Trends und Träume WochenZeitung, 08.01.2004, von Urs Bruderer

Trends und Träume
WochenZeitung, 08.01.2004, von Urs BrudererDie «Weltwoche» ist ein neues, SVP-nahes Blatt mit einem alten, guten Ruf. Wirtschaftsjournalist Markus Schneider verlässt die Redaktion, es wurde ihm zu eng. Pünktlich zum Abgang erscheint im «Weltwoche»-Verlag sein «Weissbuch 2004». Die 135 Seiten kurze Schrift enthält das Beste, was die neue «Weltwoche» politisch zu bieten hatte: die Artikel von Markus Schneider.Das «Weissbuch» ist ein Produkt von Copy/Paste, Neues steht kaum drin. Man liest sich von einem Déjà-vu zum nächsten. Das spricht nicht gegen das Buch, sondern für den Autor. Während über wirtschafts- und sozialpolitische Themen meist staubtrocken, unnötig kompliziert und also fürs Vergessen geschrieben wird, bleibt die feine Ironie seiner Sätze in Erinnerung. Schneider erzählt eine Geschichte, wenn er die perversen Anreizmechanismen von Subventionen erklären will. Im ideologisierten Umfeld der «Weltwoche» fiel auf, dass er massenweise Recherche und Zahlen in seine Artikel packt, und das virtuos: Schneider ist ein Meister des Fakten-Crescendos, er verwandelt jede Statistik in ein Feuerwerk. Vor allem aber hat Schneider gute Themen: Bei ihm liest man stets Neues, Brisantes über die Schweizer Wirklichkeit.Im «Weissbuch» fügt Schneider die Textbausteine der bis zu zwei Jahre alten Artikel geschickt zu einem Versprechen, drei Analysen und zwei Rezepten. Und dennoch passiert, was passieren kann, wenn man Journalismus zwischen Buchdeckel presst: Man merkt, dass das Zeug nicht recht zusammenpasst.

Die Analysen

Das «Weissbuch» enthält drei Analysen. Eine gilt den Armen, eine dem Mittelstand, eine den Reichen. Überall geht es ums Geld.

Dem Kapitel «Die Armutsfalle» liegt eine Studie der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe zugrunde, die zwei Dinge zeigte: Erstens gibt es von Kanton zu Kanton groteske Unterschiede in der Behandlung armer Leute. Die Unterschiede folgen keiner Logik und sind das Resultat eines konzeptlosen Zusammenspiels von schlecht oder gar nicht abgestuften Grenzwerten für Steuerbelastung, Ergänzungsleistungen, Krankenkassenprämienverbilligung und anderen einkommens- und vermögensabhängigen Sozialleistungen. Zweitens – und hier schnappt die Falle zu – können die Grenzwerte dazu führen, dass jemandem weniger Geld bleibt, wenn er eine Lohnarbeit aufnimmt, als wenn er sich ausschliesslich auf die Sozialhilfe verlässt.

Das Kapitel zur Steuerbelastung des Mittelstandes ist von einer Studie des Büros Ecoplan inspiriert, die feststellt, dass das verfügbare Einkommen der ärmeren Haushalte in den neunziger Jahren um bis zu fünfzehn Prozent schrumpfte und das der Reichen um ebenso viel anstieg. Hauptgrund für die zunehmende soziale Ungleichheit ist laut Ecoplan die starke Zunahme der Zwangsausgaben. Das «Weissbuch» liefert dazu passend die Analyse der Steuerpolitik der letzten zehn Jahre: Einkommens- und vermögensabhängige Steuern wurden systematisch gesenkt oder abgeschafft, indirekte Steuern und Zwangsabgaben hingegen wurden neu erfunden oder angehoben (der wichtigste Posten sind die Krankenkassenprämien). Weil «ganz unten subventioniert wird und ganz oben die Belastung durch den Maximalpreis limitiert» sei, spricht Schneider von einer «Auszehrung des Mittelstands».

Die dritte Analyse wird man je nach Einkommen als willkommene Dienstleistung oder Anlass für Empörung lesen. Schneider rechnet die beliebtesten Steueroptimierungstricks der Reichen vor. Er verrät, wie Millionäre mit den richtigen Investitionen so viel Steuerabzüge machen können, dass ihre studierenden Kinder Stipendien bekommen. Er erzählt, wie Kaderleute die zweite Säule als Steuerschlupfloch missbrauchen. Und er nennt «den schnellsten, einfachsten und effizientesten Weg, um Steuern zu sparen: Zügeln». Ein Workingpoor, rechnet Schneider vor, zahlt in Basel-Stadt, Luzern, Uri, Obwalden, Freiburg, Appenzell Ausserrhoden und Jura prozentual mindestens gleich viel Steuern wie ein Grossverdiener in Freienbach SZ: sechs Prozent seines Bruttolohnes für Kantons-, Gemeinde- und Kirchensteuer. Schneiders Fazit: «Der unerbittliche Steuerwettbewerb macht die Progression zur Fiktion, zum Mythos, zum Papiertiger.»

Die Rezepte

Und nun zu den Rezepten. Schneider nennt zehn, aber sie lassen sich auf zwei reduzieren: Er will die Sozialhilfe und das Steuersystem radikal verändern.

