerbsfähigkeit von Nationen ist die Einfachheit des Steuersystems wichtiger als die Höhe der steuerlichen Belastung.»

Neu gilt für alles und jedes der gleiche flache Satz: 19 Prozent für die Löhne der Arbeitnehmer, 19 Prozent für die Gewinne der Unternehmen, 19 Prozent für die Kapitalgewinne der Anleger, 19 Prozent für die Mehrwertsteuer, und zwar für sämtliche Güter und Dienstleistungen, auch für Nahrungsmittel, Medikamente, Restaurants, Hotels, Bücher, Zeitschriften, Strom, Kohle. Diese 19 Prozent werden aber nur einmal eingezogen. «Doppelbesteuerungen haben wir eliminiert», sagt Berater Bruncko. Macht ein Unternehmen Gewinn, muss es 19 Prozent abgeben – das genügt. Die Dividenden, welche die Aktionäre erhalten, sind anschliessend frei, denn die Slowakei hat ihre frühere Dividendensteuer abgeschafft, mitsamt der Erbschafts- und der Schenkungssteuer. Ein Kraftakt. «Per saldo sind die Unternehmenssteuern in der Slowakei heute die tiefsten im ganzen OECD-Raum», schreibt Think-Tank-Mitarbeiter Peter Golias in seinem neusten Papier. Bereits hätten die Nachbarländer reagieren müssen, Polen, Ungarn, Tschechien; selbst Österreich habe die Unternehmenssteuern von 34 auf 25 Prozent gesenkt.

Ehrlich: es funktioniert
Die amtliche Bilanz nach dem ersten Jahr Flat Tax verwundert: Die Tarife der Einkommens- und Unternehmenssteuern wurden stark gesenkt, dadurch sanken die Einnahmen – aber diese sanken lange nicht so stark, wie die Leute im Finanzministerium befürchtet hatten. «Bereits im ersten Jahr wurde die Steuersenkung teilweise kompensiert durch ein anziehendes Wirtschaftswachstum», freut sich Ludovit Odor. «Vor allem aber sind die Leute jetzt ehrlicher.»

Die noch grössere Überraschung bot die Umstellung bei der Mehrwertsteuer, welche für die Güter des täglichen Bedarfs stark erhöht wurde. Das Finanzministerium erwartete deswegen einen Teuerungsschub; in Wahrheit ist die Inflation mit 7,5 Prozent moderat ausgefallen. «Die Firmen haben, statt die Preise zu erhöhen, eher ihre Margen gesenkt», analysiert Peter Golias.

Und die Bilanz aus Sicht der Betroffenen? Die kleine Schicht der Besserverdiener hat profitiert, massiv. Sie muss nur noch halb so viel Einkommenssteuern abliefern wie zuvor. Die Leute mit den tiefsten Einkommen wiederum werden dank einer relativ grosszügigen Pauschale ganz davon befreit; die Familien mit den tiefsten Einkommen erhalten gar einen kleinen Bonus pro Kind – bar auf die Hand.

Gleichzeitig sind jedoch die Ausgaben für die Mehrwertsteuern gestiegen; auch die Extrazölle auf Benzin, Tabak und Alkohol wurden kräftig angehoben.

Und was geschah mit dem Mittelstand? Den Durchschnittsverdienern, die in Bratislava auf umgerechnet 1000 Franken im Monat kommen, weiter östlich noch auf 600 Franken?

«Die grosse Masse der Leute hat bei der Steuerreform verloren.» Das behaupten die Politiker der Opposition; das bestätigt auch Mario Grassl. Er ist Verkaufsdirektor beim Schweizer Zementkonzern Holcim. Ein Österreicher, der seit acht Jahren in Bratislava arbeitet, täglich mit dem Auto von Wien hin und her pendelt, zwei Drittel seines Lohnes in slowakischer Währung bezieht, und sich persönlich nicht beklagen will: «Der Spitzensteuersatz in Österreich beträgt für mich 50 Prozent, hier zahle ich nur 19 Prozent.» Aber er weiss natürlich auch, wie wenig seine Angestellten verdienen, welche jetzt eine erhöhte Mehrwertsteuer tragen müssen und damit an Kaufkraft eingebüsst haben. «Wir haben das ausgeglichen und unsern Leuten die Gehälter erhöht.»

