Studieren geht über Probieren 20.10.2005, Weltwoche

Studieren geht über Probieren
Nahezu jeder dritte Studienanfänger endet auch als Anfänger. Das Scheitern kostet über 100 Millionen Franken. 20.10.2005, Weltwoche
Die Universität St.Gallen wird im Ausland gerne als Eliteuniversität für angehende Manager wahrgenommen. Auf Platz eins in Europa liege sie, schreibt die deutsche Wirtschaftswoche, ex aequo mit der London Business School und der London School of Economics. Das ist kein Wunder. Denn die St.Galler tun etwas, was die besten Universitäten im angelsächsischen Raum vormachen: Sie wählen ihre Studenten aus ­ und akzeptieren nur die besten. Diese harte Selektion wendet die Universität St.Gallen allerdings nur auf die Kandidatinnen und Kandidaten aus dem Ausland an. Gut 1000 melden sich. 500 bis 600 erscheinen zur Prüfung, die einen Tag lang dauert. Am Ende bleiben höchstens 150 übrig, die das erste Semester antreten dürfen. Warum ist die im Ausland so angesehene Uni St.Gallen so streng mit den Ausländern? Weil die Lokalpolitiker vor Ort eine maximale Ausländerquote von 25 Prozent festgesetzt haben. «Wir würden sonst überschwemmt», meint Eva Nietlispach von der Kommunikationsstelle der Hochschule.Anders verfährt die Uni St.Gallen mit den Kandidaturen aus der Schweiz und aus Liechtenstein. Alle, die eine Matur vorweisen, werden zugelassen ­ wie das hierzulande gesetzlich vorgeschrieben ist. Die Folgen zeigen sich ein Jahr danach: Dann nämlich findet die Selektion trotzdem statt. «Assessment», so wird das erste Studienjahr nach der Bologna-Reform neu genannt, und das Wort «Assessment» trifft. Während zweier voller Semester kommt es zu einem «umfangreichen Prüfen auf Eignung und Neigung», so der O-Ton im Jahresbericht der Universität St. Gallen. Resultat: Eine(r) von drei Studierenden fällt raus. Davon sind nicht alle gleich betroffen. Die Ausländerinnen und Ausländer schneiden viel besser ab. Sie wurden ja «vorgesiebt», von ihnen sind ­ hoffentlich ­ nur «die Besten» da. Der Rektor der Universität St.Gallen, Ernst Mohr, will keine Zahlen nennen, aber «der Augenschein» bestätige: «Schweizer haben eine klar höhere Durchfallquote. Die Ausländer landen überdurchschnittlich oft in der Gruppe der überdurchschnittlich Guten.»St.Gallen ist kein Einzelfall, die eidgenössische Matur ist nirgendwo in der Schweiz ein Freibillett. Generell beträgt die Durchfallquote an den Universitäten knapp 30 Prozent, an Fachhochschulen 23 Prozent. Derart hohe «Drop-out-Quoten», wie sie im Jargon heissen, sind ärgerlich für alle: Studenten wie Universitäten verlieren Zeit, Geld, Energie. «Eine volkswirtschaftliche Verschwendung», meint Ernst Buschor, der ehemalige Bildungsdirektor des Kantons Zürich und heutige Vizepräsident des ETH-Rats. Als Ökonom macht Buschor folgende Rechnung: Gegenwärtig beginnen jedes Jahr gut 20000 Studierende neu. Das führe zu gut 6000 Drop-outs, von denen sich vorsichtig geschätzt 2000 bis 3000 vermeiden liessen. Das koste: die Ausbildung mindestens 15000 Franken pro Student, das ergibt 30 bis 45 Millionen Franken im Jahr. Die Lebenshaltung erreiche mindestens die gleich hohe Summe. Hinzu komme, dass die betroffenen Studierenden dereinst mindestens ein Jahr «zu spät» ins Erwerbsleben eintreten würden. «Insgesamt liegen die volkswirtschaftlichen Kosten massiv über 100 Millionen Franken», so Buschor, «also deutlich höher als die jährlichen Einnahmen aus sämtlichen Studiengebühren aller Universitäten.» Daraus schlussfolgert Buschor: «Wir müssen unbedingt versuchen, die hohen Drop-out-Quoten zu reduzieren.»

