Jeden Herbst steigen die Krankenkassenprämien. Aber deswegen jammern? Wir bezahlen nur, was wir vom Gesundheitswesen verlangen und auch bekommen: mehr, mehr, mehr. 29.09.2005, Weltwoche
Kürzlich, erzählt Dr. med. Andreas Luder aus Interlaken, habe ihn eine sparsame ältere Dame in der Praxis angerufen. Wegen Rückenschmerzen habe sie übers Wochenende in der Apotheke ein rezeptfrei erhältliches Schmerzmittel gekauft. Nun brauche sie ein Rezept für die Krankenkasse. Zwar sei das Medikament billig, drei Franken nur, aber wenn sie zusätzliche Pillen nachbestellen wolle, gehe das eben doch ins Geld. Sie wäre froh, wenn ihr Arzt das Rezept gleich an die Apotheke schicken könnte.Als der Arzt am Abend joggen ging, steckte er das Couvert, um das Porto zu sparen, eigenhändig in den Briefkasten der Apotheke. Während des Laufens dachte und rechnete er nach, wer alles von diesem kleinen Ereignis profitierte.Erstens: die ältere Frau. Sie muss die drei Franken nicht selbst bezahlen, sofern ihre Franchise bereits aufgebraucht ist. Zweitens: der Apotheker. Die Abgabe mittels Rezept berechtigt ihn zum Bezug der Patientenpauschale von Fr. 9.20 und der Apothekerpauschale von Fr. 4.30. Drittens: er selbst, Dr. med. Luder. Er darf, muss aber nicht, die Position 00.0110 (telefonische Konsultation durch den Facharzt) oder 00.0140 (ärztliche Leistung in Abwesenheit des Patienten) verrechnen, was Fr. 13.85 bis 17.40 ausmacht, je nach Kanton. (ACHTUNG: KORRIGENDUM am Ende des Artikels, die Pauschalen des Apothekers gelten nur für rezpt-PFLICHTIGE Medikamente!, Sorry).Zum Schluss kostet das Medikament, das eigentlich in jeder Apotheke für drei Franken erhältlich wäre, Fr. 30.35 bis 33.90, je nach Kanton, vollständig bezahlt von der Krankenkasse. «Eine nette Geschichte, nicht wahr?», findet Dr. med. Andreas Luder aus Interlaken.
Eine typische Geschichte. Das System funktioniert tadellos, im Kleinen wie im Grossen multiplizieren sich die Kosten zu einem stolzen Umsatz. Zuoberst steht der Wunsch des Patienten, der Patientin. Er oder sie kriegt, was er oder sie verlangt, gratis. Und alle andern Beteiligten helfen gern und verdienen mit.
Das Gesundheitswesen boomt wie sonst nichts in der Schweiz: Es ist die Wachstumsbranche Nummer eins. So hoch die Preise im internationalen Vergleich auch sind, sowohl bei einfachsten Medikamenten wie bei schwierigsten Operationen, die Nachfrage steigt trotzdem unaufhörlich. Dass parallel dazu die Prämien für die Krankenkasse steigen, wird jeden Herbst laut beklagt, ist aber nicht zu vermeiden; irgendjemand muss die Rechnung ja bezahlen. Also lässt sich das kraftvolle Wachstum auch an den Beträgen ablesen, welche die obligatorische Krankenversicherung übernehmen muss. Letztes Jahr stiegen sie um weitere 6,8 Prozent auf über 19 Milliarden Franken im Jahr. Geht das so weiter, verdoppeln sich die Prämien alle zehn Jahre; das ist Mathematik.
Aber sonst fühlt sich das Volk gut gut behandelt. Seit das vielkritisierte Krankenversicherungsgesetz (KVG) 1996 in Kraft ist, hat sich der Anteil der Schweizerinnen und Schweizer, die mit dem Gesundheitswesen «zufrieden» sind, signifikant erhöht auf «eine klare Mehrheit von 67 Prozent», wie zwei Tessiner Forscherinnen rund um Professor Gianfranco Domenighetti in einer nationalen Umfrage ermittelt haben. «Die höchste Zufriedenheit wird bei den Personen verzeichnet, welche die Dienste am häufigsten in Anspruch nehmen: betagte Menschen und Chronischkranke.»
Der Meinungsforscher Claude Longchamp vom Institut GfS in Bern bestätigt: «Die Bevölkerung urteilt weniger pauschal als die Massenmedien.» Auch die langen Diskussionen unter den Politikerinnen und Politikern ziehen spurlos vorbei; Begriffe wie «Kontrahierungszwang», «Monismus» et cetera verstehen die meisten Leute ohnehin nicht, viel zu kompliziert. Gemäss Meinungsforscher Longchamp hat das Volk grossmehrheitlich nur zwei Wünsche offen: «Qualität» und «Wahlfreiheit».