Mehr Luxusautos als in Zürich
Mario Grassl ist ein typischer Ausländer: Einerseits bewundert er, was hier abläuft. Er hat schon in vielen Ländern der Welt gearbeitet, aber noch in keinem, das «so kapitalistisch» sei wie die neue Slowakei. Andererseits fragt er sich: «Wo ist die Grenze aus gesellschaftlicher Sicht?» Dass es gegen die Reformen kaum Proteste gibt, erstaunt ihn kaum. «Die Slowaken sind etwas schwieriger in Rage zu bringen, etwas phlegmatisch. Das kommt wohl vom Sozialismus. Und die Gewerkschaften sind schwach, sie haben früher zu unnötigen Streiks aufgerufen und ihr Vertrauen verspielt.»

Holcim zieht aus dieser politischen Lagebeurteilung unternehmerische Konsequenzen: Der Schweizer Konzern geht über die gesetzlichen Standards hinaus, freiwillig. Bei Krankheitsausfällen zum Beispiel zahlt Holcim höhere Ersatzlöhne. Daneben engagiert sich Holcim stark bei der Ausbildung und beteiligt sich auch an den Transportkosten ihrer Mitarbeiter. Ähnlich tönt es bei Nestlé Slovensko: «Wir sind eine soziale Firma.»

Die slowakischen Arbeitgeber setzen die Prioritäten anders. Zurzeit führen sie eine Debatte, wie sie die Lohnprozente für die Sozialversicherungen kürzen können. Diese belaufen sich zurzeit auf 45 Prozent (inkl. Krankenversicherung), erreichen also «Westniveau». Darum wollen die Chefs die Leistungen weiter kappen: Zum Beispiel soll der Erwerbsausfall bei Krankheit von 55 auf 50 Prozent abfallen.

Urs Steiger, ein Schweizer und Inhaber der BCG, der Bratislava Consulting Group, berät KMUs aus der Schweiz und aus Österreich. «Bisher hat es noch keiner meiner Kunden bereut, hier investiert zu haben.» Bei jeder neuen Kontaktnahme allerdings tritt Urs Steiger zuerst als Warner auf: Wer hierher kommen will, um nur die neuen Gesetze auszureizen und billige Arbeitskräfte zu suchen, sei in der Slowakei am falschen Ort.

Die Löhne stiegen jetzt schon, vor allem in Bratislava, wo das internationale Kapital in neue Glashäuser einzieht. «In zehn, spätestens zwanzig Jahren haben wir hier Westniveau.» Bereits sehr hoch sind auch die Immobilienpreise: Ein Einfamilienhaus in Bratislava kostet gut und gern eine halbe Million Schweizer Franken. Vor allem warnt Urs Steiger vor den Folgen des Hire &Fire: Wer seine Mitarbeiter nicht vorzüglich behandle, müsse dauernd neue suchen; denn die ziehen bei jedem besseren Angebot gleich weiter. Man müsse seine Mitarbeiter ans Unternehmen binden, ähnlich wie in der Schweiz. Man zahle ihnen von Anfang an einen etwas höheren Lohn als in der Slowakei üblich. «Am besten stellt man einem Kadermitarbeiter gleich ein Firmenauto zur Verfügung.» Im Laden sind die neuen Autos in der Slowakei gleich teuer wie in der Schweiz; auf der Strasse sieht man die neuesten und teuersten Modelle eher in Bratislava als in Zürich.

Den oberen zehntausend im 5,4-Millionen-Volk geht es so prächtig wie nie. «Die sozialen Gegensätze sind heute viel grösser als noch zu sozialistischen Zeiten», antworten 65 Prozent der Bevölkerung in Umfragen. «Klar, man kann diese Politik ablehnen», meint Martin Bruncko, der Berater des Finanzministers. «Es kommt halt darauf an, was man unter sozialer Gerechtigkeit versteht.» Eine Entlastung der Reichen wird von den Reformern nicht als negativ bewertet, im Gegenteil. «Das war ja gerade unser Ziel: Wir wollen doch die Erfolgreichen nicht dafür bestrafen, dass sie erfolgreich sind.»

Dasselbe sagt Ludovit Odor, zückt seine Charts hervor, die er im «Reform-Buch» zeigen will, und referiert: Man dürfe ein Reformpaket, wie es die Slowakei umgesetzt habe, nie statisch beurteilen. Statisch heisst: für den Moment. «Für den Moment hatte die grosse Masse verloren», gibt Ludovit Odor zu. «Aber nur für den Moment, im Januar des Jahres 2004. Wenn wir die Sache nur ein bisschen dynamisch betrachten, über ein, zwei, drei Jahre, dann ändern sich alle Vorzeichen.»

Tatsächlich entwickelt sich die Volkswirtschaft der Slowakei dynamisch. Das Bruttoinlandprodukt wächst um über fünf Prozent im Jahr, die Beschäftigung steigt langsam, aber sicher auch, und vor allem legen die Löhne zu, um real 2,5 Prozent. Dieses Jahr werden die Löhne «gar um 5 bis 6 Prozent hochspringen, bereinigt um die Teuerung», hofft Odor.

