Konflikt zwischen Jung und Alt vertagt Wie solidarisch ist die 68er Generation? 27.09.2005, NZZ

Konflikt zwischen Jung und Alt vertagt
Wie solidarisch ist die 68er Generation? 27.09.2005, NZZ
Die Alterung der Gesellschaft wird kein Problem sein, sofern die künftigen Alten nur ein bisschen weise sind. «Warum eigentlich soll eine Generation, die ihre Geburten reduziert hat, nicht mithelfen, die Konsequenzen zu tragen?», fragt der St. Galler Soziologe Peter Gross. Warum nicht? – Helfen die Senioren mit, kommt tatsächlich alles gut. Sie könnten etwas länger arbeiten, wenn sie schon etwas länger leben. Womöglich geben sie sich mit weniger AHV-Rente zufrieden, sofern sie selber begütert sind (was grossmehrheitlich der Fall sein wird). Sie könnten bereit sein, höhere Prämien für die Krankenkasse zu zahlen, solange die Älteren im Schnitt so viel mehr kosten als die Jüngeren.Die hohen Vermögen der AltenWenn all das passiert, gibt es keinen Kampf der Generationen. Und die Chancen stehen gut: Schliesslich handelt es sich bei den künftigen Senioren um die berühmte 68er Generation, die in ihrer Jugend viel von Solidarität und Nachhaltigkeit geredet hat. Demnächst stehen diese 68er voraussichtlich vor der Reifeprüfung: Werden sie nachhaltig handeln und solidarisch sein mit der Jugend der Zukunft?

Das fällt den 68ern vielleicht leichter, als manche heute noch denken. Wenn sie einmal pensioniert sind, werden die meisten von ihnen vermögend sein und ansehnliche Renten aus ihren Pensionskassen ziehen. Schon heute sind die Leute zur Zeit der Pensionierung im Durchschnitt nicht nur reich, sondern sehr reich. Unter den über 65-Jährigen im Kanton Zürich versteuert jeder fünfte Verheiratete mehr als 1 Million Franken Vermögen, jeder zweite mehr als 360 000 Franken. Bei den über 85-Jährigen versteuert die obere Hälfte über 400 000 Franken. Im etwas ärmeren Solothurn versteuern die 60- bis 70-Jährigen im Schnitt 175 000 Franken Vermögen, die 70- bis 80-Jährigen 260 000 Franken, die über 80-Jährigen im Schnitt 300 000 Franken.

Das ist schön für die Betroffenen, aber fast schon pervers aus Sicht der Gesellschaft. Je länger die Schweizerinnen und Schweizer pensioniert sind, je länger ihr erwerbsfreier Lebensabend dauert, umso mehr Geld legen sie auf die Seite. Das widerspricht sämtlichen Theorien über den Lebenszyklus des Sparens, wonach die Menschen, ähnlich wie die Eichhörnchen, bis ins Alter von 65 ihre Nüsse auf die Seite bringen, um diese nachher zu verspeisen. Unsere Senioren, zumindest deren obere Hälfte, zehren nicht vom Ersparten, im Gegenteil. Sie vermehren es.

Sicherheitswahn und Steuersparer

Bürgerliche Politiker und der Think-Tank Avenir Suisse thematisieren gern die «Probleme der Altersvorsorge». Das Ausmass des Altersreichtums interessiert sie erstaunlicherweise weniger. Dabei geht es hier um des Pudels Kern: «Bei der Altersvorsorge ist die Frage absolut berechtigt, ob das schweizerische System nicht weit über das Ziel hinausgeschossen hat», schreibt der Basler Ökonomieprofessor Silvio Borner. «Heute lebt ein Grossteil der Rentner in komfortablen finanziellen Verhältnissen, und es werden in der Mehrzahl der Fälle nach der Pensionierung noch zusätzliche Ersparnisse gebildet.» Der Bestsellerautor Walter Wittmann spricht im Titel seines Buchs von «Sicherheitswahn», dem angeblich besonders die Besserverdiener verfallen sind, die aus Steuerspargründen unheimliche Summen auf die Seite legen.