Aus Täfeli wird Bypass
Just dieses Streben nach Qualität und Wahlfreiheit gelingt. Als Patienten wollen wir das Beste, und wir kriegen immer öfter das Beste. Typisch etwa der Briefwechsel aus der Ringier-Zeitschrift Gesundheit Sprechstunde: «Ich leide unter Angina Pectoris. Soll ich bei Wanderungen vorbeugend Coramin-Täfeli lutschen?», lautete im vollen Wortlaut die Frage eines Lesers. «Nein, bei Angina-Pectoris-Beschwerden ist das nicht sinnvoll», antwortete Susanne Suter, Fachkrankenschwester für Herzinsuffizienz und Intensivpflege am Inselspital Bern, und empfahl nach einigen Ausführungen: «Zudem wäre es angebracht, Ihre Beschwerden mit einer Herzkatheter-Untersuchung abzuklären. Unter Umständen lassen sich die Verengungen mit einer Bal- londilatation wieder öffnen. Vielleicht rät Ihnen der Kardiologe sogar zu einer Bypassoperation.»
So schnell verwandeln sich einfache Fragen in neue Bedürfnisse. Am Ursprung kann ein diffuses Gefühl sein, das Angst auslöst. Eine Angina Pectoris äussert sich, wie die schnelle Abfrage bei Google zeigt, in «Schmerzen in der Herzgegend, meist hinter dem Brustbein, einem Engegefühl im Brustkorb und Atembeklemmungen. Die Beschwerden können auch ausstrahlen und als Magen-, Zahn- oder Armschmerzen missdeutet werden». Also lieber nichts missdeuten sondern intensiv nachforschen.
Resultat: Die Zahl der Herzkatheter-Untersuchungen hat sich innerhalb von 13 Jahren verachtfacht, wie eine Erhebung der Schweizerischen Gesellschaft für Kardiologie zeigt. Inzwischen werden jährlich 16500 Herzen mit dem Katheter untersucht. Ein Routineeingriff, aber technisch anspruchsvoll: Fachärzte stechen in der Leistengegend eine Hohlnadel in eine Beinschlagader. Über diesen Zugang schieben sie einen dünnen flexiblen Schlauch (Katheter) bis ins Herz vor, spritzen dort ein Kontrastmittel in die Blutbahn und röntgen dann das Herz. Der Eingriff ist im besten Fall zwanzig Minuten kurz, danach muss der Patient zwei Tage liegen bleiben. Kosten eines einzigen Eingriffs in der allgemeinen Abteilung: 3000 Franken bei einfachen Diagnosen, 4000 Franken bei komplexen Diagnosen.
«Als Fachleute gehen wir davon aus, dass die Versorgung der Bevölkerung besser ist, wenn mehr Koronarografien gemacht werden», verteidigt Professor Bernhard Meier, Leiter der Kardiologie am Universitätsspital Insel in Bern, die heutige Praxis. Als Laie staunt man, wie extrem ungleich diese Eingriffe im Schweizerland verteilt sind. Unter den Einwohnern des Kantons Tessin wird die Herzkatheter-Untersuchung (koronare Arteriografie) 41-mal so häufig angewendet wie unter den Einwohnern des Kantons Obwalden. Das zeigt eine Spezialauswertung der Medizinischen Statistik der Krankenhäuser, die das Bundesamt für Statistik auf Anfrage der Weltwoche erstellt hat.
Ein Herz, viele Seelen
Konkret: Am unteren Ende liegt Obwalden (0,12 Eingriffe je 1000 Einwohner im Kanton im Jahre 2003), gefolgt von Appenzell Innerrhoden (0,27) und St. Gallen (0,32). Im Mit- telfeld liegen die zwei Universitätskantone Bern (1,96 Eingriffe je 1000 Einwohner) und Zürich (2,74). Am häufigsten werden Herzkatheter-Untersuchungen in drei Kantonen durchgeführt, in denen auch die Krankenkassenprämien auffallend hoch sind: in Basel-Stadt (3,47 Eingriffe je 1000 Einwohner), in der Waadt (4,37) und im Tessin (4,92).
Die Differenzen sind derart krass, dass sie misstrauisch machen: Entweder herrscht in den einen Kantonen eine «Unterversorgung» (Eingriffe wären klar indiziert, werden aber nicht ausgeführt), oder dann kommt es in den andern Kantonen zur «Überversorgung» (Eingriffe werden durchgeführt, obschon diese nicht oder nicht streng indiziert sind). Professor Osmund Bertel, Chefkardiologe am Triemlispital in Zürich, gibt das zu: «Mit beiden Bereichen muss man kontinuierlich kämpfen, um die Qualität zu verbessern das ist ein offenes Geheimnis.»
«Die Medizin ist unersättlich»
Wir Patienten fürchten uns eher vor der «Unterversorgung» und freuen uns, wenn der inzwischen verstorbene deutsche Bäderkönig Eduard Zwick, manchmal auch «Steuerflüchtling» genannt, dem Kanton Tessin ein privates Cardiocentro in Lugano spendet. «Das Tessin hat heute die am besten ausgebauten Kapazitäten bezogen auf die Bevölkerungszahl», bestätigt der Berner Chefkardiologe Bernhard Meier. «Kantone wie Obwalden, Appenzell oder Thurgau bieten keine Koronarografien in öffentlichen Spitälern an. Es ist dort nur möglich, die Untersuchung kantonsfremd oder privat durchführen zu lassen. Dies hebt die Hemmschwelle.» Dass der Kanton Bern nur eine bescheidene Quote von Herzkatheter-Eingriffen aufweist, nimmt Professor Meier übrigens nicht als Lob, sondern als Kritik entgegen: «Es zeigt uns, dass wir weiterhin bei Bevölkerung und Grundversorgern aufklärend wirken müssen, um den Anschluss an die schweizerische Spitze nicht zu verpassen.»
