Das Ende der Stagnation Weltwoche, 12.12.2003, von Peter Bodenmann

Das Ende der Stagnation
Weltwoche, 12.12.2003, von Peter Bodenmann
1995 erschien in der Schweiz ein Weissbuch. Es wurde finanziert von der Schmidheiny-Stiftung, verfasst von Assistenten und Professoren. Geholfen hatten ihnen Chefbeamte des Volkswirtschaftsdepartementes. Als Autoren zeichneten selbst ernannte Wirtschaftsführer. Kern des Konzeptes: Unsozialer Strukturwandel – Stichwort bedürfnisabhängige AHV – bringt die Schweiz voran.Es war ein Schuss in den Ofen. Der Grund: Der standortbedingte Leidensdruck der Banken, Versicherungen und der chemischen Industrie war und blieb klein. Sie produzieren Waren und Dienstleistungen weltweit dort, wo es ihnen nützt. Die Schweiz ist für sie ein kleiner, feiner und rechtsfremder Raum, den sie kontrollieren. Die Entwicklung des Schweizer Werk- und Denkplatzes samt seinen Arbeitsplätzen interessiert Besitzer und Manager multinationaler Unternehmen gestern wie heute bestenfalls am Rand. Deshalb tauchten sie vor acht Jahren schneller ab als auf. Deshalb schreibt heute ein Journalist ein zweites Weissbuch.CDU-Parteitag in Leipzig. Norbert Blüm kämpft gegen Kopfprämien im Gesundheitswesen, gegen «plattgewalzte Solidarität». Niemand mag ihm zuhören. Der Saal wird ungeduldig. Von über 1000 Delegierten stimmen 4 mit ihm, der Rest für Kopfprämien. Am Tag danach stellt Friedrich Merz seine Flat Tax in den Raum. Die einzelnen Bestandteile des Einkommens werden neu mit 12, 24 und 36 Prozent belastet. Dafür fallen alle Abzüge weg. Die PDS finde die Idee interessant. Im Reformboot hat es nach Merz auch Platz für die CSU. Der Spott trifft, und die Halle tobt. Die neoliberale Revolution schwappt in die deutschsprachigen Tiefebenen. Dem rheinischen Kapitalismus droht der schleichende Tod.

Durchschlagender Misserfolg

Friedrich Merz (CDU) versucht die deutsche Rechte mit dem Konzept der Flat Tax zu bewegen. Hans-Rudolf Merz (FDP) möchte als Bundesrat einfach sparen und nochmals sparen. Auch bei der für das Wachstum entscheidenden Bildung. Halbwegs zukunftweisende Konzepte sind bei Hans-Rudolf Merz – wie bei der gesamten Schweizer Rechten – keine auszumachen.

In diese rechte Lücke springt der mit dem Holtzbrinck-Preis ausgezeichnete Wirtschaftsjournalist Markus Schneider, der seit zehn Jahren als Redaktor für die Weltwoche schreibt. Die neue Nähe des Blattes zur SVP wirkt für Markus Schneider allerdings etwas beengend. Deshalb will er neu nur als freier Journalist arbeiten, auch für die Weltwoche. Markus Schneider versucht in seinem Weissbuch Jahrgang 2003 mit konkreten Vorschlägen den Bereich staatliche Transferzahlungen transparenter, kleiner und effizienter zu machen.

Im Gegensatz zu den anderen Efta-Ländern wählte die Schweiz 1992 den politischen Alleingang. Dies mit durchschlagendem Misserfolg. Kein Land stagnierte wirtschaftlich erfolgreicher als wir. Alle Statistiken beweisen: Es gibt nachweislich keinen Zusammenhang zwischen dem wirtschaftlichen Wachstum eines Landes und dessen Staatsquote. Im Gegenteil, am besten entwickelt haben sich Staaten die – sozialdemokratisch regiert – nach wie vor hohe Staatsquoten mit schnellem Strukturwandel und viel Bildung kombiniert haben.

Wirtschaftswachstum ist für die Parteien in der Schweiz trotzdem kein konkretes Thema. Die Rechten wollen die im internationalen Vergleich tiefe Staatsquote senken. Und die Linke will den Sozialstaat retten. Die Banken wünschen weiterhin Ruhe für die in die Schweiz geflüchteten Steuervermeider und deren Off-shore-Billiarden.