Der Aufwärtsgang ist messbar – und er ist vor allem auch sichtbar. Das internationale Kapital investiert und investiert in riesige Einkaufszentren und in gigantische Fabrikhallen. «Allein in den letzten sechs Monaten wurden 33 neue Grossinvestitionen angekündigt, die 7000 neue Jobs kreieren werden», sprach Wirtschaftsminister Pavol Rusko zum diesjährigen 1. Mai. Das grösste Projekt stammt von Kia/Hyundai, das neuste vom Reifenkonzern Hankook. Bereits seit längerem haben sich PSA Peugeot Citroën, Getrag Ford und Volkswagen für den Standort Slowakei entschieden.

Welch ein Kontrast zu den Zeiten des real existierenden Sozialismus. Von Moskau aus wurde eine schmutzige Schwerindustrie mit viel Waffenproduktion zentral geplant, womit das östliche Anhängsel der früheren Tschechoslowakei einen denkbar schlechten Start erwischte für die Zeit nach der Revolution von 1989. Prompt zog die Elite aus – Richtung Westen, und sei es nur bis Prag. Als die Slowakei später von Tschechien unabhängig wurde, kam Vladimir Meciar an die Macht: ein Autokrat, der Staatsbetriebe an Freunde verscherbelte und seine Feinde via Geheimdienst plagte.

Ein Toast auf Maggie
Jene jungen, klugen Köpfe, welche nicht ins Ausland auswanderten, zogen sich zurück in eine zivile Gesellschaft. Reihenweise sprossen Think-Tanks aus den Kellern, bis heute gibt es zehn Institute in Bratislava.

Darunter Mesa 10, gegründet von Mikulas Dzurinda und Ivan Miklos. 1998 wurde Dzurinda Premierminister, hielt sich in der ersten Amtsperiode aber zurück; denn er regierte mit einer Koalition aus elf wild zusammengewürfelten Parteien, die sich nur in Anti-Meciar-Gefühlen einig waren. Für «echte» Reformen war dieses Kabinett zu heterogen. Das änderte sich nach den Wahlen im Herbst 2002: Diesmal gewann eine klare Mitte-rechts-Koalition, angeführt von Mikulas Dzurinda und seinem Stellvertreter Ivan Miklos, welche mit einer «Reform-Agenda» gestartet war, die direkt von den Think-Tanks rund um Mesa 10 hätte stammen können. Diese Agenda setzten sie um. Sofort. Eins zu eins – während Gerhard Schröder von seiner «Reform-Agenda 2010» vor allem redete.

Bereits geht in den Ländern der alten EU die Angst um. Die «Tiger» Osteuropas, angeführt von der Slowakei, würden «Steuerdumping» betreiben, «geschmiert mit Subventionen der EU». Diesen Vorwurf pariert Finanzminister Ivan Miklos inzwischen professoral: «Unsere Reformen werden zu raschem Wachstum führen und somit dazu beitragen, dass wir schneller keine Fördermittel mehr von der EU benötigen werden als ohne Reform», sagte er zur NZZ. «Wir sind keine Trittbrettfahrer, sondern wollen so rasch wie möglich auf eigenen Beinen stehen können.»

Speziell an die Adresse von uns Schweizerinnen und Schweizern ergänzte er: «Natürlich ist es einfacher, Reformen in armen Ländern durchzuführen, aber denken Sie an Margaret Thatcher. Das zeigt, dass es auch in reichen Ländern möglich ist, radikale Reformen zu realisieren, wenn auch vielleicht erst, wenn einem das Wasser bis zum Halse steht.

Gegenüber der deutschen Leserschaft des Spiegels fügte Miklos jüngst einen Satz an, der wohl ebenfalls warnend gemeint war: «Wenn ich in einem Wort zusammenfassen sollte, was Globalisierung bedeutet, würde ich sagen: Unsicherheit – und die wird weiter zunehmen.»

Soziale Sozialdemokraten
Und wie reagiert das slowakische Volk auf solche Unsicherheitsbotschaften? Martin Butora, Soziologe, von 1999 bis 2002 Botschafter in den USA, parteiunabhängiger Präsidentschaftskandidat, gilt als eine Art «soziales Gewissen der Slowakei». Butora hält sich aber zurück: «Uns fehlen noch die harten Daten.» Entscheidend sei die «soziale Kohäsion»: Die Schere zwischen Reich und Arm dürfe sich nicht noch weiter öffnen. In den Umfragen, welche sein Institut durchführe, zeichne sich ab, dass die Mehrheit nun «das Gefühl» entwickle, es könnte aufwärts gehen. «So ein Gefühl wäre völlig neu in der Geschichte der Slowakei.»