So schafft sich das medizinische Angebot seine eigene Nachfrage, scharf kritisiert von der ökonomischen Lehrmeinung. «Ein Mediziner wird nach seinem Selbstverständnis alles medizinisch Mögliche unternehmen oder veranlassen, um einem Patienten zu helfen», sagt Professor Bernd Schips, Leiter der Konjunktur- forschungsstelle (KOF) an der ETH Zürich, und schlussfolgert: «Die Medizin ist strukturell unersättlich.»
Sind tatsächlich die Ärzte schuld, dass ständig aufwendigere Untersuchungen, ständig mehr Operationen veranlasst werden? «Ich denke, dies hat nicht nur mit der Aggressivität der Ärzteschaft zu tun, sondern auch mit den Forderungen der Patienten», antwortet der wohl berühmteste Herzchirurg der Schweiz, Thierry Carrel. Er beobachte dies gerade im Kanton Bern: «Der Bergbauer vom Oberland stellt sicher weniger Ansprüche als der Multimillionär aus Muri BE.» Osmund Bertel vom Zürcher Triemli verweist auf die «Anpreisung an die Konsumenten» durch die Medien, etwa auf die aktuelle Time-Titelgeschichte «Preventing a Heart Attack».
Der typische «Kunde», der sich via Herzkatheter untersuchen lassen will, ist männlich, stressgeplagt, Raucher, Sportmuffel; in seinem Hinterkopf steckt die Angst vor dem Infarkt.
Also ist ihm selbst eine invasive Untersuchung mit dem Herzkatheter willkommen nicht zuletzt deshalb, weil der Kardiologe sofortige Remedur verspricht: Stösst er mit dem Katheter auf ein verschlossenes Gefäss, kann er sogleich einen kleinen Ballon an der Spitze des Katheters aufblasen und so die Verstopfung zur Seite drängen. Im Fachjargon heisst dieser Eingriff Ballondilatation. In den meisten Fällen setzen die Ärzte anschliessend feine Drahtgeflechte soge- nannte Stents in die gerade eröffnete Arterie, damit sie sich nicht wieder verschliesst. All das erfolgt direkt bei einer Herzkatheter-Untersuchung bei nochmals höheren Kosten, versteht sich. Aber dem steht ein Nutzen gegenüber: Das Risiko eines Herzinfarkts sinkt.
Wo die Galle hochkommt
Um wie viel, darüber streiten sich die Gelehrten. «Sport statt Stents!», rät Spiegel-Autor Jörg Blech, der soeben ein Buch veröffentlicht hat unter dem Titel «Heillose Medizin». Darin schildert er einen Versuch des Herzzentrums der Uni Leipzig. Hundert Patienten seien in zwei Gruppen aufgeteilt worden. Die einen wurden mit Stents behandelt, den andern wurde etwas Sport verschrieben (jeden Tag zwanzig Minuten auf dem Ergometer strampeln). Bilanz nach einem Jahr: Von den Freizeitsportlern seien 88 Prozent ohne Beschwerden geblieben, von den Stents-Patienten 70 Prozent.
Dass etwas Sport gesund ist respektive gesund wäre, so viel wissen wir alle auch. Aber deswegen wollen nur die wenigsten von uns auf eine maximale medizinische Versorgung verzichten. «Würde sich der Kanton Tessin bezüglich Koronarografie dem Kanton Uri angleichen, könnte im Tessin wesentlich Geld gespart werden», gibt der Berner Kardiologe Bernhard Meier zu und fährt seelenruhig fort: «Die Betreuung des wichtigsten Krankheitsbildes der Tessiner Bevölkerung würde allerdings eine massive Qualitätseinbusse erleiden, was von der gut orientierten Bevölkerung nicht akzeptiert würde.»
Anders gesagt: Die grosse Mehrheit will nicht sparen. Das Angebot soll maximal, flächendeckend, zugänglich für alle sozialen Schichten sein. So argumentieren nicht nur Spitzenmediziner, das erfahren auch Politiker. Jene nämlich, die sparen und die «Überversorgung» abbauen wollen, indem sie mal hier und mal dort ein Spital schliessen. Zuletzt sind in sechs verschiedenen Kantonen sechs Sanitätsdirektoren abgewählt worden. Denn da macht die Mehrheit nicht mit. «Gesundheit», referiert der Zürcher Ökonom Peter Zweifel, «ist für uns ein Luxusgut. Wir werden immer älter, und wir möchten immer länger gesund bleiben. Dafür sind die Leute gewillt, mehr Geld auszugeben.»
Also schaukeln sich die Wünsche der Patienten und die Angebote der Mediziner gegenseitig immer höher. Ein weiteres Musterbeispiel: Gallenblasenoperationen. Spiegel-Autor Jörg Blech zitiert international namhafte Mediziner mit «Mannequinchirurgie». Seit rund zehn Jahren sei es Mode geworden, das zum Leben nicht notwendige Organ «prophylaktisch» zu entfernen, «etwa um Koliken auf Geschäftsreisen vorzubeugen». Der Durchbruch kam mit der neuen sogenannten Schlüsselloch-Chirurgie: Mit feinen, kleinen Schnitten wird eine Fernsehkamera in den Bauch eingeführt. Als «Pionierbetrieb» für solche laparoskopische Eingriffe lobt sich das Zürcher Stadtspital Waid, das «bezüglich der Anzahl operierter Fälle europaweit zur Spitzengruppe gehört». Kosten pro Eingriff: rund 5300 Franken.