Steuererklärung auf Bierdeckel

Der Staat soll – ausser beim Bildungswesen – sparen, laut Markus Schneider auch beim Militär und bei der Landwirtschaft. Im Gegensatz zur Schweizer Rechten sind für ihn die Obersten und die Bauern keine heiligen Kälber. Offen bleibt die Frage, weshalb die bürgerliche Mehrheit in der Schweiz ausgerechnet bei den Ausgaben, die kapitalvernichtend das Wachstum hemmen, nicht wirklich zu sparen bereit ist.

Das neue Weissbuch will die heute bescheidenen Kosten der Sozialfürsorge – die nur halb so hoch sind wie die direkten und indirekten Ausgaben für die Armee – massiv senken und zusätzlich die Leistungen der IV begrenzen. Ausserdem möchte Markus Schneider, ausländischen Beispielen folgend, den Billiglohnsektor fördern. Die Alten sollen höhere und die Jungen tiefere Krankenkassenprämien bezahlen. Schneider will – und da hat er nicht Unrecht – die 2. und die 3. Säule zurechtstutzen. Denn die zu hohe Sparquote schwächt konstant die Binnennachfrage, die Kaufkraft der kleinen und mittleren Einkommen.

Zentrales und innovatives Thema von Schneiders Weissbuch ist die Forderung nach einer helvetischen Flat Tax. Sein Friedrich-Merz-Konzept für die Schweiz: Bund, Kantone und Gemeinden kassieren neu statt 40 nur mehr 35 Milliarden Franken Einkommenssteuern. Umgekehrt bezahlen alle einheitlich 18 Prozent Steuern auf ihre Einkommen. Abzüge gibt es keine mehr. Die vereinfachte Steuererklärung passe deshalb auf jeden Bierdeckel.

Die Auswirkungen des Konzeptes nach Schneider: An jedem Ort der Schweiz ist die Steuerlast gleich hoch. Steuerflucht innerhalb der Landesgrenzen lohnt sich nicht mehr. Ein hoher Freibetrag entlaste die Working Poor. Der Mittelstand könne aufatmen, während die hohen Einkommen etwas mehr bezahlen müssten. Dafür würde aber für sie alles transparenter, denn abschreckende Grenzsteuersätze gäbe es nicht mehr. Und die Steuerberater würden flächendeckend arbeitslos.

Hört sich gut an. Doch bevor jemand Beifall klatscht, müsste man das Modell aber von der zuverlässigen eidgenössischen Steuerverwaltung durchrechnen lassen.

Die PDS ist bereit, das Merz-Konzept zu diskutieren. Die Schweizer Linke müsste diesen Ball aufnehmen. Schlicht und einfach, weil Markus Schneider mit seinem Modell eine ganze Reihe von real existierenden Missständen thematisiert. So verliert eine Familie, die nicht aufpasst, je nach Kanton bei leicht steigendem Einkommen plötzlich ihre Krankenkassensubventionen und die Zuschüsse an ihre Miete. Sie verdient mehr aus Arbeit und hat real weniger verfügbares Einkommen. Denn grosse Einkommen und Vermögen können sich heute – wenn die Treuhänder gut arbeiten – der Besteuerung weitgehend entziehen. So bezahlt der Mittelstand in Zug prozentual mehr Steuern und Abgaben als die Zuger Millionäre und Milliardäre. Die Dummen sind die Menschen mit Lohnausweis und mittleren Einkommen. Die regionalen Steuerunterschiede spotten nachweislich jeder Beschreibung. Im Jura bezahlt ein Lohnabhängiger mit 5500 Franken Einkommen im Monat doppelt so viel Steuern wie im Kanton Schwyz und wird vom Staat schlechter bedient.

Geisel der Abschottung

Markus Schneider will mehr in die Bildung investieren und die zu hohe Sparquote der Schweiz senken. Beides ist wirtschaftspolitisch sinnvoll, aber allein nicht ausreichend, um Wachstum zu schaffen.

