Kurve mit Haken Wochenzeitung, 12.08.2004, von Marcel Hänggi

Kurve mit Haken
Wochenzeitung, 12.08.2004, von Marcel HänggiUnversehens war sie da, tauchte plötzlich in allen Medien auf – und stiftete Verwirrung: die Flat Tax («flache Steuer»). 2002 begann der «Weltwoche»-Journalist Markus Schneider, sie in der Schweiz zu propagieren. Im Mai 2004 traten die ersten «flach» besteuerten Länder (Estland und die Slowakei) der EU bei. Ende Juli präsentierte der wissenschaftliche Beirat des deutschen Finanzministeriums einen Bericht, der die Flat Tax empfiehlt. Und vergangenes Wochenende publizierte die «NZZ am Sonntag» erste Daten aus einer Studie der eidgenössischen Steuerverwaltung, die im Herbst fertig gestellt sein soll. Sie zeige, dass die Flat Tax in der Schweiz hohe und tiefe Einkommen entlaste – auf Kosten des Mittelstands.Die so genannte Flat Tax, wie sie derzeit diskutiert wird, ist ein Paket aus drei Elementen: Abschaffung aller Steuerabzüge und deren Ersetzung durch einen für alle gleich hohen Pauschalabzug; Abschaffung der kantonalen Steuerhoheit und damit des Steuerwettbewerbs durch eine schweizweit einheitliche Besteuerung; gleicher Steuersatz für alle. Der heutige Steuertarif ist progressiv, das heisst: Wer mehr verdient, zahlt nicht nur absolut mehr Steuern, sondern gibt dem Staat auch einen höheren Prozentsatz seines Einkommens ab. Progression gilt als gerecht und geniesst im Grundsatz breite Akzeptanz.

Die VerfechterInnen der Flat Tax verfolgen mehrere Ziele: ein einfaches, transparentes Steuersystem («Steuererklärung auf einer Postkarte»), Stopfen der Steuerschlupflöcher – und dann soll auch gleich noch der Maximalsteuerfuss gesenkt werden.

Neues Steuerpaket

Die Debatte aber, wie sie bisher läuft, hat einen Haken und einen Fehler. Der Haken macht die Flat Tax aus linker Sicht inakzeptabel. Der Fehler kompensiert den Haken mindestens teilweise.

Der Haken: Das Paket schnürt Elemente zusammen, die nicht unbedingt zusammengehen müssen.

1. Die Abschaffung des Steuerwettbewerbs ist sinnvoll, denn dieser privilegiert Reiche, die es sich leisten können, höhere Grundstück- und Immobilienpreise zu zahlen, um Steuern zu sparen. Heute zahlt ein Lediger mit einem steuerbaren Einkommen von 25 000 Franken im Kanton Jura den gleichen Satz wie die Reichsten in Freienbach SZ (17,6 Prozent). Diese Massnahme dürfte aber am Widerstand der Kantone, vor allem der heute steuergünstigen, scheitern.

2. Die Abschaffung der Abzüge ist sinnvoll, weil es die Steuer einfach und transparent macht und weil jeder Abzug, und sei er noch so sozial motiviert, in einem progressiven Steuersystem die hohen Einkommen begünstigt. Zudem haben Reiche tendenziell mehr Möglichkeiten, Steuern zu sparen: Am unverfrorensten hat nämlich die HauseigentümerInnen-Lobby ihre Klientel mit der Gewährung von Abzugsmöglichkeiten belohnt.

3. Aber wieso gleich auch die Progression abschaffen, wenn man das System vereinfachen will? Selbst FDP-Präsident Rolf Schweiger findet: Steuer vereinfachen ja, Progression abschaffen nein (siehe WOZ Nr. 22/04). Markus Schneider argumentiert: Die Progression sei heute so durchlöchert, dass man sie besser gleich abschaffe. Hat man die Löcher aber erst gestopft, wird die Argumentation hinfällig.

So weit der Haken. Der Fehler: Die Flat Tax ist gar nicht flach. Der einheitliche Steuersatz wird auf das Gesamteinkommen minus einen Pauschalabzug erhoben. Weil der Pauschalabzug bei tiefen Einkommen einen grösseren Anteil ausmacht als bei hohen, zahlen eben nicht alle den gleichen Satz: Das Modell ist eine elegante Formel für eine progressive Einkommenssteuer.

Schneider will das ganze Bruttoeinkommen zu 18 Prozent besteuern, auf diesen Betrag aber pro Person (auch pro Kind) eine Gutschrift von 5000 Franken gewähren. Das ist äquivalent zu einem Pauschalabzug von 27 777 Franken pro Person oder 111 111 Franken für eine vierköpfige Familie. Wer weniger verdient, erhielte Geld vom Fiskus (negative Einkommenssteuer).

In der Slowakei liegt der Satz bei 19 Prozent, der Pauschalabzug bei 1980 Euro pro Jahr. Berücksichtigt man das höhere Pro-Kopf-Einkommen der Schweiz, so entspricht das einem Abzug von 28 000 Franken. Eine negative Steuer ist nicht vorgesehen. Das obere Diagramm zeigt die entsprechende Kurve.

