Sozialer Staat: Serie Berner Zeitung, 11.09.2004, von Diverse

Sozialer Staat: Serie
Berner Zeitung, 11.09.2004, von DiverseNeue Töne für ein besseres LebenIn den von der Politik so gern gesungenen Chor vom «gerechten Steuersystem» mischen sich immer mehr schräge Töne. Die Zahlenden klagen über die Last der ständig steigenden Steuern; die von der Fürsorge Unterstützten über ihr Leben am Rand der Gesellschaft, von dem sie nicht wegkommen. Ganz zu schweigen von jenen, die als reich gelten, sich aber vom Staat schlecht behandelt fühlen. Alle klagenDas Zögern im Ausland

Wenn alle klagen, kann etwas nicht stimmen. Schwacher Trost, dass es in den Nachbarländern nicht viel anders tönt. In Frankreich etwa, wo man immer noch auf die von der Politik versprochene grosse Reform im Rentenwesen wartet. Das Zögern hat System, denn die im öffentlichen Dienst Beschäftigten sind gegenüber in der Privatwirtschaft Angestellten extrem bevorteilt. Über 60 Spezialregelungen sorgen vom Lokomotivführer bis zum Steuerverwalter für zusätzliche Ferien, zusätzliche Beitragsjahre und Frühpensionierungen im grossen Stil, wie das Beispiel einer Lehrerin zeigt, die mit 54 pensioniert wird, obwohl sie das selber nicht möchte.

Die Belastung des Faktors Arbeit durch Steuern und Abgaben macht das deutsche Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» als «Konjunkturkiller» aus; durchschnittlich 44 Prozent eines Bruttolohnes gingen als Steuern und Abgaben an den Staat. Doch auch in Deutschland liegt die Reform der Sozialwerke in weiter Ferne, Lösungsansätze werden übertönt von eitel geführten Wahlkämpfen.

Die Last der Abgaben

In der Schweiz sieht es nicht viel anders aus. Der Ökonom und Journalist Markus Schneider rechnet in seinem «Weissbuch 2004 – Rezepte für den Sozialstaat Schweiz» vor, dass eine Mittelstandsfamilie mit rund 100 000 Franken Einkommen knapp die Hälfte wieder als Steuern und Abgaben in die Kassen des Staates abliefern muss, ein Einkommens-Millionär, der zudem 5 Millionen Franken Vermögen deklariert, immer noch gut 40 Prozent. Ein weiterer Teufelskreis: Immer weniger Arbeitende sollten für die Renten von immer mehr Älteren aufkommen, könne diese aber nicht sichern. Das Pensionierungsalter heraufsetzen? Wo schon heute viele 50-Jährige kaum eine neue Stelle finden? Andererseits stapeln sich bei den Fürsorgeämtern die Dossiers – allein in der Staat Bern ist im letzten Jahr die Zahl der Fürsorgeempfänger um 10 Prozent gestiegen. Eine Umfrage in Bern, Solothurn und in Freiburg zeigt: Im Espace Mittelland ist gut jeder 25. Mensch in irgendeiner Form von der Fürsorge abhängig, in der Anonymität der Stadt sind es mehr, auf dem Land etwas weniger.

Die Suche nach Ideen

Konkrete Lösungen für die Zukunft sind noch nicht gefunden. Die Debatte entwickelt sich schleppend, weil zu vieles noch tabu ist. Die Frage nach der Höhe des gesetzlichen Existenzminimums provoziert nachgerade hysterische Reaktionen, der Dschungel von Steuerabzügen wird von all jenen Interessengruppen heroisch verteidigt, die ihn sich sei-nerzeit erkämpft haben. «Noch ist der Leidensdruck schlicht und einfach zu gering», sagt der Steuerexperte Michael Leysinger, der sich für ein einfacheres Steuersystem einsetzt.

Nicht wenn es um die eigenen Pfründen geht, wohl aber im Grossen und Ganzen ist trotzdem allen längstens klar: Die Diskussion lässt sich allenfalls aufschieben – aber nicht mehr verhindern. Der Sozialstaat Schweiz braucht eine Renovation. Fredy Gasser
Keystone

Serie

Teil 1: Einführung

Sozialer Staat? Im Bemühen um Ausgleich ist der Steuer- und Sozialstaat Schweiz ausgebaut worden, bis sein Instrumentarium so kompliziert war, dass es sich immer wieder selbst überlistet. In neun Folgen will die Serie «Sozialer Staat?» mit konkreter Beispiele aufzeigen, wo falsche Anreize gesetzt werden.

Lesen Sie am Dienstag: Teil 2, Die Sozialhilfeempfängerin.

· espace.ch/sozialerstaat

Ein Bettler sitzt vor einer Bank, hinter ihm die Wand mit den Börsenkursen. Sinnbild für eine Gesellschaft, in der es für immer mehr Leute immer schwieriger wird, ihr Leben aus eigener Kraft zu bestreiten.

Die Folgen im Überblick

Alle reden vom Abbau statt vom Umbau

Im «Weissbuch 2004» legt der Journalist Markus Schneider dar, warum sich Leistung in der Schweiz nicht lohnt.