Die wirtschaftspolitisch stagnierende Schweiz ist die Geisel der Abschottung und somit eines Binnensektors, der seit dem Nein zum EWR notwendigen Strukturwandel erfolgreich verhindert hat. Die zentralste wirtschaftspolitische Aufgabe wäre das sozial verträgliche Schleifen der Hochpreisinsel Schweiz. Denn unsere Mieten sind zu hoch, wir haben pro Kopf die höchsten Gesundheitskosten in Europa, Lebensmittel kosten bei uns zweimal mehr als in Deutschland. Wir bezahlen für Autos und andere Konsumgüter 30 Prozent zu viel. Die hohen Kosten schaden der Wettbewerbsfähigkeit aller exportorientierten Sektoren der Schweiz und mindern die Kaufkraft der Lohnabhängigen. Und ausgerechnet auf diesen Feldern formuliert Markus Schneider keine Vorschläge.

Eine neue Vierzimmerwohnung kostet in Sitten 300 000 Franken, in der Umgebung von Basel, Genf oder Zürich das Doppelte. Die Schweiz hat genug Boden, aber zu wenig verfügbares Bauland. Neu müssten die Gemeinden günstig erworbenen Landwirtschaftsboden problemlos einzonen können und so verdichtetes Wohnen in Passivenergie-Häusern zu europäischen Mietpreisen möglich machen. Das Gesundheitswesen von St. Gallen ist keineswegs schlechter als das von Genf. Dennoch ist das Genfer Gesundheitswesen mehr als doppelt so teuer. Kantonale Gesundheitswesen müssten endlich wie grosse HMO in Konkurrenz zuein-ander gesetzt werden, qualitativ und preislich. 40 Spitäler mit 500 Betten sind genug.

Mit intelligenten Globalbudgets und europäischen Medikamentenpreisen kann – wer will – die Qualität des ambulanten Sektors verbessern und dessen Kosten endlich in den Griff bekommen.

Die Lebensmittel sind in den deutschen Discountern Aldi und Lidl nur halb so teuer wie bei Migros, Coop und Denner. Wir brauchen europäische Produktepreise und ein Boden-, Bau- und Planungsrecht, das nicht weiter Aldi und Lidl von der Schweiz fern hält. Der grössere Teil des hiesigen Aufpreises kommt den Herstellern und Importeuren zugute, der kleinere den Verteilern. Zollunion mit der EU, Wettbewerbskommission und Preisüberwacher müssten diese Differenz offensiv knacken. Je schneller, desto besser.

Das Ziel: 6000 Franken weniger Miete. 3000 Franken weniger Krankenkassenprämien. 5000 Franken weniger Lebensmittelkosten. 4000 Franken weniger Kosten für Auto und Kleider. Somit liegen 16000 Franken pro Jahr weniger Kosten für eine vierköpfige Familie mittelfristig drin.

Gleichgewicht des Schreckens

Früher oder später implodiert die Hochpreisinsel Schweiz. Wer wird profitieren? Das Kapital oder die Arbeit? Sinken oder steigen die realen Löhne? Braucht es eine Abwertung des Frankens? Kommt es zu einer Deflation? Oder zu einem Boom bei real sinkenden Preisen und Zinsen? Gehen Arbeitsplätze verloren oder entstehen neue? Niemand mag die absehbare Entwicklung antizipieren. Aber je länger wir warten, desto brutaler wird dieser Prozess ablaufen.

Strukturwandel zwecks Kostensenkung zerstört in einer ersten Phase Arbeitsplätze. Strukturwandel kann man in der Schweiz – vorab in den staatlich mitregulierten Bereichen wie Landwirtschaft und Service public – nur mit und nicht gegen die Bevölkerung realisieren. Deshalb kommt dieser Prozess nur in Gang, wenn vorübergehend mehr Staat für mehr Strukturwandel, mehr Beschäftigung und mehr soziale Gerechtigkeit zugleich sorgt.

Die rechten und linken Strukturerhalter werden die Schweiz weiter blockieren. Das Gleichgewicht des Schreckens lähmt das Land. Weitere Weissbücher werden Wasser in die Rhone tragen. Gerade deshalb lohnt sich deren Lektüre. Als informative Zeitprotokolle beim Warten auf ein Ende der selbst verschuldeten Stagnation.

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