NZZ am Sonntag, 21.12.2003, von Beat Kappeler
«Weissbuch» aus dem fernen Jahr 1991 der Umsturz von
rechts gesehen. Nun hat der Journalist Markus Schneider
wieder eines geschrieben, für das Jahr 2004, diesmal nicht als
Forderungskatalog einiger Grossunternehmer, sondern im
Alleingang. Steuern, Sozialversicherungen und «soziale
Hängematten» aller Art sind zwar auch sein Thema, aber im
Gegensatz zum früheren «Weissbuch» und zu dessen
Folgeschrift «Mut zum Aufbruch» argumentiert er subtiler und
liefert zudem Zahlen und Fakten. Noch ein Unterschied: Seine
Vorschläge sind radikaler.Anstelle aller Einkommenssteuern will Schneider zur «flat tax»
übergehen, einer «Einfachsteuer» von 18 Prozent für Bund,
Kanton und Gemeinde zusammen. Sie würde aber nach
Einkommen differenzieren, indem jedem steuerpflichtigen
Haushalt 5000 Franken pro Kind und Erwachsenen
gutgeschrieben würden, 7500 für Alleinerziehende. Wer zwar
arbeitet, aber ein so kleines Einkommen erzielt, dass diese
Gutschriften es übersteigen, der erhält sie bar ausbezahlt, als
eine «negative Einkommenssteuer». Schneider will damit die
Fürsorgezahlungen ersetzen, möglicherweise auch
Krankenkassenprämien-Subventionen und sogar
Direktzahlungen für Bauern. Damit würden die Hilfeleistungen
an kleine Einkommen jener, die sich wehren und arbeiten,
konzentriert und gleichzeitig vereinfacht, und die anderen
Einkommen würden gerechter besteuert als im heutigen
Wirrwarr von Abzügen und Sonderregeln. Diese provozieren
als «Reflexe der Reichen» allerhand künstliche
Verhaltensformen, etwa hohe Einzahlungen in die zweite Säule
oder Haus-Reparaturen im steuerlich richtigen Moment.Bei den Sozialversicherungen würde Schneider die jüngeren
Haushalte von Krankenkassenkosten entlasten und die
Überfünfzigjährigen stärker heranziehen. Die Vermögenssteuer
würde zu einer Erbschaftssteuer. Jedes Jahr würde er das
Rentenalter einen Monat hinaufsetzen. Die heute insgesamt
reichlich sprudelnden Quellen für Invalide aus Suva, IV und
Ergänzungsleistungen will Schneider koordinieren und kürzen,
so dass sich «Arbeiten wieder lohnt».Dies ist Schneiders Grundthema, denn er zeigt mit Zahlen aus
mehreren, an sich bekannten Studien, dass die Sozialtransfers
heute jenen Haushalten, die arbeiten, gleich viel wegnehmen,
wie sie verdienen, manchmal sogar mehr. Zahlen der
Konferenz der Sozialämter SKOS etwa belegen, dass eine
nach «Tessiner Modell» unterstützte arme Familie mit Kindern
1000 Franken weniger in der Kasse hat, wenn sie sich
anstrengt und ihr Fürsorge-Einkommen von 40 300 Franken um
12 000 Franken Lohn auf 52 300 Franken steigert. Andererseits
ist diese Unterstützungslimite von 40 300 Franken so hoch,
dass die Familie in 23 Kantonen Anspruch auf Sozialhilfe hätte.
Solche perversen Wirkungen sind inzwischen oft untersucht
worden, und Schneider wundert sich, dass sie kaum bekannt
und noch weniger verhindert worden sind. Dass der
«ausgepresste Mittelstand» heute auf die Abgabequote von 50
Prozent seines Einkommens auch in der Schweiz nicht
reagiert, hängt wiederum mit der Verschleierung der wahren
Kosten des Sozialstaates zusammen – die Arbeitgeberbeiträge
erscheinen nicht auf der Lohnabrechnung, die vielen
Subventionen im Staat verdecken die Transfers. Weitherum
weiss niemand, wer was bezahlt, wer was netto bekommt.
Diese aufklärerische Durchsicht durch das Dickicht des
Sozialstaates hat Schneider perfekt geleistet. Seine Vorschläge
zur Abhilfe sind teils zu vorsichtig, teils zu radikal. So meidet er
die Kostenseite des Gesundheitswesens weitgehend, und
dennoch wird die Hälfte der «sozialen» Mehrkosten der
nächsten Jahre daraus resultieren. Oder er beklagt den eher
sinkenden Anteil der AHV-Renten am letzten Einkommen, glaubt
aber, mit einer blossen Rentenaltererhöhung auszukommen.
Anderseits aber freut er sich, dass sich «die 26 kantonalen
Steuersysteme in Luft auflösen» dank der «flat tax». Damit aber
löst sich auch der erwiesenermassen die Ausgaben bremsende
Steuerwettbewerb auf. Dann dürfte ein automatisierter Check
für Working Poor diese von der begleitenden Beratung durch
das Sozialamt dispensieren. Auf diesen Gebieten sind sicher
noch etwas engere Maschen zu ziehen. Solch notwendige
Debatten bringt Schneiders Buch in Gang, wenn es sich lustig
macht über den Vorwurf des «Neoliberalismus» oder der
«Deregulierung» und Denkverbote, die Autoren wie Roger de
Weck oder Frank A. Meyer von den ewig bremsenden
deutschen Bedenkenträgern in die Schweiz übertragen
möchten.