Jedes Jahr wachsen 4800 Hektar Wald nach Entziffert 02.11.2005, Bilanz

Jedes Jahr wachsen 4800 Hektar Wald nach
Entziffert 02.11.2005, Bilanz
Vor allem Leute, die in Städten wohnen, fürchten sich nicht vor dem Dschungel. «Warum nicht einige Täler verwildern lassen?», fragt René L. Frey, emeritierter Professor für Regionalökonomie der Uni Basel. «Ich jedenfalls träume von unberührten Landschaften. Mensch raus, Wolf rein.» Vor allem in den überbauten Agglomerationen rund um die Kernstädte entstehe «eine Nachfrage nach mehr Wildnis», bestätigt Nicole Bauer von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Und der weltberühmte Architekt Marcel Meili aus Zürich ergänzt: «Es gibt für die Schweiz als Ganzes keinen Grund, noch das letzte Alpental wirtschaftlich weiter produktiv zu halten.»Jede Sekunde nimmt sich der Wald 1,5 Quadratmeter. Jeden Tag fünf Fussballfelder. Jedes Jahr die Fläche des Thunersees. Dieser neue Wald wächst von allein, ganz ohne Förster. Über 80 Prozent entstünden durch «natürliche Ansamung», heisst es im Waldbericht 2005 des Bundesamts für Umwelt. «Das ist Europarekord.»Auch die bestehenden Wälder werden immer wilder und damit dichter, dunkler, feuchter, kühler. Vor allem Bergwälder werden kaum mehr bewirtschaftet. Deswegen verschwinden einige Pflanzen- und Tierarten, aber nur vorübergehend. Entscheidend ist, dass die absterbenden Bäume liegen bleiben. Totholz ist die Lebensgrundlage für ein Fünftel aller Waldlebewesen: Käfer, Pilze, Flechten. Und selbst wenn nie ein Förster vorbeischaut, so erneuert sich der Wald trotzdem. Gelegentlich brennt ein Feuer, oder es kommt ein Sturm und lichtet das Gehölz – damit alles wieder von vorn beginnen kann.

Das Wunder des wild nachwachsenden Schweizer Waldes gelingt, weil die Landwirtschaftspolitik misslingt. Schweizer Bauern erhalten zwar die mit Abstand höchsten Subventionen der Welt; aber sie ziehen sich trotzdem zurück, vor allem aus bergigen oder hügeligen Lagen. Mal heuen sie eine Matte nicht mehr, mal beweiden sie eine Wiese nicht mehr. Überall dort spriesst bald kein Gras mehr, dafür wachsen Büsche, Sträucher, Bäume. Die Schweiz ist kein Grasland. Hätten sich nie Menschen angesiedelt, wäre das Land unterhalb der Baumgrenze ein einziger Urwald. Nun holt sich die Natur einige Gebiete zurück und verwandelt diese in ihren Urzustand zurück.

Keine Angst: Dieser Prozess läuft gemächlich. Eine jährliche Zunahme um die Fläche des Thunersees tönt spektakulär; gemessen an der heutigen Gesamtfläche, wächst der Wald bloss um 0,4 Prozent. Zudem findet die Verwaldung nicht im ganzen Land statt: Die Bauern geben ihre Arbeit nur in den hügeligen Lagen auf, die Ortschaften werden lediglich in den hintersten Tälern verlassen – freiwillig, indem die Bevölkerung in die Städte und die Agglomerationen zieht. Das geschehe «so oder so, ob wir das nun bedauern oder nicht», meint Meili, der zusammen mit Herzog, de Meuron und Diener ein dickes Buch veröffentlicht unter dem Titel «Die Schweiz – ein städtebauliches Porträt».

Nicht alle Leute freuen sich über die neue Wildnis. Sie finden, unsere Landschaft müsse ewig so aussehen wie heute, mit Wiesen und Kühen. So ähnlich reagiert sogar Moritz Leuenberger: «Wir wollen einfach verhindern, dass ganze Bergtäler verwalden», versprach er neulich im Ständerat. Daran glaubt der Bundesrat wohl selber nicht. Wer die Vergandung mit politischen Mitteln stoppen will, müsste sehr hohe finanzielle Mittel aufwenden. Wald hingegen wächst gratis – von Gott gewollt.

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