Der Steuer-Putsch 07.07.2005, Weltwoche

Der Steuer-Putsch
Je höher das Einkommen, um so tiefer der Tarif. Seit neustem in Schaffhausen, bald auch in Obwalden.

07.07.2005, Weltwoche

Ein Wirtschaftsförderer muss grosse Töne spucken, das gehört zu seinem Job. «Was wir hier haben, gibt es sonst nirgends auf der Welt.» Doch Marco Rhyner, ein junger, ehrgeiziger Ökonom der Wirtschaftsförderung des Kantons Schaffhausen, übertreibt für einmal nicht. Was der Kanton Schaffhausen hat, im Gegensatz zur übrigen Welt, ist «ein degressives Steuersystem». Das tönt nicht sexy. Aber für die Ohren der Gutverdiener ist das Balsam.«Es gibt Länder, die haben eine Flat Tax», fährt Marco Rhyner fort. Sein Kanton Schaffhausen geht sogar einen Schritt weiter. Flat Tax heisst: Die Steuertarife sind flach, proportional. Die ersten paar Tausender sind steuerfrei; alles was darüber hinausgeht, wird zum selben Satz besteuert. In der Slowakei, dem neuen Wunderland der Flat Tax, zahlen alle 19 Prozent. Darüber rümpfen die meisten Schweizerinnen und Schweizer die Nase: «Ungerecht»; um sogleich «unser» progressives Steuersystem zu preisen, welches darin besteht, dass diejenigen, die ein paar Hunderttausender mehr verdienen, ein paar Prozente mehr davon abgeben müssen.Schaffhausen hat dieses System auf den Kopf gestellt. Das ist tatsächlich eine Weltpremiere – und sie wurde bisher kaum wahrgenommen. Seit 1. Januar 2004 gilt der Spitzensteuersatz in Schaffhausen nur noch für Leute, die eine halbe Million verdienen – davon müssen sie 23 Prozent an den Kanton und die Gemeinde abgeben. Wer mehr verdient, kommt billiger weg, in Prozenten gerechnet. Bei einem Einkommen von 2,5 Millionen sinkt die Kantons- und Gemeindesteuer in Schaffhausen auf 16 Prozent.

«Ein Lockvogelangebot an Spitzenverdiener», schrieb etwa die Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ansonsten fiel das Echo gering aus, national wie international. «Wenn Leute aus dem Ausland, die hier investieren wollen, davon hören, staunen sie», erzählt Marco Rhyner von der Wirtschaftsförderung. Ein grosser US-Ökonom wenigstens habe «grösstes Interesse an diesem Experiment» angemeldet: Alvin Rabushka von der Stanford University, der das Standardwerk «The Flat Tax» verfasst hat.

In den kommenden Wochen könnte das «Schaffhauser Modell» noch Schlagzeilen machen. Denn jetzt ist bereits der zweite Kanton in den Startlöchern: Obwalden. Hier sind die Steuersätze heute schon tiefer als etwa in Schaffhausen. Künftig soll der Maximalsteuersatz in Sarnen für die Kantons- und die Gemeindesteuer knapp 16 Prozent betragen. Aber das gilt nur für Einkommen bis zu 300000 Franken. Wer mehr versteuert, soll bald weniger Prozente abgeben müssen. Bei 400000 Franken Einkommen sinkt der Tarif für die Kantons- und die Gemeindesteuer in Sarnen auf 14,5 Prozent, bei 500000 auf 13 Prozent, bei einer Million auf 11,5 Prozent.

Ist ein solches «Unsystem», das die Reichen privilegiert, legal? Gemäss dem hiesigen Rechtsverständnis richtet sich die Steuerbelastung nach der «wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit». Diesem Prinzip wird mit dem «Schaffhauser Modell» kaum nachgelebt. Doch es gibt dazu ein juristisches Gutachten, das alle Bedenken vom Tisch wischt, denn es würden ja alle Leute gleich behandelt. «Das funktioniert wie bei den Bauklötzli», erklärt Branko Balaban, Chef der Steuerverwaltung in Obwalden. «Für die untersten Klötzli zahlen alle gleich viel. Kommt ein neues Klötzli hinzu, ist das für alle gleich teuer. Die obersten Klötzli werden dann einfach immer billiger.» Entscheidend sei, dass auch die Einkommensstärksten für die ersten 150000 Franken gleich viel zahlen müssen wie diejenigen, die lediglich 150000 Franken verdienen.

