Auf dem Höhepunkt der Messe im Kommuniongang gibt Hochstrasser dem unverhofften Kirchgänger mehr als das gesegnete Brot. Er wünscht ihm «viel Glück für den Cupfinal». Hitzfeld, leicht irritiert, dankt, schreitet zurück in die Kirchenbank. Direkt nach dem Gottesdienst reagiert er: «Herr Pfarrer, so habe ich noch nie einen Geistlichen über Maria predigen gehört.»
Der Vollprofi Hitzfeld hat keine Ahnung, dass er es mit einem «Laien» zu tun hat. Warum auch? Hochstrasser trägt eine Stola. Und er traute schon gleichgeschlechtliche Paare auf der grünen Wiese, taufte Kinder an einer Quelle im Wald und beschützte mit der Schweizer Garde den Papst im Vatikan.
Tags darauf, am Pfingstmontag 1985, geht sein Glückwunsch in Erfüllung. Der kleine FC Aarau gewinnt den Schweizer Cupfinal mit 1:0.
Stammspieler statt Ersatz
Nach dem Spiel offeriert Hitzfeld ein Nachtessen. Der Pfarrer und der Trainer an einem Tisch, beide mit Passion für das Fach des andern. Der Fussballer interessiert sich für Theologie, der Theologe für Fussball. Seither nennt ihn Ottmar nur noch «Sepp».
Wochen später erscheint ein nächster unverhoffter Gast in der Kirche von Ober-entfelden. Steif sitzt er in der zweitvordersten Kirchenbank, die Hände verschränkt, nach dem Gottesdienst verschwindet er. Dieser Mann war kaum zum Feiern da, ahnt Hochstrasser. Es ist der «Spitzel», der ihn beim Bischof verraten wird.
Denn Priester Hochstrasser ist verheiratet, heute seit 35, damals seit 9 Jahren. Zum «Laienpriester» degradiert, hätte er keine Stola mehr tragen, keine Sakramente mehr spenden, zur Kommunion kein Brot mehr brechen dürfen. Doch in Oberentfelden wird das alles nicht eingehalten.
Warum nicht? Weil der amtierende Priester Hans Kunz sich nicht als «Chefpriester» aufspielen will. Im Gegenteil, er will kürzer treten. Da kommt Hochstrasser gerade richtig: «Du bist doch ein geweihter Priester.» Noch so gern springt dieser ein. Nicht als «Ersatz», gleich als «Stammspieler», wie Fussballer sagen würden, Die beiden teilen sich den Job. Ein Sonntag ist der Offizielle dran, am nächsten Sonntag der andere. Dass «der Andere» verheiratet ist, wissen in der Kirchgemeinde alle, die es wissen wollen. Doch es stört nur wenige.
Auch Hitzfeld nicht. Schon beim ersten Nachtessen nach dem Cupfinal fragt er: «Sepp, wer sagt uns, dass nicht auch Jesus ein Gefühl für Frauen hatte?»
Auf höherer Ebene nimmt der Fall seinen katholischen Lauf. Der freiwillig Verheiratete muss zum Psychiater. Der diagnostiziert «Nichtbeherrschen der Sexualität», was der Fehlbare «mit Vergnügen» unterschreibt. Mit seiner Frau Elisabeth, einer Religionslehrerin, hat er gelernt, was eine erfüllte Partnerschaft ist. «Es war wie ein Erdbeben. Das Schönste, was uns passieren konnte.»
Im November 1985 trifft das Berufsverbot per eingeschriebenen Brief ein, unterzeichnet vom Bischof von Basel mit dem Segen des Papstes. Hochstrasser ist kein Typ, der still sitzen oder gar still schlucken kann. Sicher war er nicht der erste verheirate Priester in der Schweiz. Aber er wird der erste, der seinen Fall publik macht: «Hier geschieht Unrecht, hier geschieht Unbiblisches.»
Am 24. Dezember liegt ein Couvert in seinem Briefkasten: Drin eine Tausender-note, ergänzt mit der knappen Notiz: «Guten Mut! Ottmar und Beatrix.» Die Bande werden enger. Zu viert jassen sie: Ottmar und Sepp gegen Beatrix und Elisabeth. Zu zweit reden sie nicht immer über Fussball, aber auch. Als Hitzfeld nach Dortmund zieht, besucht ihn Sepp, so oft es geht. «Ist der Schweizer Pfarrer im Stadion, gewinnt die Borussia», prophezeit einmal die «Westfälische All- gemeine».