Auf Anfrage der Weltwoche hat das Bundesamt für Statistik auch die Gallenblasenoperationen näher untersucht. Fazit: Es kommt ebenfalls zu gewaltigen regionalen Unterschieden, auch wenn diese nicht gar so deutlich ausfallen wie bei den Herzkatheter-Untersuchungen. In Appenzell Innerrhoden oder in Schaffhausen gibt es 0,67 respektive 0,73 Eingriffe pro 1000 Einwohner, im Tessin oder im Wallis sind es 2,08 Eingriffe, im Jura 2,16 Eingriffe pro 1000 Einwohner.
Kaufen Sie drei Brote!
Gelegentlich kommt Kritik auf. Albrecht Rychen, Präsident der Krankenkasse Visana, behauptet auf seiner Homepage: «Wir haben herausgefunden, dass Arztfamilien viel weniger operiert werden als die normale Durchschnittsbevölkerung. Das können wir statistisch belegen.» Kürzlich klagte auch der Luzerner Regierungsrat Markus Dürr, Präsident der kantonalen Gesundheitsdirektoren, in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger, «dass in den Spitälern viel Unnötiges gemacht wird», und bezeichnete Gallenoperationen als «Schnickschnack».
Landauf, landab verhallt die gleiche Forderung, seit Jahren schon: «Nicht alles, was in der Medizin machbar ist, muss man auch in jedem Fall tun und bezahlen», sagt Markus Dürr. «Wo es zu viele Ärzte und zu viele Betten gibt, wird mehr als notwendig aufgeschnitten», bestätigt der Briger Hotelier und alt Sanitätsdirektor Peter Bodenmann. Und Visana-Präsident Albrecht Rychen ergänzt: «Es gibt keinen freien Beruf, ausser dem Arzt, der die Nachfrage direkt steuern kann. Schliesslich kann der Bäcker seinen Kunden nicht einreden, dass er drei Brote braucht. Sein Kunde weiss, wann er genug Brote gekauft hat. Der Arzt hingegen kann seinen Patienten bitten, in 14 Tagen nochmals zu einem Besuch zu kommen.»
Während die Politiker über eine Beschränkung des Angebots reden (und nichts tun), informieren wir Patienten uns über die Möglichkeiten, dieses Angebot besser zu nutzen. Ob TV, Radio, Tageszeitung auf allen Kanälen treten Ratgeber auf. Im Internet kann sich jeder Laie zum Experten weiterbilden. Patienten sind keine ahnungslosen Wesen, die sich von den Ärzten alles aufschwatzen lassen, im Gegenteil. Wir sind informiert über unsere Rechte, aber auch über alle möglichen und unmöglichen Untersuchungen und Behandlungen, inklusive Gallenblasenoperation oder Herzkatheter-Untersuchungen. Diese Aufklärung wirkt nicht etwa kostensenkend sondern kostentreibend.
Gut für die Volkswirtschaft
Der Tessiner Professor Gianfranco Domenighetti, Gesundheitsökonom an der Uni Lausanne, hat zum ersten Mal in der Schweiz untersucht, «welche Leistungen die Patienten bei ihren Ärzten erbeten». Seine Studie, die 2002 erschienen ist, wird bis heute kaum zur Kenntnis genommen. Dabei zeigt sie:
– «In 34 Prozent der Konsultationen wurde von den Patienten mindestens ein zusätzlicher Wunsch nach Leistungen ausgesprochen.»
– «In 75 Prozent der Fälle wurden diese Forderungen vom behandelnden Arzt vollständig akzeptiert und in 19 Prozent der Fälle teilweise.»
Der Patient wünscht, und die «Leistungserbringer» vom Hausarzt zum Spezialisten, vom Apotheker zum Physiotherapeuten, vom Spitalverwalter zum Universitätsprofessor verdienen mit jeder zusätzlichen Leistung, die sie erbringen, kräftig mit. Die Rechnung wird dann nachträglich von den Prämienzahlern bezahlt. Und sie ist saftig: Domenighetti rechnet die zusätzlichen Wünsche der Patienten auf insgesamt 2,5 Milliarden Franken hoch (für das Jahr 2000); dies entspreche 17 Prozent der totalen Kosten, die von den Krankenkassen getragen werden.
Die volkswirtschaftlichen Konsequenzen sind positiv! In keiner andern Branche sind letzthin so viele neue Stellen geschaffen worden: 50000 neue waren es in den letzten zehn Jahren. Inzwischen arbeitet jeder zehnte Beschäftigte im Gesundheitswesen, insgesamt 460000 Personen, fast vier Fünftel davon Frauen. Auch die dazugehörige Industrie boomt, Roche und Novartis investieren weltweit, aber auch rund um Basel hat die Zahl der von der Pharmaindustrie beschäftigten Personen seit 1990 um 53 Prozent zugenommen auf heute 31 000 Arbeitsplätze; darunter 6000 Forscherinnen und Forscher. Und die vielen kleineren neuen Firmen für Medizinalgüter und Biotechnologie brillieren nicht nur an der Schweizer Börse, sie bieten auch interessante Jobs für Hochqualifizierte.
