Wer mehr schuftet, wird bestraft SonntagsZeitung, 04.01.2004, von Armin Müller

Wer mehr schuftet, wird bestraft
SonntagsZeitung, 04.01.2004, von Armin MüllerZüRICH · Verdient eine allein erziehende Mutter als Verkäuferin einen Netto-Jahreslohn von 33 800 Franken, bleiben ihr in Lausanne 28 500 Franken zur freien Verfügung. Leistet sie jedoch mehr und steigert ihren Lohn auf 40 300 Franken, schrumpft ihr verfügbares Einkommen auf 27 300. Steigert sie ihren Lohn gar auf 46 800, bleiben ihr noch 25 400 Franken.Dieses perverse Ergebnis unseres Steuer- und Sozialsystems ist kein Einzelfall. Nicht nur in der Waadt wird eine allein erziehende Frau, die eine staatliche Alimentebevorschussung nötig hat, bestraft, sobald sie etwas mehr als den absoluten Tiefstlohn verdient. Der Lohnzuwachs führt vielerorts sofort zur Kürzung der Alimentebevorschussung und der Krankenkassen-Prämienverbilligung, zu Steuerforderungen und höheren Kinderkrippenkosten.Mit solch eindrücklichen Beispielen belegt Markus Schneider in seinem «Weissbuch 2004»: Für die Working Poor, die von ihrer Arbeit kaum leben können, lohnt sich Leistung oft nicht. So erzielt der Sozialstaat ein unglaubliches Resultat: Ausgerechnet die Ärmsten zahlen teilweise Grenzsteuersätze von über 100 Prozent – von jedem zusätzlich verdienten Franken müssen sie mehr als einen Franken abgeben.

Schneider wagt mit seinem Weissbuch den dritten Versuch, nachdem die beiden ersten grandios gescheitert sind. Das erste Weissbuch von 1991, unterzeichnet von den Chefs von ABB, Bankgesellschaft, Nestlé, Ciba und Holderbank, konnte als «Manifest der Unternehmer» abgetan werden. 1995 nahmen die gleichen Kreise einen neuen Anlauf. «Mut zum Aufbruch – eine wirtschaftspolitische Agenda für die Schweiz» provozierte einen Aufschrei im Schweizer Blätterwald. Die «Arena»-Sendung zum Thema nutzte SP-Präsident Peter Bodenmann zum Eclat: Nach sechs Minuten verliess die Linke das Studio, weil die prominenten Unternehmerautoren, angeführt vom damaligen ABB-Kopräsidenten David de Pury, nicht zur Debatte erschienen waren. Die Thesen des Weissbuchs wurden kaum mehr diskutiert.

Es ist dem Journalisten Markus Schneider hoch anzurechnen, dass er trotz dieser Vorgeschichte einen neuen Anlauf wagt. Denn im Gegensatz zur Weissbuch-Debatte haben sich die Probleme nicht in warmer Luft aufgelöst. Über zehn Jahre wirtschaftliche Stagnation, Milliardendefizite der öffentlichen Hand, Pensionskassendebakel, rasant steigende Kosten der Invaliditätsversicherung und wachsende Fürsorgeprobleme, enttäuschende Resultate in internationalen Vergleichen wie der Pisa-Studie zu den Schulerfolgen unserer Kinder: Die Schweiz ist «vom Sonderfall zum Sanierungsfall» geworden, wie der Basler Wirtschaftprofessor Silvio Borner schon 1990 gewarnt hat.

Für mehr Steuergerechtigkeit schlägt Schneider eine «Flat Tax» vor

Schneider hat aus den Fehlern seiner Vorläufer gelernt, und er ist kein Superreicher mit durchsichtigen Motiven. Er schaut als kritischer Journalist genau hin, wo andere nur die glatte Oberfläche wahrnehmen. Was bewirkt staatliche Umverteilung wirklich? Wer zahlt? Wer profitiert?

Schneider durchleuchtet das komplizierte Schweizer System und gelangt zu überraschenden Erkenntnissen. Statt Ideologie bringt er Fakten. Was er behauptet, belegt er mit Zahlen und unverdächtigen Studien. Er fängt an bei den Armen, deren Leistung bestraft wird. Er fährt fort mit dem Mittelstand, der ausgepresst wird, weil er die zwangsläufig steigenden Kosten des Sozialstaats und der Alterung übernehmen muss. Und er untersucht, wie die Reichen im Land – vom System gedrängt und die Schlupflöcher nutzend – ihre Schäfchen ins Trockene bringen.

Schneiders schonungslose Analyse zeigt: Das Schweizer Steuer- und Sozialsystem ist nicht nur extrem kompliziert, es ist auch ungerecht. Schneider fordert eine radikale Reform: den Ersatz des progressiven Steuersystems durch eine «Flat Tax», eine flache Steuer mit einem einheitlichen Steuersatz für alle. Die Steuererklärung soll auf einer Postkarte Platz haben. Der Satz für die direkte Einkommenssteuer beträgt, so sein Vorschlag, 18 Prozent – für alle. Nur ein einziger Abzug bleibt erlaubt, beispielsweise 5000 Franken pro Kopf (siehe Tabelle).

Die «Flat Tax» galt bisher als Extremforderung von Ökonomen oder rechten Politikern. Schneider zeigt überzeugend, dass sie sozialer, einfacher und gerechter wäre als das heutige System. Das Resultat: Leistung lohnt sich wieder, die Ärmsten zahlen nicht mehr die höchsten Grenzsteuersätze, der Mittelstand wird entlastet, und die Reichen können ihre Energie für volkswirtschaftlich Sinnvolleres einsetzen als für die Suche nach Steuersparmöglichkeiten.

Schneiders Buch ist spannend und leicht verständlich geschrieben. Für wirtschaftspolitisch Interessierte gehört es zum Besten, was seit 1990 zum Thema veröffentlicht wurde. Und für Politiker ist es ein Muss.

Markus Schneider: «Weissbuch 2004»

Rezepte für den Sozialstaat Schweiz, Weltwoche-Verlag, 135 S., 39 Fr. ****

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