Weniger gerecht, dafür besser akzeptiert NZZ, 19.03.2005, von Claudia Schoch

Weniger gerecht, dafür besser akzeptiert
NZZ, 19.03.2005, von Claudia Schoch
Der eine rechnet heutzutage dem andern vor, was er für ihn bezahlt: die Jungen den Alten, die Gesunden den Kranken, die Familien mit Kindern den Kinderlosen, die Erwerbstätigen den Arbeitslosen, die Mieter den Wohneigentümern, die Reichen den Armen, die eine Generation der andern. Man könnte der Aufzählung im neusten Buch des Journalisten Markus Schneider auch noch die Frühverstorbenen den noch Lebenden hinzufügen. Erkrankt einer im Betrieb und muss er gar deshalb von seinem Posten zurücktreten, wird gleich gefragt: Wer bezahlt dies? Sind wir ein Volk von Neidern geworden? Eines steht immerhin noch fest: Tauschen mit dem jeweils andern will bis anhin wohl noch keiner. Noch weiss der eine, dass er innerhalb der ganzen Umverteilungsmaschinerie zumeist noch immer der Glücklichere ist. Doch wie lange noch?Die Klammer «sozialer Ausgleich», die das Land zusammenhält, ist gross und brüchig geworden. Der Sozialstaat ist inzwischen so kompliziert, dass es schwierig geworden ist, ihn zu durchschauen. Zu den bisherigen Sozialwerken – AHV, Invalidenversicherung, berufliche Vorsorge, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung inklusive Prämienverbilligung, Unfallversicherung, Militärversicherung, Erwerbsersatzordnung – ist im vergangenen Jahr die Mutterschaftsversicherung hinzugekommen. Und das Parlament ist drauf und dran, die kantonal geordneten Familienzulagen auch noch zur Sache des Bundes zu machen. Als letztes Auffangnetz sind schliesslich die Sozialhilfe, die einst am Anfang der Entwicklung zum Sozialstaat stand, und die Ergänzungsleistungen zu nennen. Für beides zeichnen die Kantone beziehungsweise Gemeinden verantwortlich.

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Ein derart kompliziertes System weckt Misstrauen. Wem gelingt es dabei noch, den Überblick zu behalten? Könnten sich nicht einige im sozialen Netz bequem eingerichtet haben und zu Profiteuren geworden sein? Besonders eignen sich dazu die Invaliden- und Arbeitslosenversicherung, aber auch die Kranken- und Unfallversicherung sowie die Sozialhilfe. Zumal in diesen Zweigen in den letzten Jahren eine enorme Kostensteigerung und eine immense Erhöhung der Zahl der Bezüger zu verzeichnen waren. Den Menschen als Arbeitnehmern und Arbeitgebern hat man im vergangenen Jahrzehnt klar gemacht, wie wichtig Effizienz und Effektivität in der modernen Arbeitswelt sind. Überall wurde optimiert. Was nun, wenn die Menschen dies gelernt haben und jetzt auch bei der Ausschöpfung des Sozialstaates zur persönlichen Optimierung übergegangen sind oder übergehen?

Christoph Blocher hatte vor seiner Wahl in den Bundesrat diesen für die Sozialversicherungen verhängnisvollen «Wertewandel» mit der – in den einzelnen Behauptungen allerdings überzogenen – Kampagne zu den «Scheininvaliden» thematisiert. Beides, optimale beziehungsweise maximale Ausschöpfung des Sozialstaates wie das damit verbundene Misstrauen, zerstört letztlich die soziale Gerechtigkeit. Die kritische Durchleuchtung und die Begleitung des Sozialstaates sind deshalb unabdingbar.

Die Systeme sind darauf zu untersuchen, inwiefern sie falsche Anreize setzen und ob die Leistungen an die Menschen fliessen, die sie benötigen. Die rasant steigenden Kosten und die demographische Entwicklung verlangen nach Überprüfung. Dabei muss man sich die Mühe nehmen, die Regelungen der einzelnen Sozialversicherungsbereiche, deren Auswirkungen und das Zusammenspiel zwischen den verschiedenen Versicherungszweigen genau anzusehen, um dann, wo immer möglich, nach Vereinfachungen zu suchen. Auf klare Eingrenzungen dabei zu verzichten, wäre allerdings verfehlt.

