Mit Anreizen gegen die «soziale Hängematte» Tages-Anzeiger, 01.03.2005, von Martin Huber rez wb

Mit Anreizen gegen die «soziale Hängematte»
Tages-Anzeiger, 01.03.2005, von Martin HuberZürich. –
Explodierende Fallzahlen, strapazierte Budgets, umstrittene Einzelfälle wie jener der Zürcher «Hotel-Familie»: Die Sozialhilfe steht unter Druck. Seit kurzem wird auch Kritik laut wegen Ungerechtigkeiten: Wer Sozialhilfe bezieht, steht in einigen Fällen besser da als Leute mit kleinem Lohn, die auf eigenen Beinen stehen. «Arbeit lohnt sich nicht mehr», sagt der Ökonom und Sozialhilfeexperte Markus Schneider, der seit längerem auf falsche Anreize im Sozialsystem hinweist (TA vom 26. Januar).Er rechnet vor: Eine Supermarktkassiererin, die mit 100 Prozent Einsatz auf 3000 Franken im Monat kommt, trifft an ihrer Kasse auf Leute, die null Prozent leisten, dank der Sozialhilfe aber mehr Geld im Sack haben als sie. Oder: Eine Familie mit drei Kindern, die 600 Franken selber verdient, kommt auf ein staatlich garantiertes Minimaleinkommen von 6031 Franken monatlich. Auch der «Blick» präsentierte kürzlich Fallbeispiele aus Luzern: So hat eine allein erziehende Mutter zweier Kinder mit einem 40-Prozent-Job und ohne Sozialhilfe weniger Geld, als wenn sie nur 15 Prozent arbeitet und daneben Sozialhilfe bezieht.Die Rechenbeispiele haben auch das Zürcher Sozialamt und die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (Skos) aufgeschreckt. «Solche Informationen nehmen wir nicht auf die leichte Schulter, wir überprüfen immer wieder die Mechanismen», sagt Rosann Waldvogel, Direktorin der Sozialen Dienste der Stadt Zürich. Sie bestätigt: Es kann in Einzelfällen solche Ungerechtigkeiten geben. Skos-Präsident Walter Schmid: «Der fehlende Abstand zwischen Sozialhilfe und tiefen Löhnen ist ein bekanntes und stossendes Problem.»Doch Waldvogel und Schmid beeilen sich, das Phänomen zu relativieren. Es seien Extremfälle, die stets Familien beträfen, kaum je Einzelpersonen. Zudem kritisieren sie, dass beim Vergleich zwischen Sozialhilfe und Löhnen die Realität oft «fahrlässig verkürzt» werde. Schmid: «Der Sozialhilfeempfänger wird als rein ökonomisch denkendes Wesen dargestellt, das flexibel, frei und dynamisch ist.» In Wirklichkeit sei ein sehr grosser Teil gar nicht in der Lage zu arbeiten. Ausgeblendet werde auch, dass bei der Arbeitsmotivation bei weitem nicht nur monetäre Faktoren eine Rolle spielen, sondern auch Selbstwertgefühl, Autonomie und soziale Anerkennung.

«Keine attraktive Perspektive»

«Der ganz grosse Teil der Betroffenen will unbedingt arbeiten und auf eigenen Füssen stehen», stellt Rosann Waldvogel fest. Denn in der «sozialen Hängematte» sei es alles andere als angenehm. Mit 960 Franken monatlich für den Lebensunterhalt auszukommen, sei keine attraktive Perspektive, zudem gebe es den Vermögensverzehr bis auf 4000 Franken. Sozialhilfeabhängigkeit bedeute im Weiteren einen Eingriff in die Privatsphäre und den weit gehenden Verlust des Selbstbestimmungsrechts: «Man muss ständig Rechenschaft ablegen über sein Tun, jede Rechnung zeigen und immer wieder an Programmen teilnehmen.» Bezügern, die sich weigern, eine Stelle anzunehmen oder zu kooperieren, drohen Sanktionen oder gar der Verlust der Unterstützung.

