SonntagsZeitung, 01.02.2004, von Patrik Müller
Ehepaare scheiden sich sogar, um Steuern zu sparen
Der Solothurner Steuerberater Michael Leysinger erlebt täglich, wie weit Bürger gehen, um zu sparen. «In letzter Zeit haben Scheidungen und so genannte faktische Trennungen aus Steuergründen zugenommen», erzählt er. Wie das funktioniert, zeigt das reale Beispiel des Ehepaars Bucher (Name geändert). Herr Bucher hat die in seinem Fall maximal möglichen Einzahlungen in die Pensionskasse von 700 000 Franken bereits geleistet – und über die Jahre hinweg vom Einkommen abgezogen. Weil das Ehepaar weiter Steuern sparen möchte, lässt es sich scheiden. Nun bekommt Frau Bucher die Hälfte der von ihrem Mann eingezahlten Vorsorgebeiträge, also 350 000 Franken. Er kann deshalb erneut 350 000 Franken steuerwirksam einzahlen. Dadurch spart Herr Bucher nochmals rund 160 000 Franken Steuern. Das Paar lebt weiter zusammen – im Konkubinat. Verwandte und Freunde wissen nichts von der Scheidung.
«In der Theorie ist unser Steuersystem durchaus gerecht, denn jeder wird nach seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit besteuert», erklärt Franz Marty, der bekannteste Steuersenker der Schweiz. 18 Jahre lang war der CVP-Politiker Finanzvorsteher des Kantons Schwyz, der in dieser Zeit zu einem Steuerparadies wurde. «In der Praxis aber», fährt Marty fort, «sieht es zum Teil anders aus. Es wurden immer mehr Sondertatbestände geschaffen, von denen primär gut Verdienende profitieren.»
Diese Entwicklung setzt sich ungebremst fort, zur Freude beispielsweise der Hauseigentümer. Sie können schon heute Unterhalts- und Renovationskosten, etwa für eine neue Küche oder einen Parkettboden, vom Einkommen abziehen. Das Steuerpaket, über das im Mai abgestimmt wird, sieht zusätzlich vor, dass Verheiratete bis zum Alter von 45 Jahren «privilegiert bausparen» können, indem sie 24 000 Franken pro Jahr steuerfrei auf die hohe Kante legen dürfen. Zugleich wird der Eigenmietwert abgeschafft, nicht aber der Abzug für Hypozinsen: Dieser ist in den ersten zehn Jahren nach dem Hauskauf weiterhin möglich.
Neue Abzüge sind auch im Stiftungsrecht vorgesehen. Geht es nach dem Ständerat, kann künftig jedermann Beiträge an Stiftungen von bis zu 20 Prozent vom Einkommen absetzen. Doch nicht alle Stiftungen dienen wohltätigen Zwecken. Oftmals errichten vermögende Personen Stiftungen, um Geschäfte fortzuführen. So besitzt beispielsweise die Hasler-Stiftung ein grosses Aktienpaket der Firma Ascom.
Ex-Regierungsrat Marty hält es für falsch, immer neue Abzugsmöglichkeiten zu schaffen. «Ich plädiere für ein System, das möglichst das ganze Steuersubstrat erfasst. Dann sind tiefere Steuertarife möglich.» Die Entwicklung läuft aber exakt in die andere Richtung: Während die Privilegien der Hauseigentümer ausgebaut werden, will der Bundesrat auf den Ausgleich der «kalten Progression» verzichten, wie letzte Woche bekannt wurde. Das bedeutet höhere Steuern.
Trotz Neubezug einer Kinderrente sank das Einkommen
Viele Bürger fühlen sich zusehends überfordert beim Ausfüllen der Steuererklärung, die in diesen Tagen wieder in die Haushalte flattert. Der «Blick» nahm den Ärger der Bürger auf und titelte letzte Woche: «Weg mit den blöden Steuerformularen!». Bereits jeder vierte Schweizer füllt die Steuererklärung nicht mehr selber aus. Für Steuerberater wie Michael Leysinger ist das ein lukratives Geschäft: «Ich schätze, dass unsere Branche jährlich 700 Millionen Franken einnimmt.»