Es sei darum völlig falsch, wenn das Gesundheitswesen in der Schweiz «nur unter dem Kostenaspekt» betrachtet werde. Das sagt Jochen Hartwig, ein Ökonom der KOF an der ETH Zürich, die eine Studie über die Kostensteigerungen im Schweizer Gesundheitswesen vom US-Pharma-Konzern Merck «bewusst begleiten» liess, wie ein Merck-Vertreter im Vorwort anmerkt. Im Gegenzug legen die KOF-Ökonomen dar, dass Gesundheitsausgaben nicht nur Kosten darstellen, sondern vor allem Nutzen erbringen. «Wenn die Bürger aus eigenem Entschluss mehr für die Gesundheit ausgeben möchten, muss darin nicht zwangsläufig ein Problem gesehen werden», meint Jochen Hartwig. In letzter Zeit sind die Gesundheitsausgaben zwar um fast sechs Prozent jährlich gestiegen, aber auch die Ausgaben für den Auslandtourismus sind um mehr als vier Prozent jährlich gesteigert worden freiwillig, «ohne dass dies je beklagt worden wäre», und obschon bei Auslandreisen überhaupt keine Wertschöpfung im Inland entstehe, sagt Jochen Hartwig.
Müssen wir gar umdenken? Und die «explodierenden Kosten» beklatschen? In dieses Lob steigender Gesundheitsausgaben würde der Basler Ökonomieprofessor Jürg H. Sommer gern einstimmen allerdings nur unter einer Voraussetzung: «Wenn jede Person die Leistungen selber bestellen und auch selber bezahlen würde, dann dürften wir uns tatsächlich über eine Wachstumsbranche freuen.» Doch sogleich fügt Sommer alle bekannten Argumente aus den Büros der Ökonomen an: Der «Gesundheitsmarkt» sei eben kein Markt, sondern weitgehend vom Staat reguliert. Das führe zu dem Problem, dass die Leute nicht selbst bezahlen müssen, was sie konsumieren. Man begleiche die Prämie, dann bediene man sich frei aus dem Angebot, egal was es koste. Den Rest zahlt der Staat respektive die anonyme Gemeinschaft. «Wir Ökonomen vermuten, dass die Leute ihren Konsum sofort zurückfahren würden, wenn sie ihn selber bezahlen müssten, und zwar ohne dass sich dies auf ihren Gesundheitszustand negativ auswirken würde», schreibt Sommer in der Basler Zeitung und spricht von einer «grotesken Überversorgung».
Nur: Wer hat schon einen Patienten getroffen, der sich «überversorgt» fühlt? Patienten haben Ansprüche steigende Ansprüche. Sehr schön zeigt sich das in der «Kaiserschnitt»-Frage. Im Schweizer Durchschnitt werden 29 Prozent aller Babys mit einem Kaiserschnitt zur Welt gebracht, meldete das Bundesamt für Statistik vor ein paar Wochen. Das sei europaweit einer der höchsten Werte überhaupt. Stutzig machen auch hier die regionalen Unterschiede: In Binningen, einem Vorort von Basel, beträgt die Quote 50 Prozent. An der Zürcher Goldküste, in Zollikerberg, Herrliberg, Küsnacht, sind es 40 Prozent. Viel tiefer liegt die Quote in der abgelegenen Surselva oder dem Puschlav: Dort fällt sie unter zehn Prozent. Bei den Kantonen liegt überraschend Uri an der Spitze mit 38 Prozent, gefolgt von den eher wohlhabenden Baselland und Zug mit 37 respektive 35 Prozent. Das untere Extrem bildet Graubünden mit 21 Prozent. Vor allem sticht ins Auge: In öffentlichen Spitälern beträgt die Quote 26, in privaten 40 Prozent.
Der Lifestyle-Schnitt
Der Schmerz ist, anders als bei manchen natürlichen Geburten, nicht unendlich gross. Der Kaiserschnitt lässt sich fix in die Agenda eintragen. Ein Produkt des Lifestyles, das gewisse Spezialärzte fast marktschreierisch feilbieten. Der Zürcher Gynäkologe Dr. med. Michael Singer etwa verbreitet via Internet: «Die beste Geburt ist die natürliche Geburt ohne Dammschnitt, ohne Zange/Saugglocke und ohne Komplikationen. Die zweitbeste Geburt ist der geplante Kaiserschnitt mit 38 bis 381/2 Wochen. Die zweitbeste Variante kann Ihnen der Arzt praktisch garantieren, während die beste Variante von einigen Launen der Natur abhängt, die wir nicht steuern können. Die Schwangere muss sich also zwischen der natürlichen Ungewissheit und der planbaren Gewissheit entscheiden.»
Das Resultat ist immer öfter ein «Wunsch-Kaiserschnitt», auch wenn es dafür aus medizinischer Sicht keinen Anlass gibt. «Die beste Geburt ist und bleibt die natürliche Geburt, und sie läuft in der Mehrzahl der Fälle bei medizinisch korrekter Betreuung auch ohne jegliche Komplikationen ab», stellt Professor Daniel Surbek klar, Chefarzt der Universitäts-Frauenklinik des Inselspitals Bern. Selbst ein Dammschnitt, Dammriss oder eine Saugglockengeburt bringe noch keine unmittelbare Gefahr weder dem Kind noch der Mutter. Dass schwerere Komplikationen entstehen können, sei klar, rechtfertige jedoch keinen «prophylaktischen» Kaiserschnitt; denn auch dort sind schwerere Kompli- kationen nicht ausgeschlossen.