Während im öffentlichen Diskurs aufgeregt mit Schlagworten wie «Deregulierung» und «Demontage des Staates» operiert wird, zeigt Schneider kühl und nüchtern auf, dass im realen Leben das Gegenteil der Fall ist: Die Ausgaben von Bund, Kantonen und Gemeinden sind von 1990 bis 2001 von 27,3 auf 31,4 Prozent des Bruttoinlandproduktes angewachsen, die Fiskalquote stieg im selben Zeitraum um 5 Prozent auf 35,6 Prozent, und allein beim Bund vermehrten sich die Stellen um 4 Prozent.

Falsche Anreize

Nicht nur das: Akribisch und faktenreich belegt der Autor, dass der Sozialstaat Schweiz einen Ausbaugrad erreicht hat, der seiner Kompliziertheit wegen unabsichtlich falsche Anreize setzt: Wer in der «Armutsfalle» gelandet ist, wer von der Sozialhilfe lebt, wird vom System nicht selten bestraft, wenn er Geld verdient. Der Mittelstand gibt unter dem Strich praktisch die Hälfte des Einkommens direkt und indirekt wieder dem Staat ab, und die Reichen werden in ein paar Steueroasen verscheucht und zu absurden Steuertricks verleitet. Schneiders Fazit: In der Schweiz lohnt sich Leistung nicht mehr. Sein Vorschlag: Statt ständig über den Abbau zu streiten, würde besser über einen Umbau diskutiert.

Schliesslich bricht Markus Schneider in seinem Buch eine Lanze für ein einfacheres Steuersystem: die so genannte Flat Tax, die mit dem unübersichtlichen Abzugswesen Schluss macht und das ganze Einkommen besteuert – aber zu einem deutlich tieferen Steuersatz. Obwohl die Idee von Einzelnen schon lange propagiert wird, war es das «Weissbuch 2004», das sie endlich auf die politische Agenda gesetzt hat.

Im Espace Mittelland

In der Serie «Sozialer Staat?», die sich eng an den Aufbau von Schneiders «Weissbuch 2004» anlehnt, versuchen wir in neun Folgen aufzuzeigen, welche Auswirkungen diese Mechanismen im Espace Mittelland haben. Ergänzt werden die Beiträge mit Textpassagen aus dem Weissbuch.

Markus Schneider, der bereits an einem weiteren Buch arbeitet, gehört zu den profiliertesten Schweizer Journalisten. Geboren 1960 in Liestal, hat er an der Universität Basel ein Studium der Nationalökonomie abgeschlossen. Danach wurde er Redaktor beim Wirtschaftsmagazin «Bilanz», später bei der «Weltwoche». 1995 wechselte er zum Nachrichtenmagazin «Facts», wo er 1997 ins politische Fach wechselte und die Leitung der Bundeshausredaktion übernahm. Nach einem Abstecher zu «Avenir Suisse» war er für die «Weltwoche» tätig, bevor er sich Anfang 2004 als freier Autor selbstständig machte. hu

Weissbuch 2004. Rezepte für den Sozialstaat Schweiz; Markus Schneider, Jean Frey AG, Die Weltwoche;

ISBN 3-905682-00-1
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Irène Bürki

Nach der Scheidung wurde Irène Bürki (41) aus Bern zum Sozialfall, weil sie von ihrem Ex-Mann keine finanzielle Unterstützung bekam. Seither bezahlt das Fürsorgeamt der Stadt Bern ihre Lebenskosten.

Erscheint am 14. September

Marco Feuerstein

Der Handwerker Marco Feuerstein (35) aus Bern kommt – obwohl er arbeitet – auf keinen grünen Zweig. Weil er 100 Franken unter dem Existenzminimum verdient, ist er ein so genannter «Working Poor».

Erscheint am 16. September

Familie Gfeller

Sechs Kinder bestimmen Alltag und Auskommen von Maja (37) und Bernhard (39) Gfeller-Christen. «Es hat, solange es hat» ist ihr Motto. Auch wenn man keine grossen Sprünge mache – bis anhin habe es immer gereicht.

Erscheint am 17. September

Single Sybille S.

Die Bieler Biologin Sybille Siegenthaler (28) verdient als Projektleiterin gut. Die Single-Frau muss für keine Familie aufkommen. Trotzdem bleibt der Akademikerin am Ende des Monats nur wenig übrig.

Erscheint am 18. September
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Hansruedi Wandfluh

Der Unternehmer Hansruedi Wandfluh (52) aus Frutigen beschäftigt weltweit 300 Angestellte. Nebst den hohen Personalnebenkosten belastet ihn die hohe Vermögenssteuer, die der Staat von ihm eintreibt.

Erscheint am 21. September

Opa und Enkel Rolli

Der pensionierte Polizeiwachtmeister Hans Rolli (71) aus Bümpliz lebt gut von AHV und Rente. Doch er befürchtet, dass das Alter für seinen Enkel Dominic (7) nicht mehr so rosig aussehen wird.

Erscheint am 23. September

Rolf F. IV-Rentner

Seit er 5-jährig ist, hat er Rheuma. Mit 20, wird ihm heute bescheinigt, hätte ihn jeder Arzt der Welt zu 100 Prozent arbeitsunfähig geschrieben. Aber Rolf F. wollte arbeiten, und zwar voll. Das hat ihn viel Geld gekostet.

Erscheint am 24. September

Michael Leysinger

Der Steuerberater Michael Leysinger (62) propagiert seit Jahren ein einfacheres Steuersystem. Er klagt: «Es wird viel zu viel Energie für die völlig unproduktive Tätigkeit des Steueroptimierens aufgewendet.»

Erscheint am 25. September

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