Massiv vereinfacht würde die Steuererklärung, wenn die so genannte Flat Tax eingeführt würde. Das Konzept: keine Abzüge, dafür ein tiefer, einheitlicher Steuersatz für alle (siehe Artikel Seite 17). Der Ökonom Markus[94] Schneider[97] rechnet in seinem «Weissbuch[90] 2004» vor, dass ein Steuersatz von 18 Prozent ausreichen würde, um die heutigen Steuereinnahmen sicherzustellen. Vor allem bei linken Politikern ist dieses Konzept tabu. SP-Nationalrat Rudolf Strahm stört sich zwar an der «ausserordentlichen Kompliziertheit des heutigen Steuersystems». Doch die Flat Tax sei «ein neoliberaler Angriff auf die Umverteilungswirkung des Staates», kritisiert er. Strahm befürchtet, dass Reiche massiv weniger Steuern bezahlen müssten. Nur: Was bringen die heutigen hohen Steuersätze für gut Verdienende dem Staat, wenn sie ihr Einkommen dank Abzügen nach unten drücken können? Ausserdem muss bedacht werden, dass die Tarife für gut Verdienende in Steuerparadiesen ohnehin sehr tief sind (siehe Box).
Absurde Wirkungen kann das schweizerische Steuersystem auch für untere Lohnklassen haben. Der SonntagsZeitung ist der Fall eines Invalidenrentners in der Stadt Zürich bekannt. Als er sein Einkommen steigerte, blieb ihm unter dem Strich weniger Geld zum Leben übrig. Konkret nahm sein Einkommen um 5121 Franken zu, weil er eine Rente für sein neugeborenes Kind erhielt. Da er nun 47 500 Franken verdiente, erhielt er keine Krankenkassenverbilligung für seine Familie mehr, und der Elternbeitrag für die Kinderkrippe erhöhte sich in der Folge. Unter dem Strich hatte er, nach Bezahlung der Steuern, 880 Franken weniger zur Verfügung als vor der Einkommenssteigerung.
Für Arme ist Steuerflucht kein Thema – dazu fehlt das Geld
Das ist keine Ausnahme. Die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe zeigt in der Studie «Existenzsicherung im Föderalismus der Schweiz», dass unter Umständen bestraft wird, wer sein Einkommen steigert. Einer allein erziehenden Mutter mit einem Kind, die netto 40 300 Franken verdient, bleiben in Solothurn 28 084 Franken zum Leben. Erhöht sich der Nettolohn aber um 6500 Franken, sinkt ihr verfügbares Einkommen auf 25 529 Franken. Warum? Wenn die Frau mehr verdient, kürzt ihr der Staat die Alimentenbevorschussung und die Krankenkassensubventionen, dafür verlangt er mehr Steuern. Entscheidend ist in diesem Fall der Wohnort. In Sitten und Zug bleibt einer allein erziehenden Mutter doppelt so viel Geld wie in Sarnen und Stans. Steuerflucht ist für diese Menschen kaum ein Thema – dazu fehlt ihnen schlicht das Geld.
Mitarbeit: Michael Lütscher und Andreas Windlinger
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Mythos Steuerprogression
Je höher das Einkommen und das Vermögen, desto höher der prozentuale Anteil, den man als Steuern abliefern muss. Progression heisst dieses System. «Heute stimmt es nicht mehr, dass die Reichsten im Land prozentual die höchsten Steuersätze zahlen», schreibt der Ökonom und Buchautor Markus Schneider. Ein kinderloses Paar mit einem Bruttoeinkommen von 100 000 Franken zahlt in Bern, Luzern oder Neuenburg 12 Prozent Gemeinde-, Kantons- und Kirchensteuern. In Freienbach SZ beträgt dagegen der Maximalsatz 6 Prozent, in den Zuger Gemeinden 12 Prozent – auch für Einkommensmillionäre.