Der Spitzenmediziner Surbek geht sogar einen Schritt weiter und fordert, dass die natürliche Geburt im Verhältnis zum geplanten Kaiserschnitt «finanziell besser honoriert» werden müsste, um der «teils aufwendigen Betreuung der normalen Geburt gerecht zu werden». Damit gibt er indirekt zu: Die Tatsache, dass ein Kaiserschnitt doppelt so viel kostet wie eine natürliche Geburt, fördert nicht etwa die billigere Lösung sondern die teurere. Denn die Privatärzte verdienen mit jedem kaiserlichen Schnitt zusätzliches Geld, und selbst die öffentlichen Spitäler generieren zusätzliche Einnahmen.
Abstimmung per Franchise
Den Patienten wiederum sind solche Überlegungen völlig egal. Auch ein «Wunschkaiserschnitt» wird ja ärztlich abgesegnet und damit vollständig von der Krankenkasse bezahlt, inklusive der zusätzlichen drei Tage, die eine mit Kaiserschnitt entbundene Frau im Schnitt länger im Spital bleibt.Damit steht die Frage im Raum: Wie würden Patienten entscheiden, welche die zusätzlichen Kosten selber tragen müssten? Auf den ersten Blick scheint es, als ob sich immer mehr Schweizerinnen und Schweizer dieser Frage aussetzen wollten. Freiwillig erhöhen sie bei ihrer Krankenkasse die Franchise. Das bringt den Versicherten etwas: Sie senken ihre Prämie. Und das bringt den Krankenkassen etwas: Sie senken ihre Kosten. Denn wer bereit ist, im Jahr die maximale Franchise von 2500 Franken selber zu bezahlen, hat im Schnitt «sechsmal tiefere Kosten als Leute mit der Normalfranchise von 300 Franken», sagt Konstantin Beck, Versicherungsmathematiker bei der Krankenkasse CSS. Ärzte bestätigen: «Leute mit hoher Franchise erkundigen sich nach den Kosten oder fragen sogar, ob dies oder das wirklich nötig sei.»
Doch grosse Summen werden kaum gespart. Heute beansprucht ein Viertel aller Krankenversicherten null Franken im Jahr. Der nächste Viertel der Versicherten kostet weniger als 500 Franken in einem ganzen Jahr; die Hälfte der Versicherten können gar nichts einsparen, da sie auch kaum etwas verlangen. Auch der dritte Viertel ist aus Sicht einer Krankenkasse gerade noch knapp ein Geschäft. Dann ändern sich die Vorzeichen allmählich, aber richtig dramatisch wird es erst am Ende, bei den letzten paar wenigen Fällen. «Die Dichtefunktion hat extrem viel Masse am Schwanz», sagt der Versicherungsmathematiker Konstantin Beck in seiner Fachsprache. Die teuersten 10 Prozent der Fälle verursachen 60 Prozent der gesamten Kosten, das teuerste Prozent sogar 25 Prozent.
Wie extrem ungleich das Risiko verteilt ist, das wissen nicht nur die Mathematiker, das ahnen wir alle. Ist eine Person gesund, bleibt sie meistens gesund, zumindest eine gewisse Zeit lang. Also schliesst diese Person eine erhöhte Franchise ab wie bereits mehr als die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer. Damit verabschieden sich die Gesunden teilweise aus der Solidarität, aber nur teilweise. Denn auch die Gesunden mit erhöhter Franchise wissen: Im Notfall können sie zurück. Wird jemand krank, kann er oder sie auf den 1. Januar des nächsten Jahres wieder ins Standardmodell mit einer Franchise von lediglich 300 Franken. Dann ist die Höhe der anfallenden Kosten wieder egal.
Just an diesem Punkt könnte eine echte, marktwirtschaftliche Reform ansetzen. Um die systematisch falschen Anreize im heutigen Gesundheitswesen zu beseitigen, müsste man nur ein kleines Detail ändern: nämlich die gängigen minimalen Franchisen erhöhen, aber spürbar. Werden sie von heute 300 Franken auf 2500 oder gar 5000 Franken heraufgesetzt, ändern sich alle Vorzeichen: Dann zahlen die allermeisten Patienten alle Rechnungen selbst; nur die wirklich Kranken würden von der Allgemeinheit finanziert nämlich jene, die im Jahr mehr als 2500 oder 5000 Franken Gesundheitskosten verursachen. Gleichzeitig würden die Prämien der Krankenkasse etwas sinken.
Andererseits müssten die einzelnen Haushalte neu budgetieren. Im schlimmsten Fall zahlen sie dann eben 2500 oder 5000 Franken pro Person selber, Jahr für Jahr. Das klingt hart, wäre aber keine Zwei-Klassen-Medizin. Gerade die teuersten Eingriffe im Spital blieben weiterhin «sozialisiert», nur die alltägliche Medizin beim Hausarzt und die billigen Operationen wären «privatisiert». Selbstverständlich könnten die untersten Einkommensschichten gezielt subventioniert werden damit auch diese sich die neuen, hohen Franchisen leisten könnten.