Das Problem der Armutsfalle lässt sich für Schneider «logisch nur auf eine Art lösen: Wer darauf setzt, dass sich Leistung wieder lohnen soll, muss bei der Sozialhilfe ein tieferes Minimum fordern.» Statt der in der Schweiz üblichen Sicherung des Existenzminimums schlägt er an Lohnarbeit gekoppelte Steuergutschriften vor. Der Gang aufs Sozialamt wird überflüssig, das Sozialgeld kommt neu von der Steuerbehörde, und zwar automatisch: Wenn die Steuerrechnung tiefer ist als die Steuergutschrift, bekommt man heraus.

Nur: Logisch folgt nicht dieses Rezept aus der Analyse, sondern ein anderes – die bessere Abstimmung, Abstufung und nationale Vereinheitlichung von Grenzwerten für Sozialleistungen. Schneider verbindet zwei Ideen, eine gute und eine schlechte. Die gute, Steuergutschriften, hat realpolitisch keine Chancen (das Parlament lehnte in der Steuerpaketsdebatte sogar Kindergutschriften ab), die schlechte, die Senkung der Sozialleistungen unter das Existenzminimum, wird da und dort bereits praktiziert. Schneiders Rezept hätte Folgen. Von derzeit 300 000 Sozialhilfebezügern ist etwa ein Drittel vermittelbar, schätzt die SKOS. Doch wo sind die Arbeitsplätze für diese 100 000 Leute? Und wenn sie da wären, welche Konsequenzen hätte die staatliche Subventionierung des Billiglohnsektors? Würden weitere einkommensschwache Gruppen durch den Lohndruck in die Bedürftigkeit rutschen? Schneider hat eine Mikroanalyse der Anreize vorgenommen und die Makroanalyse vergessen. Und was machen die übrigen 200 000, wenn das Sozialgeld an Erwerbsarbeit gekoppelt wird? Wie viele würden in die IV ausweichen, wo höhere Renten winken? Wie viele als sozial Verwahrloste auf der Strasse landen? Diese Folgen, so Schneider, wären zu ertragen. Aber: «Der Schweizer und die Schweizerin sehen das Elend wohl weniger gern.»

Das zweite Rezept hat seinen Reiz: An die Stelle unzähliger kantonaler Steuersysteme mit komplizierten Abzugssystemen und also Steuerschlupflöchern soll eine Einkommenssteuer von achtzehn Prozent für das ganze Land treten. Das wäre einfach und, dank grosszügigen pauschalen Pro-Kopf-Steuergutschriften, auch sozial. Die Armen bekämen heraus, der Mittelstand wäre von den Steuern weitgehend befreit. Ob die Sache finanzierbar wäre, ist eine Frage für die Eidgenössische Steuerverwaltung.

«Unser progressives Steuersystem wird derart systematisch unterlaufen, dass es nur ehrlich wäre, es gleich abzuschaffen», schreibt Schneider zur Begründung. Nach der Logik dieses Satzes müsste auch Ladendiebstahl legal sein. Aber der Satz soll nicht logisch sein, er soll nur verdecken, dass auch Rezept Nummer zwei nicht die zwingende Folge der vorangegangenen Analysen ist: Man kann den interkantonalen Steuerwettbewerb und den Abzugsmissbrauch abschaffen – und den Steuertarif progressiv lassen.

Wieder verknüpft Schneider einen politischen Trend, den rechtsbürgerlichen Kampf gegen progressive Steuern, mit einem politischen Traum (die Steuerharmonisierung hat keine Chance, den HauseigentümerInnen hat das Parlament im Steuerpaket Geschenke gemacht und zugleich die Abzüge gelassen). Und weshalb setzt Schneider nicht dort an, wo die Probleme laut seiner eigenen Analyse entstehen, bei der Belastung durch Zwangsabgaben? Die logische Antwort auf seine Analyse des ausgezehrten Mittelstandes ist nicht die Flat Tax, sondern die einkommensabhängige Krankenkassenprämie.

Das Versprechen

Das Versprechen des «Weissbuchs» ist gross und unoriginell: Wirtschaftswachstum. Und damit haben nun weder die drei Analysen noch die zwei Rezepte sonderlich viel zu tun. Die Schweiz stagniert nicht, weil die Sozialhilfe die Leute zur Faulheit verführt, und auch nicht, weil die direkten Steuern zu hoch oder nach einem falschen System erhoben werden.

Schneider sieht das freilich anders. Ein Satz hält für ihn die Teile des «Weissbuchs» zusammen: Leistung soll sich lohnen. Woher die Jobs für die zur Arbeit angereizten SozialhilfeempfängerInnen kommen sollen, sagt er nicht. Schuldig bleibt er uns auch die Gründe, weshalb die Reichen bei einem Grenzsteuersatz von achtzehn Prozent ihre Energie wieder in wachstumsfördernde Tätigkeiten stecken sollten.

Das «Weissbuch 2004» ist eine Montage fakten- und ideenreicher Einzelteile. Was bedeutet es, dass sie nicht recht zusammenpassen wollen? Ideologie, jedenfalls in ihrer raffinierten Version, besteht nicht aus Parolen. Sie findet in der Verknüpfung von Analysen, Rezepten und Versprechen statt. Markus Schneider hat das bisher raffinierteste Weissbuch für die Schweiz geschrieben.

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