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In den letzten Jahren versuchte man demgegenüber mit immer ausgeklügelteren Systemen möglichst gerechte und am Bedarf orientierte Sozialleistungen zu garantieren. Damit wollte man dem «Giesskannenprinzip» eine Absage erteilen. Sozialleistungen sollten nur denjenigen zukommen, die auf sie auch wirklich angewiesen sind. Dieser Zielsetzung wird jedermann zustimmen. Doch ausdifferenzierte Systeme bergen auch Gefahren: Sie bieten Möglichkeiten zur raffinierten Ausnutzung, und sie verlangen nach aufwendigen Kontrollen mit hohen Verwaltungs- beziehungsweise Vollzugskosten. Für den Bürger wird das komplizierte Gefüge vielfach undurchschaubar. Man befindet sich also in einem Dilemma: einfach und für alle mehr oder weniger gleich oder ausdifferenziert und (theoretisch) sozial gerecht.

Die Politik favorisiert gegenwärtig, wie gesagt, ausdifferenzierte Systeme, die zwar einen Anspruch auf staatliche Leistungen gewähren, aber gleichzeitig gezielt auf den Bedarf ausgerichtet sind. Die Ergebnisse des Nationalen Forschungsprogramms 45, «Probleme des Sozialstaates», ergaben demgegenüber, dass die Bevölkerung den Sozialsystemen mit einem universellen Ansatz mehr vertraut als etwa der Sozialhilfe mit ihrer Orientierung auf den Bedarf. Die Bürger scheinen Leistungen für alle mit einer nicht sehr detaillierten Ausrichtung zu bevorzugen. Systeme also, in denen alle versichert sind und alle Leistungen beim Eintritt des «Risikofalles» erhalten. Sie wünschen offenbar möglichst klare Ordnungen, die wenig Raum für Schlaumeiereien bieten. Viele denken dabei vermutlich vor allem an die AHV und weniger an die IV, die Kranken- oder Unfallversicherung.

In der abgelaufenen Session hat sich das Parlament jedoch erneut mit Blick auf die soziale Gerechtigkeit zu einem aufwendigen System bekannt. Es beschloss nämlich die Halbierung der Krankenkassenprämien für Kinder aus Familien bis zu einem Einkommen, das die Kantone festzulegen haben. Dies wird erneut das Misstrauen wecken, es könnten Leistungen erschlichen werden. Auch liegt der verwaltungstechnische Aufwand in den Kantonen zur Durchsetzung dieser sozialen Gerechtigkeit noch im Dunkeln. Im Bereich der den Familien zustehenden Sozialleistungen herrscht gegenwärtig mit Mutterschaftsversicherung, künftig allenfalls bundesrechtlich harmonisierten Familienzulagen, Prämienverbilligung für Kinder, Zuschüssen an Kinderbetreuungsplätze ohnehin ein kaum mehr zu überblickender Wildwuchs.

Doch auch in den jüngsten Überlegungen zu einer AHV-Revision «light» finden sich Vorschläge zu einer aufwendig und detailliert zu regelnden Überbrückungsrente für ausgelaugte Arbeitnehmer, die aber nicht allen zukommen kann. Denn dies wäre nicht finanzierbar. Für die Bezüger von Leistungen der Invalidenversicherung, der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe hat man die Integration auf dem Arbeitsmarkt als Angelpunkt erkannt. Arbeit muss dabei attraktiv bleiben. Eine zentrale Herausforderung der Sozialpolitik besteht deshalb darin, die Ein- beziehungsweise Wiedereingliederung gefährdeter Personen in den Arbeitsmarkt zu verbessern. Im Zentrum der IV-Revision steht daher die Früherkennung gefährdeter Personen. Sie wird einen grossen Aufwand bedeuten. Noch komplizierter und für viele überhaupt nicht mehr durchschaubar ist die Krankenversicherung. Mancher sagt sich hier nur noch, wenn schon so hohe Prämien zu bezahlen sind, dann will ich wenigstens etwas davon haben.

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Die Akzeptanz der Sozialversicherungen und damit der an sie zu entrichtenden Beiträge verlangt nach klaren und besser durchschaubaren Systemen. Die demographische Entwicklung und die Kostensteigerung erfordern sozialverträgliche Einsparungen, mancherorts auch eine Straffung und Rückführung auf die Hauptziele. Eine Vereinfachung tut not. Gestraffte Systeme sind zwar in gewissen Bereichen sozial weniger gerecht, dafür dürfte sie die Bevölkerung mit mehr Überzeugung mittragen. Diese Akzeptanz benötigt der Sozialstaat, um zu überleben.