Butora gründete das Institute for Public Affairs (IVO), das vom Open Society Institute von George Soros unterstützt wird. Jährlich gibt sein Institut einen dicken Bericht heraus, neu auch auf Englisch: «A Global Report on the State of Society». Blättert Butora die alten Ausgaben durch, fällt ihm auf: Aus einigen Mitarbeitern wurden Minister. Ivan Miklos schrieb gleich bei drei Jahrbüchern mit; auch Rudolf Chmel, der jetzige Kulturminister, Rudolf Zajac, der Gesundheitsminister, und Daniel Lipsic, der Justizminister.

Trifft Martin Butora seine ehemaligen «Kollegen», zeigt sich sofort, wer die Seite gewechselt hat. Zum Beispiel sieht Butora als regelmässiger Buchautor nicht ein, warum für Bücher ein Mehrwertsteuersatz von 19 Prozent gilt. Darauf erklärt sein früherer Mitautor Miklos, dass er für Bücher gerne eine Ausnahme machen würde. Aber als Minister dürfe er nicht. «Sobald ich einer Branche eine Ausnahme gewähre, kommt die nächste Branche und will auch eine Ausnahme. Das wäre das Ende der Flat Tax.» Es sei fast einfacher gewesen, die Einfachsteuer einzuführen, als die Einfachsteuer nun zu halten. «Fast jeden Tag kommen neue Interessenvertreter, die für sich eine Ausnahme fordern.» Bis jetzt blieb die Regierung hart.

Trotzdem will Martin Butora das Reformpaket insgesamt nicht als «neoliberal» abqualifizieren. Die Regierung habe eine «neue Ordnung, neue Regeln» gesetzt. Eine nächste Regierung könne innerhalb dieser Regeln dann neue Standards setzen und gewisse Steuern, Sozialleistungen, Gebühren wieder erhöhen – oder senken.

Genau das will Igor Sulaj. Er ist Mitgründer der Oppositionspartei Smer, welche von der Regierung als «populistisch» verschrien wird und die sich selber als «sozialdemokratisch» bezeichnet. Sulaj amtet zurzeit als ihr «Schattenfinanzminister». Er ist noch jünger als Miklos, ebenfalls studierter Ökonom, war einst staatlicher Steuerkommissär, hat dann eine private Treuhand- und Steuerberatungsfirma gegründet, die er heute noch besitzt. Und in dieser Funktion weiss er: «Die Steuervereinfachung war gut für die Slowakei.»

Was ihm nicht passt, ist die Tatsache, wer den Preis bezahlen musste: «80 Prozent der Leute haben verloren, und das kann ich als Sozialdemokrat nicht akzeptieren.» Also will er alles tun, um diese 80 Prozent der Leute nach den Wahlen vom Herbst 2006 zu entlasten.

Frage an Igor Sulaj: Was konkret würden Sie ändern, wenn Sie Finanzminister wären? – Erstens würde er den Gewinnsteuersatz bei 19 Prozent konstant halten wie heute, denn dieser tiefe Satz sei «positiv für das Wirtschaftswachstum». Zweitens würde er die Mehrwertsteuer ebenfalls bei 19 Prozent ansetzen. Aber er würde nicht so strikt und rigoros sein und – «ähnlich wie die Schweiz und alle andern Länder der OECD» – Ausnahmen zulassen; für Nahrungsmittel, Medikamente, Bücher und Wohnungen würde er einen tieferen Sondersatz bei 15 Prozent festsetzen. Drittens würde er die Einkommenssteuer ebenfalls bei 19 Prozent belassen; aber er würde wiederum nicht so strikt und rigoros sein und einen zweiten, nur 15-prozentigen Steuersatz einführen für alle Leute mit weniger als 200000 Kronen Jahreseinkommen (rund 9000 Franken).

Nachfrage: Also würden Sie als Sozialdemokrat noch weiter gehen als die jetzige Mitte-rechts-Regierung und die Steuern nochmals senken? – «Richtig», nickt der Schattenfinanzminister. «Steuersenkungen kurbeln die Wirtschaft an.»

Grigorij Meseznikov/Miroslav Kollar (Editors):
Slovakia 2004. A Global Report on the State of Society.
Institute for Public Affairs, Bratislava 2005. 743 S., Euro 39.95
Informationen auf www.ivo.sk

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