Merzradikal 25.08.2005, Weltwoche

Merzradikal
Der Finanzminister will die Mehrwertsteuer grundlegend vereinfachen. 25.08.2005, Weltwoche
Während in Deutschland die CDU-Kanzlerkandidatin Angela Merkel den Einfach-Steuer-Experten Paul Kirchhof ins Wahl-Team beruft, tut sich auch in der Schweiz etwas. Unser Finanzminister will die Steuern ebenfalls radikal vereinfachen, ernsthaft. Das ist neu. Bisher hat Hans-Rudolf Merz nur davon gesprochen. Im Januar hat er zwar einen Bericht vorgelegt, mit dem er zeigte, wie die Mehrwertsteuer vereinfacht und ihr Tarif gesenkt werden könnte. Doch leider sei dieses Ideal, so der Bundesrat, nicht realisierbar, da «grosse Widerstände zu erwarten» seien (Weltwoche Nr. 7.05).In der Zwischenzeit ist alles anders. Urplötzlich hat Merz seine Taktik geändert. Via NZZ gab er durch: «Höchste Priorität hat für mich eine radikal vereinfachte Mehrwertsteuer mit einem Einheitssatz.» Dieser neue Einheitssatz würde viel tiefer liegen als der heutige Normalsatz von 7,6 Prozent; er würde auf «5 bis 6 Prozent» fallen und wäre damit der tiefste der OECD. «Mit dieser wohl weltweiten Pioniertat würden wir unser Land als Wirtschaftsstandort neu positionieren», so Merz.Zustande kommt diese enorme Senkung der Tarife, weil Merz auf sämtliche Privilegien zugunsten etlicher Branchen verzichten will. Neu sollen alle gleich behandelt werden. Erreichen will Merz dieses Ziel auf einen Schlag:

_ Er will den reduzierten Satz von 2,4 Prozent abschaffen, der heute für Nahrungsmittel, Medikamente, Bücher, Zeitungen gilt.

_ Er will auch den Sondersatz für Hotelübernachtungen abschaffen, der heute bei 3,6 Prozent liegt.

_ Er will sämtliche 25 Ausnahmen abschaffen, dank denen ganze Branchen von der Mehrwertsteuer befreit sind.

Das tönt einfach und gerecht. Und noch ist es auch erstaunlich still im Land. Aber es sind tatsächlich «grosse Widerstände» zu erwarten. Mehrere Branchen, bis zu 25 an der Zahl, die heute eine Null-Steuer oder einen Sondersatz geniessen, werden in den kommenden Wochen und Monaten Sturm laufen.

«Eine verrückte Sache»

Zum Beispiel die Lobby der Zeitungsverleger. «Eine verrückte Sache», kommentiert ihr Präsident Hanspeter Lebrument, landesweit als «Subventionsjäger» bekannt. Gegenüber der Weltwoche outet er sich als «dezidierter Gegner»: Jedes Jahresabo würde um 15 bis 18 Franken teurer. Folglich will Lebrument auf dem reduzierten Sondersatz für «leibliche und geistige Nahrung» beharren.

Und wie reagieren die Grossverteiler? Die Migros hat sich ins Thema eingearbeitet, nachdem der Obwaldner Ständerat Hess mit einem Vorstoss die Gastronomie entlasten wollte und zur Kompensation den reduzierten Satz für Lebensmittelhändler, Zeitungsverleger, Apotheker, Buchhändler etwas anheben wollte. «Das hätte uns 80 Millionen im Jahr gekostet», rechnete die Migros nach. Im Mai gaben ihre Vertreter in einem Gespräch mit Hans-Rudolf Merz ihr Njet durch. Spätestens da hat der Bundesrat gemerkt, wie schwierig selbst «kleine Schritte» oder «halbe Lösungen» umzusetzen sind. Also schwenkte Merz um: Neu geht er auf Tutti – und kämpft für eine konsequente Lösung ohne jede Ausnahme und Sonderregelung. Was die Migros allerdings nicht «nur» 80 Millionen, sondern gut 200 Millionen kosten wird.

Wird sie nun zusammen mit Coop und Denner auf die Barrikaden gehen? «Wir sind in der Zwickmühle», heisst es. Während Ständerat Hess einer einzelnen Branche unter die Arme greifen wollte, verfolge Merz eine hehre Absicht: Er wolle das System als Ganzes vereinfachen und den Normaltarif senken. Das habe einen «grossen volkswirtschaftlichen Nutzen». Ob die Migros dafür ein Opfer bringen will, lässt sie noch offen.