In der Summe hingegen kommen die Reichsten in Obwalden bald gleich günstig weg wie die Reichsten in der Steueroase Zug: 11,5 Prozent. Doch das Paradies gilt eben nur für die Reichsten. Eine Mittelstandsfamilie zahlt in Sarnen weiterhin 14 Prozent, während dieselbe Familie in Zug mit 8 Prozent belastet wird. Denn in Zug gilt ein progressives Steuersystem – wie überall sonst in der Schweiz, wie überall sonst auf der Welt, abgesehen von den Flat-Tax-Ländern, die einen proportionalen, fixen Satz kennen.

«Eigentlich haben wir die Einführung einer Flat Tax geprüft», erzählt Branko Balaban. «Ideal wäre ein Freibetrag von etwa 30000 Franken, und alles, was darüber hinausgeht, wird mit einem proportionalen Satz von 11 bis 12 Prozent besteuert.» Dann kommt Balaban zum Aber: «Aber wir konnten uns das nicht leisten.» Die Steuerausfälle wären zu gross gewesen; 96 Prozent der Obwaldner Bevölkerung versteuern ein Einkommen zwischen null und 90000 Franken im Jahr.

Obwalden will attraktiv sein, aber es kann sich das (noch) nicht leisten. Also will Obwalden vorerst nur für die wenigen Leute attraktiv werden, die sehr viel verdienen. Branko Balaban hat das «Schaffhauser Modell» genau studiert. «Schaffhausen», so stand es schon in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, «machte diesen fiskalischen Salto nicht etwa aus Übermut, sondern aus Not.» Die Not bestand darin, dass dieser Kanton seine Spitzenverdiener an sieben Händen abzählen konnte. Lediglich 35 Steuerzahler brachten es auf mehr als eine halbe Million Franken Einkommen und kein einziger auf mehr als 1,5 Millionen.

Und heute? Wird Schaffhausen seit 1. Januar 2004 von den Spitzenverdienern überlaufen? «Nein, nein», lacht Alfred Streule, Chef des kantonalen Steueramts in Schaffhausen. «Solche Prozesse laufen langsam.» Die erste Rechnung fiel überraschend positiv aus: Trotz der gezielten Steuersenkung zugunsten der Grossverdiener kam es nämlich zu keinen Steuerausfällen. «Diese Ermässigungen wurden durch den Zuzug neuer Einwohner mit einem Einkommen von mehr als 500000 Franken oder einem Vermögen von über 10 Millionen Franken bereits kompensiert», verkündete Regierungspräsident und Finanzdirektor Heinz Albicker. Genaueres will er nicht sagen, und Wirtschaftsförderer Marco Rhyner will keine Namen von Zuzügern verraten: «Diese Klientel ist nicht mediengeil, das ist wie beim Private Banking.»

Obwalden geht nun noch einen Schritt weiter. Der Halbkanton führt nicht nur degressive Tarife bei der Einkommenssteuer ein, Obwalden leistet sich künftig eine richtige Flat Tax – und zwar bei der Gewinnsteuer. Noch zahlen die Unternehmen zwischen 16 und 19 Prozent; bald werden alle fix 6,6 Prozent abgeben müssen.

Das ist eine weitere Weltsensation. Dieser flache Tarif von 6,6 Prozent ist womöglich der tiefste der Welt, ganz sicher aber der tiefste der Schweiz. Kombiniert wird dieser flache Tarif mit einem reduzierten, nämlich halbierten Satz für Dividenden. «Bei den Unternehmenssteuern wollen wir die Nummer eins der Schweiz sein», gibt Branko Balaban als Ziel für Obwalden durch.

Warum kann es sich dieser kleine Halbkanton leisten, seine Steuern derart massiv zu senken? Aus mehreren Gründen. Erstens habe «der Kanton am eigenen Leib gespart», mein Branko Balaban. Dann erhält er zusätzliches Geld vom Nationalbankgold und vom neuen Finanzausgleich. Bald fliesst (noch) mehr Geld aus Bern in die Randregionen, und überdies können die Kantone auch etwas freier entscheiden, wie sie diese Mittel verwenden wollen; also auch für Steuersenkungen. Letztlich aber hat der Halbkanton wenig zu verlieren. Die juristischen Personen liefern nur gerade 7 Prozent der Steuern ab. Geht die Strategie auf, siedeln sich neue Unternehmen samt oberstem Management an. Dann hätte Obwalden sehr viel gewonnen.

Das Tempo, das die Politiker in diesem Halbkanton vorgeben, ist unschweizerisch. Die Vorlage zur Steuerreform ging soeben durch die Vernehmlassung, nächsten Donnerstag ist die erste Kommissionssitzung, anschliessend kommt sie ins Parlament, am 27. November vors Volk – und auf 1. Januar 2006 soll sie in Kraft treten. So schnell geht es sonst höchstens in Estland oder der Slowakei.

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