So sieht ein echtes soziales Marktmodell aus. Nur hat in der ganzen Schweiz kein einziger bürgerlicher Politiker den Mut, dieses zu propagieren: weil es, wie gesagt, etwas brutal klingt.
Geht es um unsere Gesundheit, wollen wir lieber nicht hart zueinander sein, sondern schön solidarisch. Denn wir alle wissen: Der Extremfall kann auch uns treffen. Entdecken wir einen wachsenden Fleck auf der Haut, gehen wir hoffentlich zum Arzt und checken auf Hautkrebs. Alles andere ist lebensgefährlich. «Sparen? Nein danke», antwortet die grosse Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer in allen Befragungen, die bisher durchgeführt wurden. Und damit auch wirklich alle sozialen Schichten von der jetzigen Vollkasko-Versicherung erfasst bleiben, erhalten bereits 33 Prozent der Leute und 41 Prozent der Haushalte eine Prämien- verbilligung vom Staat.
Weil wir es uns wert sind
Ein Team um den Zürcher Ökonomieprofessor Peter Zweifel hat im Herbst 2003 «mittels Marktexperimenten erstmals untersucht, mit welchem Nutzenverlust verschiedene Änderungen des Leistungskatalogs der obligatorischen Krankenversicherung verbunden wären». Die Studie, die unter dem sinnigen Titel «Was leistet unser Gesundheitswesen?» letztes Jahr im Rüegger-Verlag erschienen ist, wurde in den Medien kaum wahrgenommen. Dabei zeigt sie, was kein Politiker offen zu sagen wagt: Wir zahlen immer höhere Prämien, weil uns diese höheren Prämien etwas wert sind. Konkret:
– Auf die freie Wahl sogar der teuersten Ärzte wollen wir zuletzt verzichten. «Eine Selektion der Ärzte nach Kostenkriterien ist mit einem sehr grossen Nutzenverlust von rund hundert Franken pro Person und Monat verbunden.»
– Auf «neue Methoden und neue Medikamente» wollen wir ebenfalls nicht verzichten: Hier würde umgerechnet ein Nutzenverlust von 65 Franken pro Person und Monat anfallen.
– Auf «kleine, lokale Spitäler» wollen wir lieber auch nicht verzichten: Dies ginge mit einem Nutzenverlust von 40 Franken pro Person und Monat einher.
– Auf Originalmedikamente würden wir noch am ehesten verzichten, sofern tatsächlich Generika in gleicher Qualität vorhanden sind: Hier beträgt der Nutzenverlust nur noch fünf Franken pro Person und Monat.
Alles spricht dafür, dass alles so weitergeht wie bisher und die Prämien weiter steigen. Können sich die Wünsche der Patienten und die Angebote der Mediziner gar bis ins Unendliche hochschaukeln? Sicher nicht. Kein Baum wächst in den Himmel. Auch die Ausgaben im Gesundheitswesen werden irgendwann eine obere Schmerzgrenze erreichen. Zurzeit geben wir elf Prozent des Bruttoinlandprodukts für die Gesundheit aus; müsste das Volk über diesen Anteil abstimmen, es würde wohl «Ja» sagen. Dieser Anteil kann noch steigen, sich vielleicht verdoppeln, aber kaum verdreifachen. Sonst gäbe es in der Schweiz nur noch Krankenschwestern, Physiotherapeuten, Psychologinnen, Chirurgen, Apothekerinnen, Biochemiker und Kran- kenkassenverwalter.
Es naht der Punkt, da sich die Medizin in eine «Übermedizin» verwandelt, die Krankheiten behandelt, «welche keine sind», wie der Basler Psychiater Thomas Weber bereits vor zwei Jahren in der Weltwoche mutmasste. «Unsere Vorfahren bauten Kathedralen, wir bauen Kliniken», scherzt der deutsche Psychiater Manfred Lütz. «Wir haben eine neue Religion: die Gesundheitsreligion.» Peter Zweifel, Ökonom an der Universität Zürich, Mitverfasser des einschlägigen Lehrbuchs «Gesundheitsökonomie», macht den berühmten Sisyphus-Vergleich: «Die Erfolge der modernen Medizin erinnern an den Helden der griechischen Sagenwelt, der dazu verdammt war, einen Felsbrocken den Berg hinaufzurollen, wobei ihm der Brocken kurz vor Erreichen des Gipfels jedes Mal entglitt.»
Vor allem in den Städten wird heute sehr viel untersucht, sehr viel therapiert, sehr viel operiert. Folglich liegen auch die Krankenkassenprämien in Basel-Stadt doppelt so hoch wie in Appenzell Innerrhoden, in Genf doppelt so hoch wie in Nidwalden oder Uri. Und was wird mit dieser teuren Spitzenmedizin letztlich erreicht? Bei der durchschnittlichen Lebenserwartung schwingen Uri und Nidwalden obenaus, wo Männer im Schnitt mehr als drei Jahre älter werden als in Basel-Stadt und das, obschon die Bewohner der bergigen Zentralschweiz ihre Herzen erst selten mit dem Katheter untersuchen und auch ihre Gallenblasen weniger oft entfernen lassen.