Daheim übt Sepp den guten Mut, den ihm Ottmar und Beatrix gewünscht haben. Er rotiert. Startet als Hilfsarbeiter bei der damaligen Durisol in Villmergen AG, einer Schmidheiny-Fabrik. Wechselt an die Uni Bern, studiert zum zweiten Mal Theologie, schafft den Transfer zu den Protestanten, wird lizenzierter Pfarrer und wechselt dann an die Kantonsschule Zug als Lehrer für das Fach «Religion und Weltreligionen». Weil 15-jährige Gymnasiasten das Christentum «megalangweilig» schimpfen, stellt er einen Papierkorb aufs Pult, hält die Bibel in die Höhe und fragt: «Wer wirft als Erster diese Heilige Schrift in den Papierkorb?» Totenstille. Die vorher so frechen Schüler machen keinen Mucks.
Sein Leben lang hat Hochstrasser mit Worten jongliert, jetzt beginnt er mit Schreiben. Mit Bücherschreiben. Der erste Titel lautet: «Kopfstand auf der Kirchturmspitze. Eine Befreiungsgeschichte». Es ist seine Autobiografie. 21 Wochen lang steht sie auf Platz 1 der Bestsellerliste, vier Auflagen innert sechs Monaten werden gedruckt.
Das zweite Buch bringt die nächste Offenbarung: «Religion ist heilbar.» Hochstrasser ist kein Atheist geworden, aber er bekennt sich als Agnostiker. Er lässt offen, ob es Gott gibt oder nicht gibt. Denn das weiss er so wenig wie wir alle. Dafür erhebt er Fussball zur «Weltreligion». Der dritte Titel lautet schlicht: «Ottmar Hitzfeld. Die Biografie». Der nächste Bestseller, diesmal in Deutschland.
Am 16. Juni 2010, als die kleine Schweiz in Südafrika den späteren Weltmeister Spanien mit 1:0 schlägt, jubelt und staunt Sepp in Oberentfelden. Ottmar macht das Kreuz, sichtbar für die TV-Zuschauer der ganzen Welt. Das hat Sepp bei Ottmar noch nie gesehen. «Warum diese Geste?», fragt der Agnostiker. Die Antwort kommt via SMS aus Südafrika: «Als Dank dem Leben gegenüber.»
So pendeln die beiden zwischen zwei Weltreligionen. An fünf Sonntagen im Jahr hält Josef eine reformierte Predigt. An 52 Samstagen im Jahr feiert Sepp den «andern Gottesdienst». Von 10.15 bis 11.45 Uhr spielt er Fussball. Kein Schiedsrichter, keine Zuschauer, keine Gage. Ein loser Haufen von acht, neun, zehn Männern aus allen Schichten. Der Jüngste ist 14, der Älteste 79. Keine Statuten, kein Präsident, die reine Anarchie. «Aber es funktioniert.» Der Pfarrer bringt zwei Leibchen in zwei Farben mit, wirft sie den Anwesenden zu und stellt die Mannschaften zusammen.
Manchmal kickt sogar ein «Weltklassetrainer» mit. «Jetzt spielst du besser als ich», lobte Ottmar, 62, neulich. Sepp, 64, überlegte kurz, ob er antworten soll: «Jetzt predigst du besser als ich.»
Was Ottmar in der Kabine den Seinen verkündet, wüsste Sepp. Aber er sagt es nicht, jetzt erst recht nicht. Zu stark steht sein Freund als Schweizer Nationaltrainer unter Druck. Am 26. März folgt das Spiel der fast schon letzten Chance gegen das «kleine» Bulgarien. Sepp tippt auf einen 2:1-Sieg der Schweiz und wünscht sich eine offensiv eingestellte Nati. Das ist keine versteckte Kritik am Trainer. Vorwärts stürmen, links und rechts über die Flügel wirbeln dieser Drang kommt aus dem Innern von Josef Hochstrasser. Das ist sein Leben.
Hochstrassers Bücher
«Der Kopfstand auf der Kirchturmspitze. Eine Befreiungsgeschichte» Zytglogge,1990 «Religion ist heilbar. Glaube, Schule, Fussball. Diese drei» Zytglogge, 2007 «Ottmar Hitzfeld. Die Biografie» Scherz 2008