Die Sozialversicherungs-Mechanismen

Trotz dieser privaten «Übervorsorge» laufen die Automatismen in den Sozialversicherungen weiterhin wie bisher – in der leider falschen Richtung. Noch müssen die Jungen mit den Alten solidarisch sein, unabhängig davon, wie reich diese Begünstigten sind. Zurzeit wird eine gigantische Summe von schätzungsweise 33 Milliarden Franken im Jahr zugunsten der über 65-Jährigen umverteilt. Diese Milliarden laufen vor allem via AHV und via Krankenkassen; aber auch via Spital- und Heimsubventionen wird die Last stark auf die jüngeren Steuerzahler überwälzt. Ganz hinterhältig ist die Umverteilung via Pensionskassen: Auch hier geniessen die über 65-Jährigen manche Privilegien (vorzeitige Pensionierungen, überhöhter Umwandlungssatz der Renten, Teuerungsausgleich), welche sie nicht selber vorfinanziert haben.

Zwischenfrage: Warum kann dieser Automatismus der Umverteilung nicht so weiterlaufen wie bisher? Dies erklärt sich vor allem mit demographischen wie auch mit sozialen Gründen. Wenn die Zahl der Älteren steigt, die Zahl der Jüngeren sinkt, diese Älteren aber im Durchschnitt noch reicher sein werden als heute, dann können diese wohl kaum darauf beharren, weiterhin von den Jüngeren finanziert zu werden.

Mehr Bezüger von Ergänzungsleistungen

Selbstverständlich wird ein grosser Teil der Älteren auf die staatliche Umverteilung angewiesen sein, in Zukunft sogar stärker als heute. Die Schweiz entwickelt sich zu einer Pensionsklassengesellschaft: Wer keine Pensionskasse hat, ist arm dran. Denn die AHV-Rente allein ist nicht existenzsichernd, und sie wird es in Zukunft noch weniger sein (aufgrund des Mischindexes wird sie laufend entwertet). Bald werden mit grosser Wahrscheinlichkeit noch mehr Leute auf eine AHV-Ergänzungsleistung angewiesen sein, wenn nicht andere Massnahmen ergriffen werden.

Bedürftigkeit ist aber keine Frage des Alters. Auch in der Gruppe der Jüngeren – der unter 65-Jährigen – wächst der Anteil der Leute, die eine IV-Rente, eine IV-Ergänzungsleistung oder eine Sozialhilfe beziehen, in beängstigendem Tempo. Die meisten dieser «Klienten» haben keine genügende Pensionskasse und werden später, wenn sie pensioniert sind, eine Ergänzungsleistung zur AHV beantragen. Alle Zeichen deuten darauf hin, dass die Summe Geld, die zur Verhinderung der sozialen Not umverteilt werden muss, steigt. Und zwar massiv.

Neue Solidaritäten

Zum Glück ist dieses Problem lösbar. Wir müssen nur die Prioritäten neu festlegen – und den Mechanismus der Umverteilung etwas klüger organisieren. Das Geld darf nicht von Jung zu Alt fliessen, sondern von Reich zu Arm.

Und das kann nur klappen, wenn die vielen Reichen unter den Senioren auf ein paar Ansprüche verzichten, die man heute noch «wohlerworbene Rechte» nennt. Die Zeit drängt. Noch reicht die jetzige Generation alle Lasten bedenkenlos der nächsten Generation weiter: etwa in Form des ständig wachsenden Schuldenbergs der öffentlichen Haushalte, inklusive der unbezifferbaren Lücken in den öffentlichen Pensionskassen. Doch Solidarität ist keine Einbahnstrasse. Einen Teil dieser Last kann die heutige Generation, wenn sie einmal pensioniert ist, wieder «zurücknehmen». So viel ist zumindest der vermögenden Hälfte der künftigen Senioren zumutbar. Wer privat komfortabel versichert ist, darf bei den Sozialversicherungen (AHV, Krankenkassen) etwas zurücktreten. Am besten freiwillig.

Sofern die 68er Generation zu diesem Schritt bereit ist, müssen wir tatsächlich keine Angst vor einem Kampf zwischen den Generation haben. – Nur: Wie realistisch ist dieses Szenario?

* Der Autor, 1960 geboren, ist Ökonom und Journalist und hat im Buch «Idée suisse» (Weltwoche-Verlag) die Umverteilung im Sozialstaat Schweiz beschrieben. Im Jahr zuvor erschien sein «Weissbuch 2004».

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