Ein anderes Leiden jedoch trifft die Bergler besonders: Schmerzen am Meniskus. Am meisten Knie arthroskopiert werden in Glarus (8,6 Operationen je 1000 Einwohner), gefolgt von Schwyz (6,7). Am tiefsten ist diese Quote in den eher flachen, eher ländlichen Kantonen Thurgau und Schaffhausen (1,2 respektive 1,7 Eingriffe pro 1000 Einwohner). Muss man angesichts solcher Differenzen gar von einer «Überversorgung» der Urschweiz sprechen? Spiegel-Autor Jörg Blech jedenfalls meint, dass Knie-Arthroskopien etwa so viel bewirken wie eine Scheinoperation (Placebo-Effekt). Wenigstens ist dieser Eingriff nicht allzu teuer: Er kostet selbst in der Schweiz lediglich 1000 Franken pro Operation.
Literatur:
Jörg Blech: Heillose Medizin. Fragwürdige Therapien
und wie Sie sich davor schützen können. Fischer, 2005. 239 S., Fr. 31.70
Harry Telser: Was leistet unser Gesundheitswesen?
Südostschweizer Presse, 2004. 128 S., Fr. 36.
Peter Zweifel, Friedrich Breyer, Mathias Kifmann: Gesundheitsökonomie.
Springer Distribution Center, 2003. 558 S., Fr. 59.50
Das ist zweifellos eine der besten Analysen unseres Gesundheitswesens. Kompliment. Aber die vorgeschlagene Therapie zur Senkung der Kosten mittels einer massiv erhöhten Minimalfranchise was dem Umbau der obligatorischen Krankenversicherung in eine «Grossrisikoversicherung» gleichkäme würde den sozialen Ausgleich erst recht strapazieren. Mit diesem System würden die Leute zwar um dreissig bis vierzig Prozent tiefere Prämien zahlen, mancher könnte es sich aber nicht mehr leisten, krank zu sein. Damit drohen auf der einen Seite erstens medizinische Unterversorgung bei im Frühstadium zu erkennenden potenziell heilbaren Krankheiten und zweitens die Schuldenfalle. Auf der anderen Seite müsste die soziale Abfederung wiederum durch staatliche Institutionen geleistet werden, aber erst im Krankheitsfall, was den demütigen Gang zum Fürsorgestaat mit all seinen Peinlichkeiten und administrativen Schikanen bedeuten würde. Das bärge sozialen Sprengstoff erster Klasse.
Felix Tapernoux, Wald
Ich stimme Ihrem Artikel zu. Die beiden Bilder dazu aber haben mich als Pflegefachmann geärgert. Denn: Trotz des Booms des Gesundheitswesens spüren wir als Pflegende den Spardruck. Die Erwartungen der Patienten nehmen zu. Die Menschen werden älter, die Fälle komplexer. Die Anforderungen an uns steigen. Immer wieder müssen wir belegen, warum wir fähig sind, bei Patienten rechtzeitig Komplikationen zu erkennen und so Geld zu sparen. Dementsprechend hat sich unser Berufsbild verändert. Unsere Berufsbezeichnung lautet Pflegefachmann und Pflegefachfrau. Es geht mir nicht nur um eine Berufsbezeichnung, sondern um das Bild von unserem Beruf. Vizemiss Melanie Meier ist eine sehr schöne Frau. Es ist aber schade, wie sie ihren Berufsstand mit dieser veralteten und klischeebehafteten Darstellung verkauft. Falls die Bildwahl ironisch gemeint ist, sorry, aber der Bezug zum Text ist für mich nicht ersichtlich.
Tobias Herger, Luzern
Die Geschichte von Dr. Luder aus Interlaken zu Beginn der Story ist zwar sehr nett, weist aber einen entscheidenden Fehler auf: Die erwähnte ältere Dame wird für ihr selbstgekauftes rezeptfreies Schmerzmittel in keiner Apotheke der Schweiz Apotheker- oder Patientenpauschalen bezahlen müssen, auch wenn sie es mit einem Rezept über ihre Krankenkasse abrechnet. Die Pauschalen werden nur für rezeptpflichtige Medikamente erhoben. Diese Regelung belohnt all jene Patienten, die banale Erkrankungen wie zum Beispiel einen Schnupfen mit rezeptfreien Medikamenten aus der Apotheke selbst behandeln, ohne deswegen gleich zum Arzt zu rennen. Ich kann Dr. Luder also beruhigen nicht dass er sich unnötigerweise wegen der Apothekerpauschale noch einer Koronarografie unterziehen muss.
Alain Rueff, Zürich
Der Leser hat Recht. Auf ein Medikament, das nicht rezeptpflichtig ist, darf der Apotheker keine Pauschalen erheben. Bei allen rezeptpflichtigen Medikamenten hingegen stimmt der Sachverhalt: Hier wird das Medikament durch eine Patientenpauschale von Fr. 9.20 und eine Apothekerpauschale von Fr. 4.30 verteuert. Wir bedauern diese Unstimmigkeit.
Die RedaktionAuf ein Medikament, das nicht rezeptpflichtig ist, darf der Apotheker keine Pauschalen erheben. Bei allen rezeptpflichtigen Medikamenten hingegen stimmt der Sachverhalt: Hier wird das Medikament durch eine Patientenpauschale von Fr. 9.20 und eine Apothekerpauschale von Fr. 4.30 verteuert. Wir bedauern diese Unstimmigkeit.