ETH auf Platz 27

In St.Gallen gelingt das wenigstens mit den Studierenden aus dem Ausland. Die Deutschschweizer Universitäten demonstrieren mit ihrem Numerus clausus im Fach Medizin, dass Zulassungsprüfungen auch für Schweizer Kandidaten ein probates Mittel wären: «Der Studienerfolg und die Studiendauer lassen sich nahezu perfekt voraussagen», meint der für diese Tests verantwortliche Professor Klaus-Dieter Hänsgen von der Uni Freiburg. «Je höher die Note bei der Zulassungsprüfung, umso besser und schneller schliessen diese Kandidaten später ihr Studium ab.» Ein weiterer Beleg: 1999 sind 63 Personen, obschon sie durch die Prüfung gefallen waren, zum Medizinstudium zugelassen worden, da noch 63 Plätze frei waren. Von diesen 63 fielen weit über die Hälfte schon bei der ersten Vorprüfung nach einem Jahr raus, die andern nach der zweiten Vorprüfung; nur gerade zwei von 63 haben «überlebt».

Das ist der Zweck von Zulassungsprüfungen: Dank ihnen soll die Drop-out-Quote sinken, und zwar deutlich. Die Elite-Universitäten in den USA seien mit ihren Studierenden «weiss Gott nicht zimperlich», meint Ernst Buschor, doch wer dort einmal aufgenommen werde, komme mit einer Wahrscheinlichkeit von mehr als 90 Prozent bis zum Abschluss.

«Wir wollen weltweit unter die Top Ten der Hochschulen», erklärt Alexander Zehnder, Präsident des ETH-Rats. Zurzeit rangiert die ETH Zürich auf dem 27. Platz der renommiertesten Universitäten weltweit. Um weiter nach vorn zu kommen, möchte auch die ETH ihre Studierenden vor dem ersten Semester aussieben. «Die Studenten scheitern bei uns nicht an mangelnder Intelligenz», sagt Ernst Buschor, «sondern weil sie schlecht motiviert sind.» Gerade die Motivation aber lasse sich austesten. Wie das gemacht wird, zeigen neben britischen und amerikanischen Instituten auch auserwählte Fachhochschulen in der Schweiz. In den begehrten Bereichen Kunst, Musik, Theater, soziale Arbeit sowie angewandte Linguistik und angewandte Psychologie geht es ähnlich zu und her wie am MIT in Boston, Massachusetts: Es gibt knallharte Zulassungstests. An der Hochschule Musik und Theater Zürich wird im Bereich Theater gerade eine Person aus fünfzehn bis zwanzig Kandidatinnen und Kandidaten zugelassen. Im Bereich Musik kommt es zunächst zu umfangreichen Vorabklärungen. Von fünf Kandidaten, die schliesslich zur Prüfung vorgeladen werden, schafft es eine(r) an die Schule. «Wir schauen nicht nur auf das fachliche Können», erklärt Ursula Akmann, «sondern auch auf das künstlerische Potenzial und das nötige Herzblut.» Die Drop-out-Quote danach ist minimal: geringer als fünf Prozent.

Erst Matura, dann Genie

Warum darf eine Kunstschule, was die ETH nicht darf? «Weil jedem einleuchtet, dass die Gesellschaft nicht unendlich viele Künstler ausbilden kann», so Ursula Akmann. Genau das finden eigentlich auch die ETH-Räte Zehnder und Buschor: Nur dürfen sie aus juristischen Gründen keine Zulassungsprüfungen erzwingen. Also versuchen sie es neu auf die sanfte Tour. Statt einer «Prüfung», die für alle obligatorisch wäre, gibt es eine «Beratung», bald für alle freiwillig. Im Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik läuft neu das Pilotprojekt Acap (Academic and Career Advisory Program), finanziert vom Unternehmer Branco Weiss. Interessierte werden von Dozenten und älteren Semestern zu Workshops eingeladen, damit «die Erwartungen auf die Realität abgestimmt werden».

Ähnliches mutet die Universität St.Gallen ihren Einsteigern aus der Schweiz zu: Für sie gibt es Infotage, an denen «sich die potenziellen Studierenden sehr genau überlegen, ob sie zu St.Gallen passen» (O-Ton Jahresbericht). Gleichzeitig dürfen die Möchtegern-Studenten online austesten, wie gern sie tatsächlich in St.Gallen studieren möchten ­ freiwillig und anonym.

Übrigens kennt auch die ETH Zürich heute schon strenge Zulassungsprüfungen; aber die gelten, anders als in St.Gallen, nur für jene Ausländerinnen und Ausländer, die nicht aus einem der vier Nachbarländer stammen. Dazu antreten dürfen auch alle Schweizerinnen und Schweizer, die keine Matur haben, so will es eine bewährte Praxis. 1895 etwa versuchte sich ein Sechzehnjähriger, der als «Wunderkind» angekündigt wurde. «Die Prüfung zeigte mir schmerzlich die Lückenhaftigkeit meiner Vorbildung», schrieb Albert Einstein sechzig Jahre später. «Dass ich durchfiel, empfand ich als voll berechtigt.» Der junge Einstein ging darauf an die Kantonsschule Aarau und holte dort die Matur nach.

Übersicht