Nicht vergessen darf man die Banken. Schafft Merz tatsächlich sämtliche 25 Ausnahmen ab, werden auch gewöhnliche Kredite, inklusive Hypothekarkredite, dem neuen Einheitssatz unterstellt. Dasselbe gilt für Zahlungsüberweisungen, Börsengeschäfte, Bürgschaften: All das würde künftig gleich behandelt wie die Dienstleistungen einer Coiffeuse – also mit der Mehrwertsteuer belastet. Das ist eine happige Forderung, auch wenn im Gegenzug alle Stempel- und sonstigen Umsatzabgaben abgeschafft würden. Die Banken reagieren perplex. «Wir müssen die Vorschläge zuerst genau studieren und in unseren zuständigen Gremien besprechen. Ich hoffe, Sie verstehen dies», antwortet Thomas Sutter von der Bankiervereinigung.

Auch Versicherungen würden neu dem Einheitssatz unterstellt, was ihr Verband kritisch verfolgt. Doch auch hier wünscht man sich eine «weniger formalistische und fiskalistische Praxis». Unabdingbare Voraussetzung für die Unterstellung der Versicherung unter die Mehrwertsteuer sei jedoch «die Beseitigung sämtlicher Verkehrssteuern wie Stempelabgaben oder Handänderungssteuern».

Laut klagen wird die Linke: Wenn das Brot, das Fleisch, die Medikamente teurer würden, treffe das die kleinen Leute. Merz will dieses Problem mit gezielten Transfers zugunsten bedürftiger Familien angehen. Wenn nun aber zusätzlich die Migros, Coop, Denner, die Banken, Buchhändler, Apotheker, Zeitungsverleger, Kinobetreiber, alle Sport- und Kulturveranstalter aufheulen, steht er bald einsam da. «Ich hoffe, dass es gelingt, die 25 betroffenen Lobbys wie beim Genfer Weihnachtsschwimmen auf eine Linie zu bringen. Da muss sich jeder erst einen Kübel kaltes Wasser über den Kopf leeren. Dann müssen sie sich die Hand geben, einer zählt auf drei, und alle müssen miteinander springen. Nur so geht das», sagte er zur Aargauer Zeitung.

Alle müssen mitmachen, ohne jede Ausnahme – unter dieser Bedingung hat immerhin eine kritische Branche bereits versprochen, dass sie dabei sein wird: die Hoteliers. Denn sie wissen: Das heutige System ist schrecklich kompliziert, bringt aber wenig. Im schlimmsten Fall müssen Hoteliers drei verschiedene Sätze abrechnen (7,6 Prozent für den Restaurantbetrieb, 3,6 Prozent für die Übernachtungen, 2,4 Prozent für den Takeaway-Service); im Durchschnitt zahlen sie heute 5,5 Prozent, hat ihr Verband Hotelleriesuisse hochgerechnet.

Schizophrenes Lob

Neben einem generell tieferen Satz für alle bringt die Merz-Reform eine gehörige bürokratische Entlastung. Noch wird ein Lehrbuch, das eine CD enthält, mit zwei Sätzen besteuert (2,4 Prozent fürs Buch, 7,6 Prozent für die CD). Eine Porzellantasse, die mit Pralinen gefüllt ist und als Geschenkpackung verkauft wird, gilt je nach Wertanteil entweder als Geschirr (7,6 Prozent) oder als Nahrungsmittel (2,4 Prozent). Wird ein Medikament einzeln am Spitalbett abgegeben, beträgt die Steuer null; gibt das Spital einem austretenden Patienten eine ganze Packung mit nach Hause, kommt der reduzierte Satz (2,4 Prozent) zum Zug. All diese Wirrungen und Irrungen im Paragrafenwald wären mit dem Merz-Plan abgeschafft.

Kein Land der EU ging derart konsequent vor, nicht einmal das «Musterland» Slowakei. Finanzdienstleistungen zum Beispiel sind sonst nur in Neuseeland steuerpflichtig. Dank der breiten Anwendung sinkt der Tarif in der Schweiz dann auf ein absolutes Tief. Gelingt es Merz, alle 25 Branchen zum Mitmachen zu zwingen, wird der neue Einheitssatz eher bei 5 als bei 6 Prozent liegen.

Zum Vergleich: In Deutschland will Angela Merkel den Normalsatz von 16 auf 18 Prozent erhöhen; den ermässigten Satz will sie bei 7 Prozent belassen, wofür Merkel vom hiesigen Zeitungsverleger Hanspeter Lebrument in den höchsten Tönen gelobt wird. Das ist fast schon schizophren, denn der Schweizer Bundesrat bietet weit mehr: einen Einheitssatz, der unter den deutschen Sondersatz fällt.

Bis 2008 oder 2009, hofft Hans-Rudolf Merz, soll die Mehrwertsteuer-Reform unter Dach sein. Wir drücken ihm die Daumen – und werden ihn beim Wort nehmen.

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