Die Kurve wird von zwei Parametern definiert: Der Steuersatz bestimmt, auf welche Höhe die Kurve abflacht; die Höhe des Abzugs bestimmt, wo die Kurve die Nullachse schneidet. Setzt man den Abzug höher, muss auch der Satz erhöht werden, um gleich viel Steuereinnahmen zu erzielen. Die Studie der Eidgenössischen Steuerverwaltung hat gezeigt, dass Schneiders Annahmen zu tief liegen.

Im Vergleich dazu zeigt das untere Diagramm die Kurve für die heutige Direkte Bundessteuer (die Kantone kennen ähnliche Steuertarife). Auch dieser Tarif wird für Spitzeneinkommen «flach». Vergleichen lassen sich die beiden Kurven nur bedingt, denn die eine rechnet mit dem Bruttoeinkommen, die andere mit dem steuerbaren Einkommen. Zieht man in Betracht, dass Reichere mehr abziehen, so dürfte die Bundessteuerkurve im Bereich hoher Einkommen noch flacher ausfallen. Rechnet man ausserdem die Staats- und Gemeindesteuer dazu und berücksichtigt, dass Reiche durch Wohnortwechsel Steuern sparen können, so dürfte sich die Kurve im hohen Bereich sogar nach unten neigen: Unser heutiges Steuersystem ist unter dem Strich im Bereich der hohen Einkommen degressiv.

Armer Mittelstand?

Die Flat-Tax-Kurve weist gegenüber der Direkten Bundessteuer einen «Buckel» auf. Das legt nahe, dass mit der Flat Tax schlechter fahren würde, wer ein mittleres Einkommen erzielt. Die Studie der Steuerverwaltung bestätigt dies: Eine Zürcher Familie mit zwei Kindern und einem Haushaltseinkommen von 100 000 Franken würde mit der Flat Tax 1600 Franken pro Jahr mehr zahlen als heute, eine mit einem Einkommen von 200 000 zahlte gleich viel. Wer mehr verdient, würde genauso profitieren wie eine Familie, die weniger als 80 000 Franken einnimmt.

Die «NZZ am Sonntag» stellt deshalb empört fest, dass das vorgeschlagene Modell den Mittelstand «noch mehr schröpfen» würde. Doch die Studie der Steuerverwaltung setzt ihre Parameter tief. Sie hat für ihre Studie einen Satz von 24 Prozent vorgesehen, lässt allerdings die Sozialversicherungsbeiträge als Abzüge gelten. Damit soll der gleiche Steuerertrag erzielt werden wie heute. (Zum Vergleich: Heute beträgt der Maximalsteuersatz für Ledige zwischen 17,6 Prozent in Freienbach SZ und 40,8 Prozent in ein paar jurassischen und bernischen Gemeinden, allerdings nach allen heute möglichen Abzügen.) Der Pauschalabzug betrüge 20 000 Franken pro Erwachsener, 10 000 Franken pro Kind.

Nach Schneiders Vorschlag hingegen erhielte die vierköpfige Familie mit 100 000 Franken Haushaltseinkommen unter dem Strich 2000 Franken vom Fiskus. Die Flat Tax ist nicht unbedingt mittelstandschädigend.

Das Problem ist nicht ein Berechnungsmodell, das «Flat Tax» genannt wird. Das Problem ist, dass man dieses verwenden will, um den VielverdienerInnen einen attraktiven Steuersatz bieten zu können. Logisch, dass dann jemand anderes bezahlen muss. Weil SpitzenverdienerInnen sehr viel zu den Steuereinnahmen beitragen, werden Reduktionen bei der Spitze für alle andern teuer: Im Kanton Bern verdient heute 1 Prozent der Bevölkerung über 200 000 Franken im Jahr und trägt 28 Prozent zum Steuerertrag bei; die 2,25 Prozent, die in Schwyz gleich viel verdienen, zahlen gar 71 Prozent aller Steuern in ihrem Kanton.

Nichts spricht dagegen, den Satz bei 30 Prozent – so viel schlägt die Studie aus dem deutschen Finanzministerium vor – oder höher festzusetzen; der Pauschalabzug könnte entsprechend hoch ausfallen. Profitieren würden bei einer solchen Reform vor allem Familien mit Kindern, MieterInnen und Leute, die keine Zeit oder Energie für Steueroptimiertricks haben – zu Lasten von Kinderlosen, Steueroasen-Flüchtlingen und AbzugsakrobatInnen.

Denkbar ist auch, das Paket auseinander zu nehmen, die Abzüge abzuschaffen, die Steuern zu harmonisieren – und dieses Einkommen wie heute nach einem progressiven Tarif zu besteuern. Das wäre nicht die eleganteste, aus Sicht der Steuergerechtigkeit aber eine erfreuliche Lösung. Und denkbar wäre schliesslich, dass eine Mehrheit an der Idee der «flachen» Steuer Gefallen findet, Satz und Pauschalabzug aber möglichst tief halten oder gar die Abzüge beibehalten möchte. Dagegen müsste die Linke sich wehren. ·