Auch Ökonom Schneider räumt ein: «Sozialhilfe ist unangenehm, man lebt keinesfalls fürstlich, darf etwa kein Auto haben und ist ein kontrollierter Mensch.» Aber: Lukrativ werde die Sozialhilfe eben durch die Zusatzleistungen. So wird die Wohnungsmiete ebenso bezahlt wie sämtliche Krankheitskosten, während die Supermarktkassiererin nur einen Teil der Krankenkassenprämie subventioniert erhält und sogar Steuern zahlen muss. «Das Problem liegt darin, dass Familien, sobald sie über eine bestimmte Höhe Einkommen verfügen, geschröpft werden, weil sie Steuern, Krankenkasse, Horttarife bezahlen müssen.»

Grosse Hoffnungen setzen die Experten jetzt in die revidierten Skos-Richtlinien zur Bemessung der Sozialhilfe, die dieses Jahr in Kraft treten. Sie beruhen auf dem Prinzip «Arbeit statt Fürsorge» und sehen tiefere Grundleistungen und ein Anreizsystem vor (siehe Kasten rechts). Mit den neuen Richtlinien könne das Problem des zu geringen Abstands zwischen staatlicher Hilfe und tiefen Löhnen «deutlich entschärft» werden, sind Schmid und Waldvogel überzeugt. Mit den Erwerbsfreibeträgen von bis zu 700 Franken steige die Belohnung fürs Arbeiten und damit der Anreiz, sich von der Fürsorge zu lösen.

Einige Ungerechtigkeiten bleiben

Auch Ökonom Schneider hält die neuen Richtlinien für einen Schritt in die richtige Richtung. Aber: «Eine Revolution ist nicht zu erwarten.» Das Problem der Ungerechtigkeiten werde nicht verschwinden, sondern sich womöglich noch verschärfen. «Wegen der steigenden Krankenkassenprämien, die Leute, die auf eigenen Füssen stehen, selber bezahlen müssen.» Auch Schmid und Waldvogel räumen ein, dass es auch mit dem neuen Anreizsystem noch zu Ungerechtigkeiten kommen könne: «Da stösst die Sozialhilfe einfach an Grenzen», sagt Waldvogel. Das Dilemma: Werden die Ansätze zu hoch ausgestaltet, gerät man in den Niedriglohnbereich, werden sie weiter gesenkt, drohen Bezüger zu verwahrlosen.

Keine Arbeit, keine Sozialhilfe?

Ökonom Schneider schlägt in seinem «Weissbuch 2004» als Ausweg eine radikale Reform vor: Wer nicht arbeitet, bekommt auch nichts vom Staat, ausser er ist aus gesundheitlichen Gründen arbeitsunfähig. Wer hingegen einen minimalen Betrag selber verdient, wird mit einem staatlichen Lohnzuschuss belohnt. Schmid und Waldvogel sehen bei diesem neuen Lösungsansatz jedoch bereits mögliche Negativszenarien aufziehen: Die Zahl der Obdachlosen und Bettler werde steigen, Arbeitgeber würden die Löhne senken, wenn der Staat diese subventioniert.

Doch wieso werden die Sozialhilfeansätze nicht einfach gesenkt, damit sich das Arbeiten wieder lohnt? «Weil sich der Ansatz für den Lebensunterhalt neu an den 10 Prozent der untersten Einkommen in der Schweiz orientiert und mit einer weiteren Senkung die Zahl der Bettler und Obdachlosen ansteigen würde», sagt Rosann Waldvogel. Das aber entspräche kaum dem politischen Willen in der Schweiz. Desintegration komme die Gesellschaft auf jeden Fall teurer zu stehen. Ausserdem würden bei tieferen Ansätzen noch mehr Leute versuchen, sich eine IV Rente zu holen.

Auch Skos-Präsident Walter Schmid wehrt sich gegen weitere Senkungen. Die Behauptung, die Sozialhilfeansätze seien zu hoch, ist seiner Meinung nach falsch. Die Ansätze befänden sich auf dem Niveau des betreibungsrechtlichen Existenzminimums, und im Quervergleich sei die Sozialhilfe tief: «Bezüger von Arbeitslosengeld und von IV-Ergänzungsleistungen sind besser gestellt.»

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